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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Ehrgeiz, welcher die Brust jener königlichen Olympias schwellte, die den macedonischen Alexander unter ihrem Herzen trug, an die vielgepriesene majestätische Hoheit, in welche die Mutter der Griechen gehüllt war. Selbst von dem großen apostolische Seher, von Johannes, steht geschrieben, daß er der Sohn einer erleuchteten Mutter gewesen.

Und wie aus dem Dunkel des Alterthums strahlen so gesegnete Mütter auch aus dem Lichte der Neuzeit.

Daher gewährte es denn auch von jeher dem biographischen Schriftsteller einen besondern Reiz, dem Zusammenhange nachzuspüren, der den Menschen mit den Fäden seiner frühesten Eindrücke verbindet, nachzuweisen daß unter allen Einflüssen, welche seinen Charakter bestimmen, die der mütterlichen Natur die unmittelbarsten und wesentlichsten seien. Am häufigsten und überraschendsten will man diese Wahrnehmung bei Dichtermüttern gemacht haben, und es ist unbestreitbar, daß poetisch begabte Söhne sich mit besonderer Vorliebe der Mütter erinnern, der Mütter, in deren Schooß und zu deren Füßen das Paradies ihrer Kindheit lag. Noch in späten Jahren singt’s und klingt’s aus diesem Paradiese von den Liedern, die sie auf dem Mutterschooße in den Schlaf gesungen, von den Märchen, denen sie zu Füßen der Mütter traumselig gelauscht. In dem Paradiese der mütterlichen Nähe hoben sich die ersten Regungen ihrer Phantasie, getragen von der Gemüthstiefe, dem zartern Sinn der Mutter, während Dichterväter meist als prosaische, der Poesie abgewandte Philisternaturen erscheinen. Die Eltern der Dichter scheinen nicht selten geradezu gegensätzliche Naturen. „Da mag es denn,“ sagt Schücking in seinen, wenn auch nur flüchtigen, doch immer interessanten „geneanomischen Briefen“, „oft genug der Fall gewesen sein, daß die Mutter mit dem weichen poetischen Gemüthe und dem unbefriedigten Herzen an den erwarteten Sohn mit all der Intensität weiblicher Sehnsucht gedacht und in ihm sich einen Ersatz gewünscht hat für alles Das, was sie am Manne vermißte. Und so hätte denn das Bild, welches die mütterliche Phantasie sich sehnend von ihrem Kinde entworfen, bestimmend auf die Bildung des Kindes eingewirkt. Das Kind wäre ein Dichter geworden, weil das Dichtergemüth der Mutter es schon vor der Geburt gewiegt und geschaukelt in ihren von poetischen Anschauungen durchblühten und von Hoffnungen durchrankten Zukunftsträumen.“ –

Es bleibe dahingestellt, ob die Thatsache immer richtig, ob solche Erklärungsversuche immer zutreffend seien, ob sie psychisch-physiologisch befriedigen, immerhin aber haben wir Deutsche, die wir mit Recht stolz sind auf unsere großen Dichter, auch die Pflicht, den Müttern, den frühesten Pflegerinnen derselben, unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. In diesem Sinne werde im Folgenden auf einige Dichtermütter hingewiesen.

Nicht ohne Scheu stellen wir an die Spitze unserer kleinen Galerie von Dichtermüttern das strahlende Bild der „Frau Rath“, weil dasselbe, wenn auch in verschiedener Auffassung und Ausführung, schon wiederholentlich diese Blätter geziert hat, und weil es unsern Lesern und Leserinnen namentlich aus den trefflichen Charakteristiken von Arnold Schloenbach und Johannes Scherr bekannt sein dürfte. Dieselben Bedenken erhoben sich auch bei dem nächsten Bilde der Bäckerstochter aus Marbach, Elisabeth Dorothea Kodweiß. Es ist bedenklich, zu versuchen, diese Frauen mit neuen Kränzen zu schmücken. – Aber wie der Anblick der ewigen Schönheit der strahlenden Himmelssterne uns immer von Neuem entzückt und erhebt, so erfrischt und erquickt die Erinnerung an die erhabene Eigenart jener Frauennaturen uns stets von Neuem, so oft sie uns vorgeführt werden. Wie sehr ihr Bild auch in aller Herzen und Gedächtniß lebt, in der Erinnerung an sie sprudelt ein urfrischer Quell geistiger Erquickung, denn wie in einem hellen Spiegel sehen wir in ihm das wunderbare Ebenbild ihrer großen Söhne, und diese Betrachtung gewährt uns fort und fort ein hohes Interesse. Deutschem Sinne, deutschem Gemüthe bleiben diese Bilder, wie bekannt sie auch immer sein mögen, stets anziehend und wohlthuend. Eine Bildergalerie von Dichtermüttern ohne die Mütter unserer beiden größten Dichter würde des schönsten Schmuckes entbehren und selbst bei allem Reichthume und aller Ausführlichkeit mangelhaft sein in empfindlichster Weise.

So trete, Allen voran, die „Frau Rath“ uns entgegen, die gesegnete Mutter unseres Dichterfürsten Wolfgang von Goethe!

