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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Rose noch an derselben Stelle; man hatte sie ihm gelassen. Wie traurig sah sie aus!

Die letzte Rose an meinem Rosenstock war erblüht. Mit thränenden Augen schnitt ich sie ab und brachte sie ihm, dessen herziger Blick noch vor wenigen Tagen darauf geruht und ihr Erschließen vorausgesagt. In dem Todtenzimmer war es von Theilnehmenden voll; alle jungen Mädchen der Stadt gingen in das Trauerhaus, ihn noch einmal zu sehen, Kränze und Blumen auf sein Todtenkissen zu legen und noch einen Blick, den letzten, auf das stille unveränderte Antlitz zu werfen. Ich konnte nicht mit den Anderen fortgehen. Zu ihm, dem verlassenen Greise, meinem alten Freunde, zog es mich.

Nebenan, im dunklen Zimmer, saß er einsam und still, nicht wie sonst hinausschauend durch das kleine Fenster, auf dem alten Lehnstuhl am Ofen zusammengesunken, die Hände über das Knie gefaltet und laut stöhnend, die trockenen brennenden Augen auf einen Punkt geheftet.

Ich kniete zu ihm hin: „Onkel Ritius!“ rief ich, legte meinen Kopf auf seine Hände, und laut aufweinend benetzte ich sie mit meinen Thränen.

Das alte Haus ward finsterer als vorher, das sonnige Zimmer durch düstere Läden dicht verschlossen; Staub und Spinnengewebe verdunkelten die auf so kurze Zeit hell gewordenen Fenster. Die Linden, die sonst beschnitten wurden, wuchsen wie sie wollten, streckten ihre Zweige gen Himmel und drängten sich in die Giebelluken hinein; die Blumen im Eckzimmer vertrockneten. Arnold hatte die letzte frische Rose für mich von ihren Zweigen gepflückt.

Wo war der Sonnenstrahl geblieben? Fort aus dem alten Hause, fort aus dem jungen Herzen.




Blätter und Blüthen.


Vom Grabe Mörike’s. In Stuttgart am 6. Juni war’s, um die Abendzeit. In Sonntagsgewändern wogte eine fröhliche Menge unter den frischen grünen Bäumen des Parkes, und seitwärts von demselben, auf dem schattenlosen, durch wenige hervorragende Denkmäler geschmückten Pragfriedhof hatte sich eine stille Gemeinde um ein offenes Grab versammelt. Voller Sonnenschein umfloß es; es war, als solle der, welchen hier die letzte Ruhestätte erwartete, nicht in das Dunkel, sondern in’s Licht gebettet werden – als wolle auch die Natur ihm ein würdiges Todtenopfer bringen. Und wohl hatte Eduard Mörike, dessen von Lorbeerkränzen überdeckten Sarg man langsam den Weg heraustrug, ein solches verdient als Sänger der Natur, deren geheimnißvolles Treiben er belauscht und mit dem Herzen erfaßt hatte.

Sie Alle, die ihm jetzt die letzte Ehre erwiesen, hatten sich an seinen lieblichen Liedern und sinnigen Märchen erfreut und klagten nun um sein Scheiden; Alle waren sie gekommen, die auf ihn als einen der Ihren blicken durften und die ihn lieb gehabt, sei es als Mensch oder als Dichter. Zunächst am Grabe standen, die am meisten an ihm verlieren, der Aesthetiker Vischer und Dr. Notter, der bekannte Dante-Uebersetzer, die Freunde seiner Jugend und seines Alters, stete treue Gesinnungsgenossen. Ihnen schlossen sich an Freiligrath, Karl Gerok, der geistliche Sänger und ehemalige Berufsgenosse des Geschiedenen, J. G. Fischer, Georg Scherer, Ludwig Pfau, Karl Schönhardt, die schwäbischen Dichter der Jetztzeit, die Schriftsteller von Walesrode und Arnold Wellmer, der Kunsthistoriker Professor Lübke, Hofrath Hemsen und viele Andere.

Der Geistliche sprach, wie es gewünscht worden, nur ein Gebet, dann trat Professor Vischer heran, dem Freunde den letzten Gruß hinunter zu rufen.

