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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Europas all ihren Glanz entfalten, zeigen sich fast plebejisch gefüllt.

Auf diesem Seile stieg ein Mensch vom Kellerloche unten bis hinauf zum Thurmfenster – und wieder zurück. Diese höchste Seiltänzerleistung war damals etwas Neues, und weil Jack Badred, der sie hier zu den unentbehrlichen Congreßfeierlichkeiten ausführte, ein Engländer war, so wurde sie von den Deutschen um so höher angestaunt, und keine Seele wagte die Behauptung sämmtlicher anwesenden Briten, daß „so Etwas“ nur einem Engländer möglich sei, im Geringsten zu bezweifeln. Und doch hatte schon zehn Jahre früher in Anderer dieses hohe Kunststück erfunden und sogar noch waghalsiger zu machen gewußt. Aber Nachrichten von solchem Inhalte fanden damals noch eine gar langsame Verbreitung. Man muß selbst im Zeitalter der hölzernen Buchdruckerpresse, der wenigen und meist kleinen Zeitungen und der Thurn und Taxis’schen Postwagen gelebt haben, um jetzt, in den Tagen der Dampfdruckmaschinen, Telegraphen und Eisenbahnen, zu verstehen, daß das Aufsehen-Erregen damals nicht so geschwind gehen konnte, wie jetzt. So kam es, daß die Thurmseilbesteigung den ganzen Rhein entlang bis an’s Meer noch als etwas Unerhörtes galt, während es für viele Städte Süd-, Ost- und Westpreußens, Schlesiens und auch für Berlin bereits „eine alte Geschichte“ war. Nur zwei der große Herren auf dem Balcone, von welchen der eine in der vordersten Reihe saß, wo sie die größten Sterne trugen, kannten den andern Meister dieser Kunst, und dieser Andere war da, war auf ihren Wink gekommen und in diesem Augenblick bereit zu einem nie in der Welt dagewesenen Wettkampf.

Denn als nun das Zeichen zum Anfang gegeben war, Jack Badred, in einem glänzenden Turnierrittercostüme mit Harnisch und Helm und die lange Balancirstange handhabend, fast die Hälfte des Seils erstiegen hatte und die über sein kühnes und sicheres Ausschreiten entzückte Menge ihm Beifall zuklatschte – da stieg plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Thurmfenster auf das Seil, und als sie den langen Mantel abwarf, stand dort ein Jüngling in blühendstem Alter und in der damaligen Studententracht, der flotten Pikesche. Und ohne Balancirstange, nichts als die freien Arme ausstreckend und mit ihnen allein das Gleichgewicht haltend, schritt er von der schwindelnden Höhe herab, wie auf einem dünnen Faden, dem Engländer entgegen. Wie mit einem Schlage machte der rauschendste Jubel athemloser Stille Platz – Jack Badred, der bis dahin das Auge scharf nur auf das Seil gerichtet hatte, fühlt in demselben Augenblicke die Erschütterung des Seils von einem zweiten darauf Gehenden und blickt vorwärts. Da kam die Gefahr für Beide. Beim Anblick des so frei gegen ihn Herannahenden erfaßt den Engländer ein Schauder, er zittert, das Seil geräth in Bewegung, das unregelmäßige Tempo der Tritte Beider vermehrt das Schwanken – und Stehenbleiben ist schon an sich viel schwerer, als das Gehen auf dem Seile: sie müssen Beide vorwärts! – „Umwenden oder rückwärts gehen!“ ruft Der von oben dem Unteren zu. Weder das Eine noch das Andere ist ihm möglich; er muß – sollen nicht Beide in die Tiefe stürzen – eiligst thun, was der Andere hierauf gebietet: er kniet nieder, umklammert mit den Händen das Seil und bückt den Kopf so tief als möglich – und der Andere? Noch wenige Schritte, dann ein Sprung auf Leben und Sterben – und das rasende Wagniß gelingt! Während vom Abstoße das Seil wogt, fliegt er in hohem Bogen über den Knieeden dahin, und wirklich – hat’s das glückliche Auge, hat’s der glücklichere Zufall gethan? – die Füße finden drüben das Seil wieder, und der Gewandtheit und Unerschrockenheit des Waghalses gelingt es, auch das Gleichgewicht wieder zu gewinnen – und von donnerndem Jubel aus jedem Munde begleitet, vollendete er die Bahn und verschwand vom Schauplatze. Auch der Engländer erreichte, nachdem er die Beruhigung des Seils abgewartet und dann sich wieder erhoben hatte, mit seiner langen Balancirstange glücklich das Thurmfenster – aber sein Glanz war verblaßt.

