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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Rade, zum Wagen, von diesem bis zur Locomotive. Wer hat letztere erfunden? Niemand und Alle, vom ersten Wagner bis zu Stephenson, dem Homer der Locomotionsmittel.

Ebenso verhält es sich mit den Entdeckungen der Wissenschaft. Ihre Jünger bewegen sich vorwärts wie ein geordnetes Heer. Der Fortschritt der ganzen Armee, nicht die Tapferkeit des Einzelnen, bewirkt es, daß ein Mann der Vorhut als Erster eine Stadt betritt. Ich entsinne mich sehr deutlich, schon im Jahre 1840 als Student in Königsberg in einer Vorlesung des großen Astronomen Bessel die Erklärung gehört zu haben, daß die Abweichung des Uranus von der berechneten Bahn geböten, einen weiter entfernten unbekannten Planeten anzunehmen. Als nach Leverrier's Angabe der Neptun von Gall gefunden wurde, da lagen in Cambridge die zu gleichem Resultat führenden Rechnungen von Adams seit Jahresfrist geschrieben vor.

Nirgend aber kann von Erfindung im strengen Wortsinn weniger die Rede sein als in der Poesie. Sie ist recht eigentlich die Kunst der Tradition, Altererbtes ihr höchster Gegenstand. Groß geworden sind nur solche Dichter, welche die lebendige Poesie ihres Volkes künstlerisch gestalteten, und ihre größesten Werke sind solche, deren Stoffe sie nicht erfanden, sondern vorfanden, wie Goethe den Faust, Schiller den Wallenstein und Tell. Was die Eintagslebigkeit der neueren Poesie verschuldet, ist besonders ihre Erfindungssucht. Fälschlich klagt sie die Nation an, den idealen Sinn verloren zu haben. Wenn der Poet nur die vorhandenen Schätze zu heben weiß, dann zeigt ihm auch die Nation, daß die Empfänglichkeit sich nicht im Geringsten vermindert hat.

Es ist sehr fraglich, ob es jemals einen Dichter gegeben hätte, wenn die Menschen von Anbeginn im Besitz der Schreibkunst gewesen wären. Denn die poetische Form, der Vers, ist entstanden durch den Mangel der Schrift, als Gedächtnißmittel, das ihre Stelle vertrat. Das Gesetz des Inhalts der Poesie und seiner Anordnung endlich ist sehr allmählich zur Erkenntniß gekommen durch die mündliche Ueberlieferung.

Die Geschichte und ihre erste Vertreterin, die Sage, wird in der mündlichen Ueberlieferung von selbst allmählich zu Poesie durch die Natur des menschlichen Gedächtnisses. Was durch Schönheit oder Auffälligkeit, sei es des Klanges, sei es der Bedeutung der Worte, reizt; was das Selbstgefühl anregt, die Theilnahme spannt, das Gemüth erschüttert: das haftet in der Erinnerung. Das Gedächtniß wird zum Siebe, in welchem von der hineingelegten Erzählung nur das zurückbleibt, was jene Eigenschaften des Poetischen besitzt. Dieselben Kunstgriffe, welche die Mnemotechnik anwendet, um das zum Behalten Aufgegebene mit Zierrathen zu versehen, die der Erinnerung als Henkel und Haken dienen, kommen beim wiederholten Weitererzählen von Mund zu Mund in unbewußter Weise in Anwendung durch die Schwäche des Gedächtnisses für alles Unscheinbare, Trockene und Reizlose. In solcher Durchsiebung gewinnt die Erzählung eine Anordnung, in der sie sich den Geist unwillkürlich einprägt. Die Grundbegebenheit wird gemodelt, ausgeschmückt. Was ein zweiter Erzähler Unwirksames eingeschaltet hatte, das vergißt oder vermeidet absichtlich ein dritter; aber jeder treffende Zug, der sinnreich verbindet und Beifall weckt, wird beibehalten. Das Ziel dieses Weges ist eine Gestalt der Sage, welche die ganze Seele füllt, eine Vollendung, an der nichts mehr zu rühren und rücken ist.

Dieser anfangs unbewußt verlaufende Proceß wird aber auch beobachtet und zur Methode ausgebildet. Wo, wie in Griechenland, in der günstigsten Natur ein hochbegabtes Volk Theil nahm, indem dies geschah, und zwar geschah durch Erzähler von Beruf, durch ganze Sängerschulen, die sich stets beschränkten auf die Söhne einer Familie und ihre aus demselben Gewerbe gewählten Eidame: da bedurfte es zur Geburt der vollendeten Kunst nur noch eines zwar sehr großen und sehr seltenen, aber unter solchen Umständen hochwahrscheinlichen Glückes: daß in einem dieser Sängergeschlechter die lange in gleicher Richtung erfolgende Gattenwahl und die Vererbung der beständigen Uebung als schon angeborenes Talent endlich die vollste Gipfelblüthe trieb und ein außerordentliches Genie erzeugte.

Ein solches Riesengenie ist der Mann gewesen, der nach seiner Leistung Homeros genannt wurde, weil er die Technik seiner Schule zu vollendeter Meisterschaft erhoben, die ganze poetische Kraft seiner Nation gleichsam zu einem Sammelmenschen vereinigt hatte und nun selbst Poesie geworden war, um die Einzelschöpfungen Vieler während einer Reihe von Geschlechtern neu zu gebären als einiges, uraltes und dennoch neues, von keinem Einzelnen jemals erreichbares Wunderwerk ewiger Dichtung.

