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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


„Ich möcht’ bitten um eine Collecte,“ fuhr er dann ruhig fort, als sei ihm diese Bitte schon eine sehr geläufige.

„Wollen Sie sich an den Secretär L. wenden!“

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Faul! Ich hab’ mir sagen lassen, der Secretär ist grob und giebt höchstens zwanzig Groschen. Seien die Herren Collegen so freundlich und nehmen Sie die Sach’ in die Hand!“

Er überreichte uns einen Collectenbogen. Wir bedeuteten ihm, er möge in der nahe gelegenen Restauration warten. Wir brachten in aller Eile mehrere Thaler zusammen. Zwei von uns übergaben sie ihm. Er dankte oberflächlich und handwerksmäßig.

„Was gedenken Sie jetzt zu beginnen?“

„Weiß ich’s? Ich werd’ mich nach Magdeburg durchschlagen.“

Wir entfernten uns. Er mag einen guten Gebrauch von seiner Collecte gemacht haben. Am andern Morgen hörten wir, er sei in später Nachtstunde sinnlos betrunken von der Polizei aufgegriffen worden und habe immer gerufen:

„Lassen Sie mich los! Ich bin Gädemann – aber ich kann meinen Gasthof nicht finden!“

Jetzt ist er schon lange todt, der berühmte Heymann Levi, elend verdorben, gestorben. –

Einen mehr heiteren Eindruck machte ein Collectenbruder, den ich etwas früher, während meines Engagements am Stadttheater in H., kennen lernte. Dieser Collectenbruder bereiste vorzugsweise die Provinz Sachsen und Thüringen. Das Stadttheater in H. stand damals, 1861, unter der Leitung eines Directors W. Er war ein geborener Kleinpariser, ein sehr tüchtiger Musiker, aber ein sehr schwacher, allzu gutmüthiger Director. Sein Regisseur und Schwiegersohn war das directe Gegentheil. Eine gallig-giftige, eckige Natur, welcher nur Derjenige ein tüchtiger Regisseur war, dem fortwährend donnernd grobe Ausdrücke zu Gebote standen. Die Proben waren unter diesen Umständen sehr ergötzlich. Der Director hielt es nämlich für seine Pflicht, jeder Stückprobe mindestens eine Stunde beizuwohnen, das heißt schlafend. Sein Armstuhl stand links vom Souffleur. Der Regisseur und Schwiegersohn saß rechts. An die vielen „Donnerwetter!“ seines Eidams war der Director schon gewöhnt; sie störten ihn nicht mehr in seinem Probenschlafe. Nur ein Kraftausdruck ließ ihn stets emporfahren. Rief nämlich der Regisseur-Schwiegersohn im höchsten Zorne aus: „Verfluchte Zucht!“ so sprang a tempo der Director-Schwiegervater aus dem Schlafe empor, stieß einige Male mit seinem Stocke auf das Podium, gab seinem gutmüthigen Gesichte ein möglichst bösartiges Aussehen und rief in hoher Tenorlage: „Aufpass’n müss’n Se, meine Herrschaften, sonst lass’n mer die Sache lieber noch ansteh’n.“

Doch zurück zu meinem Collectenbruder. Eines schönen Tages hatten wir wieder Probe. Wir waren mitten im zweiten Acte eines Benedix’schen Lustspiels, und der Regisseur hatte sich eben das Soufflirbuch geben lassen, um „noch ein Stück zu setzen“. Während einer todtenstillen Pause ließen sich plötzlich die donnernden Worte eines kräftigen Basses vernehmen:

„Jutten Marrrgen!“

Der Donnergruß kam aus dem dunklen Hintergrunde der Bühne. Alles lenkte seine Blicke dahin, den Frevler zu erspähen. Der Regisseur-Schwiegersohn wirft das Buch wüthend hin und schreit:

„Verfluchte Zucht!“

A tempo springt der Director-Schwiegervater empor und ruft pflichtgetreu:

„Aufpass’n müss’n Se, meine Herrschaften –“

Weiter kam er nicht. Langsam und feierlich entwickelte sich aus dem Dunkel des Hintergrundes ein kurzer, dicker Mensch. Der kleine, robuste Jupiter tonans trat gemessenen Schrittes bis in die Mitte der Bühne, zog den Hut, strich mit einem baumwollenen, blauen Taschentuche sorgfältig einige spärliche Haare der vorderen Glatzengegend zurecht, suchte dem allzu engen, unmodernen, braunen Frack vergebens etwas Taillenfaçon zu geben und sprach dann mit kräftiger Würde:

„Ich brauche nicht um Entschuldigung zu bitten, Herr Director, da Sie mich kennen. Meine Herrschaften – mein Name ist Hugo Köhler – Baßbuffo und Heldenvater. Ich bin auf der Durchreise und etwas in Verlegenheit. Herr Director,“ fuhr er fort, diesem nähertretend und den Collectenbogen überreichend, „Sie kennen mich von früher. Darf ich auf Sie rechnen? Vielleicht gastire ich einmal bei Ihnen. Drüben bei Pippert werde ich das Resultat erwarten. Lassen Sie sich nicht stören, meine Herrschaften!“

Sprach’s und verschwand majestätisch wie langsam verrollender Donner. Allgemeine Verblüffung, dann herzliches Lachen. Aber unser Director und sein „artistischer Leiter“ kannten den kurzen, dicken Mann schon.