Der Tochter des Wirklichen kaiserl. Raths, Stadt- und Gerichtsschultheißen Textor zu Frankfurt am Main war geistige Lebendigkeit angeboren. Sie war heiter und gesprächig, hatte Augen und Herz offen; Kunst und Literatur zogen sie in hohem Grade an, kurz, sie war eine durchaus poetische Natur. Ihrem sonnenhellen Leben ging ein neuer Stern auf, als sie, die Gattin des wohlhabenden, in Kunst und Wissenschaft wohlerfahrenen kaiserl. Raths Johann Kaspar Goethe, im achtzehnten Altersjahre, am 28. August 1749 ihren Sohn Wolfgang geboren.

Es ist wahrhaft rührend, mit wie sinniger Zärtlichkeit die Mutter in hoch vorgerücktem Alter noch so viele kleine Begebenheiten und Ereignisse aus den ersten Jahren ihres geliebten Wolfgang der aufmerksam horchenden Bettina mitzutheilen liebte, weil sein Leben ihr dies Alles geheiligt hatte. „Ich und mein Wolfgang haben uns halt immer verträglich zusammengehalten; das macht, weil wir Beide jung und nit gar so weit als der Wolfgang und sein Vater auseinander gewesen sind.“

Am frühesten und stärksten pulsirte diese Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit im Fühlen und Denken der Mutter und des Sohnes in der Lust, die sie Beide empfanden, wenn die Mutter erzählte und das Söhnchen ihr zuhörte. „Da saß ich auf dem grünen Sessel, den die Kinder nur den Märchensessel nannten, und er verschlang mich mit seinen großen schwarzen Augen und verbiß die Thränen, wenn ihn das Schicksal seiner Lieblinge verdroß. Wenn ich nun Halt machte und die Katastrophe auf den nächsten Abend verschob, so konnte ich sicher sein, daß er bis dahin Alles zurechtgerückt hatte, und so ward mir denn meine Einbildungskraft häufig durch die seinige ersetzt. Ließ ich nun die Schicksalsfäden nach seiner Angabe laufen und sagte: ‚Du hast’s gerathen; so ist es gekommen‘, da war er Feuer und Flamme, und man konnte sein Herzchen unter der Halskrause schlagen sehen.“

Wer könnte in diesen Jugendspielen zwischen Mutter und Sohn die Grundlage der gewaltigen Gabe verkennen, durch welche es dem Dichter gelang, die Bilder und Schöpfungen seiner Phantasie heiter und kräftig darzustellen? Wie wahr sind seine oft citirten Verse:

Vom Vater hab’ ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur,
Die Lust zum Fabuliren.

Ihr heiteres Temperament und eine gewisse Vornehmheit hielten die Gemeinheit des Sorgens fern; heftige, gewaltsame Eindrücke ließ sie sich nicht nahe treten, ein Charakterzug, den wir auch bei dem Sohne in allen Lebenslagen wiederfinden.

So geschah es denn auch, daß, als Goethe im Winter 1805 zu Weimar lebensgefährlich krank war, Keiner in Frankfurt vor der Mutter davon zu sprechen wagte. Erst lange nachher, als er schon genesen, sagte sie selbst zu ihren Freundinnen: „Ich hab’ halt Alles gewußt; jetzt mögt ihr von ihm spreche! Jetzt geht’s besser; jetzt kann wieder von dem Wolfgang die Rede sein, ohne daß es mir einen Stich in’s Herz giebt.“ Wäre Goethe damals gestorben, erzählte eine Freundin des Frankfurter Hauses, auch des Todesfalles würde vor der Mutter nicht erwähnt worden sein.

Wer erinnert sich hierbei nicht der ängstlichen Scheu, in der Keiner den Tod Schiller’s Goethen zu berichten wagte, bis er erst am folgenden Morgen selbst das Wort ausgesprochen: „Ist er todt?“

Olympische Hoheit, Heiterkeit und Ruhe blieb Mutter und Sohn bis zum letztem Athemzuge. Mit Heiterkeit ordnete „Frau Rath“ als sie schon „alleweile sterben sollt’“ ihr Leichenbegängniß bis auf den Wein und die Rosinen im Kuchen. – Und mit gleicher Geistesklarheit schied auch der Dichter. Als schon die Schatten des Todes sein Auge verdunkelt , war bekanntlich noch sein letztes Wort: „Mehr Licht!“

Auch von Schiller’s Mutter, der Marbacher Bäckerstochter Elisabeth Dorothea Kodweiß, ist’s allbekannt, daß sie eine Frau von ungewöhnlicher Innigkeit des Gemüths war, daß wahre Frömmigkeit, ein offener, empfänglicher Sinn für Natur, daß Neigung für Musik und Wohlgefallen an Poesie ihr in hohem Maße eigen waren. Sie war ein weiches, poetisches Schwabengemüth, das die soldatische Strenge des Vaters dem Sohne gegenüber wohlthuend gemildert hat. Auch sie hat, wie „die Frau Rath“, ihren Liebling mit Sprüchen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_722.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)