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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Punkte begannen, hatte sich bekanntlich die Hand schon erhoben, welche mit den wilden Auswüchsen der Revolution auch ihre berechtigten Früchte nicht zur Geltung kommen lassen wollte. Es wurde die Nationalversammlung durch militärische Gewalt aus ihrem Sitzungssaale vertrieben und das in Belagerungszustand versetzte Berlin genoß eine Reihe von Tagen hindurch das traurige Schauspiel, die vor einigen Monaten erst erwählten Vertreter des Volks von einer Localität zur anderen irren zu sehen, um zur Fassung der ihnen nothwendig erscheinenden Beschlüsse ihre Berathungen fortzusetzen.

Das Waldeck-Denkmal.
Nach dem Modell des Bildhauers Walger.

Nachdem ihnen so am Vormittage des 14. November der Eintritt in den zu ihrer Verfügung gestellten Sitzungssaal der Stadtverordneten durch militärische Besetzung unmöglich geworden, ereignete sich am Abende desselben Tages eine für immer denkwürdig gebliebene Scene. In einem öffentlichen Wirthshauslocale Unter den Linden sollte die am Morgen verhinderte Sitzung abgehalten werden. In tieferregter Stimmung hatten 227 Abgeordnete sich eingefunden und eben hatte Schulze-Delitzsch seinen Antrag zu eventueller Steuerverweigerung verlesen, als die Meldung hereinkam, daß das Haus militärisch besetzt sei. Alsbald drang auch ein Major mit vier Officieren und einem Piquet Soldaten in den Saal und erklärte, auf die Weigerung des Präsidenten von Unruh, daß er Gewalt brauchen müsse, wenn die Versammlung nicht freiwillig das Local verlassen sollte. „Unter diesen Umständen,“ rief Herr von Unruh, „erkläre ich, daß wir abermals der Gewalt weichen.“ Die Worte waren in tiefer Bewegung gesprochen, und eine unbeschreibliche Aufregung hatte in diesem kritischen Momente einer rücksichtslosen Demüthigung der versammelten Abgeordneten sich bemächtigt, als plötzlich aus ihren Reihen die imposante Gestalt Waldeck’s sich erhob. Mit ruhiger Entschlossenheit schritt er auf den Major zu und sagte in festem Tone: „Holen Sie doch Ihre Bajonnette und stoßen Sie uns nieder! Ein Landesverräther, der diesen Saal verläßt!“ Der Major (Herwarth von Bittenfeld, der in den späteren Feldzügen als General berühmt gewordene Heerführer) war sichtlich ergriffen und fühlte wohl im Angesichte dieser erlesenen Männerschaar das Peinliche seiner Aufgabe. Er verließ auf kurze Zeit mit den Soldaten das Local; die Versammlung erhob inzwischen den Antrag Schulze’s zum Beschlusse, und die Sitzung wurde regelmäßig geschlossen. Es war die letzte Sitzung der 1848 zur Vereinbarung einer preußischen Verfassung berufenen Nationalversammlung, die bekanntlich eines gewaltsamen Todes starb und der Waldeck durch seine Mannhaftigkeit einen so edlen und würdigen Abschluß gegeben hatte.

Die Wendung zum Schlimmen war da, und kein Scharfblickender konnte durch die am 5. December erfolgte Proclamirung der freisinnigen „Charte Waldeck“ über die wahre Sachlage getäuscht werden. Um zu wissen, woher eigentlich der Wind wehte, brauchte man nur zu sehen, wie die aller Orten mit trotzigem Frohlocken wiederum aus ihren zeitweiligen Verstecken hervorkriechenden Rückschrittsleute den scheinbaren Sieg der königlichen Gewalt als einen erneuerten Freibrief für ihren eigenen Hochmuth, ihren brennenden Rachedurst betrachteten. Sie hatten genügenden Anlaß zum hoffnungsvollen Aufathmen, denn in der Nähe des Thrones stand schon die Führerschaft der geistlichen und weltlichen Vorrechtskasten, die einflußreiche Clique jener zur äußersten Reaction entschlossenen Gewaltmenschen bereit, um jeden Augenblick die Zügel des Staates zu ergreifen und auf den Trümmern der Revolution eine Herrschaft zu erlangen, nach der sie selbst in den vormärzlichen Tagen nur vergeblich gestrebt hatten. Schon machte ihr Einfluß sich fühlbar in der ungerechtfertigten Aufrechterhaltung der Belagerungszustände, in möglichster Knebelung der Preß- und Versammlungsfreiheit, in einem verzweigten Spionirsystem, in empfindlich verschärftem Polizeidruck und einer Niederhaltung des öffentlichen Urtheils, die leicht hätte ihre Absicht erreichen, zu einer verhängnißvollen Niedergeschlagenheit, einer erneuerten Verdumpfung und Zerfahrenheit des Volksgeistes hätte führen können, wenn dieser nicht ein stärkendes Beispiel vor Augen gehabt, nicht Ermuthigung gefunden hätte im Aufblicke zu den hervorragenden Männern, die bisher tapfer seine Sache geführt und nun auch in aller Gefahr und aller

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_089.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)