Er folgte dem Berufe seiner Väter und ward Rhapsode, zunächst ererbter, dann von ihm gemodelter, schließlich auch eigener Lieder. Nichts aber wirkt so günstig auf die allmählige Vervollkommnung der Dichtung, als oft wiederholter Vortrag. Von jedem Worte beobachtet der Vortragende die Wirkung. Trüber sofort blicken die Augen der Hörer, wo die Schilderung zu breit wird, wo die Spannung nachläßt. Die Stirnen krausen sich von Gedankenanstrengung, wo ein schwerfällig gebauter Satz die schlichte Verständlichkeit des Stils unterbricht. Die hohlen Hände fahren verstärkend hinter die Ohrmuscheln auch bei kräftigster und deutlichster Articulation, wo die Darstellung noch nicht scharf und anschaulich genug ist, wo der Hörer eine Vorbereitung vermißt und ein wichtiger Hauptzug ihm zu plötzlich über den Hals kommt. Aber im Nu heben sich alle Köpfe, glätten sich alle Stirnen, funkeln alle Augen von Erwartung, wo das Wort die Herzensnerven in Bewegung setzt. Nach solchen Wahrnehmungen ändert dann der Rhapsode das Lied beim nächsten Male, indem er hier verkürzt, dort lebendiger ausführt, hier einen Schatten der Leidenschaft dunkler malt, dort einen helleren Lichtpunkt des Bewundernswerthen aufsetzt. Aus solchen Wahrnehmungen setzt sich ihm endlich ein sicheres Vorgefühl zusammen, wie das wirksame Lied beschaffen sein müsse. Die erkannten Regeln werden in ihm Fleisch und Blut und mit untrüglicher Empfindung kann er sie endlich dichtend erfüllen auch ohne die Vorprobe der Recitation.

Auf diese Weise hat Homer bei seinen Vorträgen zunächst das Geheimniß der Anschaulichkeit entdeckt. Er fand das einzige Mittel, das der Poesie zu Gebote steht zur Bildwirkung. Ueber drittehalb Jahrtausende sollten vergehen, bevor sein Mittel durchschaut wurde. Aber auch jetzt, nachdem das vor mehr als hundert Jahren geschehen ist durch Lessing und das betreffende Kunstgesetz in klarster Schärfe in seinem Laokoon formulirt steht, wird es noch immer vernachlässigt wie nicht vorhanden. Schlagen Sie den ersten besten französischen, deutschen oder englischen Roman auf: fast unfehlbar finden Sie nach jedem Scenenwechsel den Versuch, den Schauplatz, die Landschaft für sich allein zu malen, und nach dem Auftreten jeder neuen Person von einiger Erheblichkeit, namentlich der ersten Liebhaberin, den Versuch, ihre Züge vom Stirnrande zur Haarwurzel, ihre Gestalt und Kleidung vom Scheitel bis zur Schuhspitze mit Worten zu portraitiren.[1] Es ist das ein Unternehmen, gerade so unsinnig, als wollte ein Bildhauer durch die Lippenstellung seiner Statue einen gesprochenen Satz augenverständlich machen, ein Maler eine Spitzkugel auf ihrer ganzen Flugbahn von der Mündung des Laufes bis an’s Ziel sichtbar darstellen, oder ein Geiger durch die Violine mittheilen, daß das Rhinoceros zu den Dickhäutern gehöre. Denn die Poesie kann schlechterdings nicht portraitiren. Zum Zeichnen stehen ihr keine anderen Formen, zum Coloriren keine anderen Farben zu Gebote, als diejenigen in der Erinnerung ihrer Leser oder Hörer. Nur indem sie diese mit dem Materiale ihrer Kunst, mit zweckdienlich geordneten Lauten oder Lautzeichen in Bewegung setzt, kann sie die Phantasie des Zuhörers zwingen, aus ihrem kaleidoskopischen Vorrathe Bilder zusammensetzen, ähnlich denen, welche sich der Poet aus seinen eigenen anschaulichen Erinnerungen zusammengesetzt hat. Jedes wirkliche Gemälde ist aber ein Momentanbild: alles Einzelne, wie es in einem Moment gewesen, ist darauf gleichzeitig neben einander vorhanden. Was auf dem angegebenen Wege die Sprache annähernd momentan, das heißt durch ein oder zwei Worte, wecken kann, ist auch im besten Falle niemals schon ein Bild. Damit z. B. „schwarze Katze“ Bild werde, muß noch eine Menge Anderes hinzukommen, Stellung, Boden, Hintergrund etc. Nur durch eine Reihe nach einander folgender Worte kann das geschehen.

  1. Eine rühmliche Ausnahme machen unsere wohlgeschulten Novellisten Gustav Freytag und Paul Heyse; aber selbst Walter Scott, dessen sonst so kunstvoll durchgebildete Romane dem Epos oft nahe kommen, bringt neben der richtigen weit öfter die falsche Malweise in Anwendung.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_252.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)