„Gehen wir nur weiter! ’s ist Hugo Köhler – der kommt alle Jahre zweimal.“

Die Collecte wurde gemacht, und ich begleitete den Inspicienten zu Pippert. Hugo saß beim Seidel. Mit milder Herablassung empfing er uns.

„Setzen Sie sich, meine Herren, und lassen Sie sehen, was Sie mir bringen!“ Er nahm die Collecte entgegen. „Kellner – zwei Seidel für die jungen Leute!“

„Aber Herr –“

„Junger Mann, Sie werden doch einem alten Komödianten keinen Korb geben?“

Ich schwieg resignirt. Der Inspicient, eine durstige Natur, liebäugelte bereits mit dem gebrachten Gerstensafte. Hugo studirte die Liste der Geber. Seine Züge wurden düster, und mit verhaltenem Grimme grollte er:

„Ein Thaler zweiundzwanzig und ein halber Silbergroschen – das ist wenig – sehr wenig! Ich hätte dem Stadttheater in H. mehr Mitgefühl für einen Künstler meines Ranges zugetraut. – Doch – legt’s zu dem Uebrigen! – Prost, Ihr Herren!“

Der schlagflüssige Heldenvater wurde redselig. Er erzählte uns Räubergeschichten aus „seiner guten Zeit“.

„Seht Ihr, Kinder – die Natur, die Natur – das ist die Hauptsache! Ich bin noch in der Iffland’schen Schule gebildet – Goethe war mein Regisseur; die Natur ist mir Alles. Ihr solltet mich als Oberförster in den ‚Jägern‘ sehen! – na, vielleicht gastire ich einmal bei Euch. – Der neuen Schule fehlt die Natur. Das habe ich vor zwei Jahren dem Hendrichs in’s Gesicht gesagt; nur niemals hinter dem Rücken, daran halte ich fest, immer in’s Gesicht! Hendrichs gastirte bei uns in – na – in – wie heißt denn das Nest gleich? Na, ’s ist ganz egal – ich glaube beim ‚Aenne‘ war’s. Ich war dort als erster Vater engagirt. Hendrichs wollte den Tell spielen. Wollte, sag’ ich, denn er hat ihn nie spielen können. Ich spielte den Stauffacher. Macht der Mensch den Blödsinn und betont auf der Probe:

‚Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich‘ – fünf Minuten Aufenthalt – ‚Euch‘ etc.

Aber, lieber Hermann, sag’ ich, welcher Unsinn! Einen Pfeil hast Du bereits verschossen; den zweiten hast Du in’s Wamms gesteckt. Diesen Pfeil ziehst Du bei diesen Worten hervor und rufst:

‚Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich Euch etc.‘

So mußt Du den Vers sprechen, mein Junge, denn Geßler ist ja gerade darum so wüthend und läßt Dich dann gefangen nehmen, weil Du, der Tell, ihn hast erschießen wollen. Ist das nicht psychologisch richtig?!“

Hugo sah uns triumphirend an. Wir waren starr. Er weidete sich an unserem Staunen und hauchte dann mit glückseligem Lächeln:

„Ja, ja, Kinder, das ist Iffland’s Schule. Hendrichs hat mir auch nicht ein Wort erwidert. Prost, Ihr Herren!“

Der dicke Hugo ruht wohl schon lange in Frieden. Ebenso sein für das Königreich Sachsen concessionirter Kumpan, Namens Loose. Dieser behauptete allen Ernstes, eine Concession zu besitzen, wonach er „an allen sächsischen Bühnen Collecte machen dürfe“. Auch dieses Original war ein Freund des Wanderns und des Liqueurs. Wurde ihm gesagt: „Loose, fragen Sie doch bei dem und dem Director um Engagement an!“ so hatte er immer dieselbe Geschichte in Bereitschaft.

„Zu allen Directoren – nur nicht zu diesem, mein Sohn! Dieser Mensch ist der Mörder meiner Tochter.“

„Aber –“

„Höre, mein Sohn! Ich bin mit meinem braven Weibe und meiner vierjährigen Tochter bei diesem Menschen in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_594.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)