„Lebe wohl – Du fühlst es nicht,
Was es heißt, dies Wort der Schmerzen,“

hatte der verstummte Mund gesungen – tiefste Bewegung klang aus der Stimme des Redenden, der Mörike zuerst so treffend wie schön als Dichter charakterisirte:

„Hinabgesunken, theurer Freund, ist Dein Irdisches, und Du bist nun ganz Geist geworden, schwebst unkörperlich weithin in den Herzen und Geistern der Menschen. Nicht so weit wirst Du strahlen, wie jene größten Geister, die, mit dem vollen Maß der schaffenden Kräfte begabt, die Welt bezaubern; nicht so weit wirst Du glänzen, wie jene Talente, die es der Menge recht machen, weil sie in deren gewöhnlichen Darstellungen bleiben, sie nur mit farbreichen duftlosen Blumen ausschmückend. Du bist nicht berühmt und wirst es nicht sein bei Denen, die es nicht ahnen, welch ein Wesen es ist, das Dir bei Deiner Geburt die zarten Geisterhände auf Stirn und Lippen legte. Du wirst nicht berühmt sein bei Jenen, die es nicht fassen, was der Dichter sehnt und meint, wenn er aus Licht und Luft lauter magische Fäden spinnt und Herz und Welt, Geistesleben und Erde, Sonne, Mond, leuchtende Bäume und rauschende Wasser in ein Ganzes geheimnißvoll zusammenschlingt, nicht bei Jenen, die es nicht fassen, wie es kommt, daß der Dichter nicht von dieser Welt ist, daß er mitten in diese unsere Welt uns eine zweite, eine Welt von Wundern hineinstellt. Aber ist Deine Gemeinde nur im Vergleich mit der Menge klein, es ist eine Gemeinde, die sich labt und erquickt an Deinem wunderbaren seligen Treiben, es ist eine Gemeinde, die den Dichter nicht nach rednerischen Worten schätzt, sondern den Wohllaut trinkt, der aus ursprünglichem Naturgefühl der Sprache quillt.“

Aber auch von dem Menschen, dem schlichten, anspruchslosen und von seinem weichen Gemüthe sprach Professor Vischer. „Es ist ein guter Mensch gestorben –“ wer hätte nicht in der Runde mit eingestimmt? Treu und ehrlich, warm und hingebend, so wurde er als Freund vom Freunde geschildert. „Mein letztes Gespräch mit ihm,“ so fuhr der Redner fort, „galt Jenen, die das Dasein für schlecht und für das Beste das Nichts halten. Er nickte und blickte freundlich, als ich sagte, wir machten ja die Welt, falls sie schlecht wäre, noch schlechter, wenn wir in uns und Andern das große, wahre Gut der schönen Täuschung über die Uebel des Daseins und die Quelle aller wahren Freude, aller Lebenstüchtigkeit zerstörten, den Glauben an ein ewig Festes, an ein Bleibendes in den Wogen der Zeit, das Wesen hat, weil es unsichtbar ist. Und so freundlich blickend und nickend bleibt er mir nun in’s Gedächtniß geschrieben.“

Die ergreifende Rede schloß mit dem Citate:

„Denn hinter ihm, im wesenlosen Scheine
Lag Alles, was uns bändigt, das Gemeine.“

Im Namen der Stuttgarter Künstlergesellschaft „Bergwerk“ legte Karl Schönhardt einen Lorbeerkranz am Grabe „des Ehrenknappen, dessen stilles Grubenlicht so schön gestrahlt“, nieder, und G. H. Fischer brachte als „Jünger dem Meister“ einen Palmenzweig und warmempfundene Verse.

Dann fielen die ersten Händevoll Erde auf den Sarg, und schweigend zerstreute sich die Schaar – das war Eduard Mörike’s prunklose, aber tiefergreifende Leichenfeier.