Der andere Seiltänzer war ein Deutscher. König Friedrich Wilhelm der Dritte erinnerte sich seiner, als er den Engländer in Aachen triumphiren sah, und veranlaßte den Minister von Hardenberg, ihn durch Courier aus Neisse in Schlesien, wo derselbe damals seine Kunst ausübte, nach Aachen zum Wettkampfe mit dem ausländischen Rivalen zu berufen. In wenigen Tagen war er da, er mußte einen Tag ausruhen und den Engländer auf dem Seile beobachten. Für den Tag der Entscheidung hatte Hardenberg dafür gesorgt, daß von all’ den höchsten und hohen Herrschaften Niemand fehlte. Sobald die Trompeten das Zeichen zum Beginne des Schauspiels gaben, eilte unser Künstler in den Thurm, lockte den Mann, der oben das Seil zu besorgen hatte, „im Namen des Herrn Ministers von Hardenberg“ von seinem Posten, nahm dessen Stelle ein und gab selbst dem Engländer das Zeichen „Alles fertig!“ Nur so konnte er die Begegnung auf dem Seile ausführen, aber nun glückte es ihm auch wörtlich wie Cäsar: Er kam, sah und siegte.

Dieser Sieger von Aachen ist Wilhelm Kolter. – Damals war er ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren; jetzt ist aus ihm „der alte Kolter“ geworden, ein achtzigjähriger Greis.

Während wir dies niederschreiben, durchläuft die Kunde von der Verunglückung einer englischen Seiltänzerin, der Miß Victoria Sandersen, durch den Sturz von einem Thurmseil in Berlin alle Blätter und regt, wie dies jedes derartige Unglück von Neuem thut, das öffentliche Urtheil gegen all solche Waghalsigkeiten auf, die nicht einem höheren Zwecke dienen, als dem der gruselseligen Schaulust. Und wie nicht selten wird auch da das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Betrachten wir deshalb einige Augenblicke die gesammte vagirende Künstlerschaft ein wenig näher, um dem inneren Wesen derselben, das sie im Leben so eigenthümlich dahintreibt, auch nach seinen äußeren Erscheinungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Unseren Lesern sind schon einmal „Wandernde Künstler“ vorgeführt; Freund Leutemann nahm bei einem seiner trefflichen Thierbilder, der Darstellung einer „Kunstproduction“ von Kameel- und Bärenführern (Jahrgang 1863, Nr. 7 und 8) die Gelegenheit wahr, über die untere Schicht dieser Künstler nach seinen Erfahrungen in den Leipziger Meßbuden sich in seiner liebenswürdigen Weise zu verbreiten. Er belehrt uns, daß die Höhe des Entrée der beste Maßstab dafür sei, ob das dort Dargebotene von ernster oder heiterer Seite aufgefaßt werde müsse. Noch schärfer, als nach ihren Eintrittspreisen, unterscheidet die vagirende Künstlerwelt sich nach den Haupt-Eigenschaften und -Erfordernissen für ihr Auftreten, und auch in dieser Beziehung zerfällt sie in zwei Hauptclassen: die höhere ist die des Muthes und der Kunstfertigkeit, die niedere die der List und – wir kennen keinen bezeichnenderen Ausdruck – „Unverfrorenheit“. Neben beiden ist allerdings noch ein Fach „für die Anderen“ nöthig.

Wer aber zählt die Häupter und nennt die Namen derer, die durch ihre „Arbeits“-Art auf diesem Felde als zunftberechtigt gelten? – Phantasie und Erinnerung arbeiten sich vergeblich ab, eine Liste derselben aufzustellen, jede Messe, jeder Jahrmarkt, jedes Vogelschießen und sonstige Volksfest bringt Neues, immer Unerhörteres, Erstaunlicheres, und das Alte verschwindet wie Nebel in der Ferne. Es sähe schlimm damit aus, wenn nicht ein deutscher Dichter und Schriftsteller auf diesem Gebiete mit ungewöhnlicher Sachkenntniß, ja als förmlich Eingeweihter gearbeitet hätte: der alte edle Karl von Holtei. Seine Selbstbiographie „Vierzig Jahre“, vor Allem aber sein Roman „Die Vagabunden“ sind unschätzbare Führer durch diese bunte Welt, die mitten im bürgerlichen Alltagstreiben sich bewegt, von diesem lebt und sich doch nie mit ihm vereinigt. Sein Vagabunden-Buch gewinnt einen besondern culturgeschichtlichen Werth dadurch, daß es das Leben dieser Kinder der Freiheit noch vor der Zeit der neuen Völkerverkehrsmittel schildert. Für beide Werke sind Tausende von Lesern dem alten Holtei Dank schuldig geworden, und wir wollen ihn dem Breslauer Dichter-Veteran hiermit recht warm darbringen.

Es darf weder den alten Herrn, dessen Andenken diesen Artikel veranlaßt hat, noch sonst irgend Jemanden, den die Bezeichnung mit trifft, verdrießen, daß Karl von Holtei das Gesammtbild der vagirenden Künstlerschaft, zu welcher er nicht bloß Menageriebesitzer und Bärenführer, sondern auch die „reisenden“ Sänger, Tänzer, Musiker, Schauspieler, Declamatoren und sich selbst rechnet, unter dem Titel „Die Vagabunden“ darstellt.

Er versichert ausdrücklich, daß er den Begriff „Vagabunden“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_653.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2019)