„Keinen Lorbeer will ich, die kalte Stirne zu schmücken,
Laß mich leben und gieb fröhliche Blumen zum Strauß!“

hatte der Heimgegangene einstmals die Muse angefleht, und in der That, der volle Lorbeer senkte sich erst auf sein Grab, und richtig und ganz wird ihn die Nachwelt erkennen und schätzen – aber auch der „fröhlichen Blumen“ hat ihm das Leben nicht zu viel gebracht, wenn auch die Dauer desselben eine lange war. Eine wankende Gesundheit hat ihn auf manchen Lebensgenuß verzichten lassen.

Am 8. September 1804 ward er zu Ludwigsburg geboren; er erhielt seine Schulbildung auf dem Stuttgarter Gymnasium, wurde für das theologische Studium bestimmt und besuchte das Seminar zu Urach. Hier, an der Pforte der Rauhen Alb, in der wundervoll romantischen Umgebung, mochte sich seine Naturliebe voll entwickeln; auf den schattigen Pfaden zur Höhe, zwischen den Ruinen der alten Burg, am plätschernden Wasserfalle im Thale mochten die ersten Lieder in seiner Brust erklingen.

Mit achtzehn Jahren kam er nach Tübingen, wo er mit Strauß, Vischer und Bauer Freundschaft schloß. Nach Vollendung seiner Universitätsstudien wanderte er als Pfarrgehülfe von einem Dörflein zum andern, bis ihm 1834 die Pfarrstelle zu Cleversulzbach verliehen wurde. Während an seine Freunde theils der Kampf und die Bewegung herantrat, theils die Lust, zu sehen und zu hören, wie es draußen sei, lebte er in stiller Beschaulichkeit unter dem Dache des bescheidenen Hauses, wo einst Schiller’s Schwester als Pfarrerin gewaltet, freute sich der Blumen in dem kleinen Garten, durchstreifte die nahen Wälder oder schrieb unter der „Dichterbuche“ die Lieder nieder, welche in seinem Innern erblühten. Was ihn im engsten Kreise umgab, wurde Anlaß zu Poesien: jene Buche, in deren Rinde noch heute Hölty’s und anderer Dichter Namen zu lesen sind, der Thurmhahn auf dem Kirchendache, jeder Waldgang, ja, seine Berufsgeschäfte sogar, wie aus der „Pastoralerfahrung“ und der „Trauung“ hervorgeht. Das, was in der weiten Welt vorging, lag seiner Muse fern, nur in die Vergangenheit griff er zurück und schuf gelungene Uebersetzungen von Anakreon und Theokrit.

Die Einsamkeit des kleinen Pfarrhauses theilten bis zu seiner Vermählung die Mutter und Schwester Clara, welch Letztere er häufig in seinen Liedern erwähnt und die ihm lebenslang das wärmste und vollste Verständniß entgegen gebracht. Die Mutter bettete er während seines Dortseins an die Seite von Schiller’s Mutter.

Wie hoch er sie verehrt, spricht sich in den kurzen Versen aus:

„Siehe, von alle den Liedern nicht Eines gilt Dir, o Mutter,
     Dich zu preisen, o glaub’s, bin ich zu arm und zu reich.
Ein noch ungesungenes Lied ruhst Du mir im Busen,
     Keinem vernehmbar sonst, mich nur zu trösten bestimmt,
Wenn sich das Herz unmuthig der Welt abwendet und einsam
     Seines himmlischen Theils bleibenden Frieden bedenkt.“

Während seines Aufenthaltes in Cleversulzbach verkehrte er viel mit Justinus Kerner in Weinsberg und Ritter, der damals Pfarrer in der Nähe war, in beiden verwandte Seelen findend. Seine Gesundheit gestattete ihm jedoch die Ausübung seines Amtes nicht auf die Dauer; er gab seine Stellung auf und siedelte nach Mergentheim, später nach Stuttgart über, so oft er frei von körperlichen Schmerzen war, sich mit dichterischen Arbeiten befassend.

Es sind nicht der Bände viele, die er mit Poesien und Erzählungen gefüllt, aber was er geschaffen, verdient einen Ehrenplatz in der deutschen Literatur; manche seiner Lieder stehen den lyrischen Gedichten Goethe’s am nächsten. Seine Novelle „Maler Nolten“ erschien 1832, die gesammelten Gedichte 1838, die „Idylle am Bodensee“, das „Stuttgarter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_443.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2021)