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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Menschen angewiesen sah und in diesem Berufe sich mit einer idyllischen Behaglichkeit eingerichtet hatte, wie sehr er auch das Bedürfniß einer denkenden Verarbeitung seines Glaubens in sich trug. Wohl drang das Getöse des großen Geisterkampfes auch in die stille Studirstube des Pfarrers, aber in sehr abgeschwächten Tönen durch die theologischen Zeitschriften, welche, von den geistlichen Capiteln gehalten, von Pfarrhaus zu Pfarrhaus gingen (so Tholuck’s „Theologischer Anzeiger“, Hengstenberg’s „Evangelische Kirchenzeitung“ etc.). Aber sie gaben die neuen Ideen verzerrt, entstellt, ihres Zusammenhanges beraubt und lieferten sogleich die theologische Widerlegung gratis dazu.

Auch war im ganzen Orte und in ziemlicher Entfernung keine Seele, mit der man seine Gedanken über diese Fragen der Theologie hätte austauschen können. Doch ja, im Dorfe war ein reicher Gutsbesitzer, der viel in Theologie machte. Er gab sein Haus zum Absteigequartier für Missionäre und fromme Colporteure her. Der kam in den langen Winterabenden etwa in’s Pfarrhaus. Aber da ging es dann laut und lebhaft her, denn der Vater war ein hitziger Disputator, wenn es einmal an ihn kam. Man stritt weniger wegen des Glaubens; er befand sich nirgends im Widerspruche mit der Kirchenlehre, aber um so weiter gingen sie auseinander in der praktischen Behandlung der Religion. Denn dem Vater war der Pietismus mit Allem, was drum und dran hing, zeitlebens in innerster Seele zuwider. Dieses Verhätscheln des lieben Heilandes, dieses stets bereite Reden vom Herrn, von Gnade und Bekehrung, diese sonderliche Sprache Canaans, dieses Zusammenbeten mit frommen Weibleins, dieses säuerlich-süße Richten und Absprechen widersprach ganz der kantisch verständigen und hellen Art der Religiosität meines Vaters und den Hochmuth haßte er unter allen Lastern am meisten auf allen Gebieten, besonders aber im geistlichen.

So hatte er sich gewöhnt, soweit das Amt ihn nicht in Anspruch nahm, ganz in sich hineinzuleben, und war auf dem besten Wege zur Hypochondrie, welcher er auch im höheren Alter völlig anheimfiel. Eine ganz andere Natur war die Mutter: bei einer Gesundheit des Körpers, die Schmerz und Krankheit nicht kannten, ein Frohmuth, welcher die Dinge von der besseren Seite nahm, eine Offenheit und Aufrichtigkeit, welche das Herz stets auf der Zunge hatte, ein Vertrauen, das alle Menschen für gut und redlich ansah, ein Herz voll Wohlwollen und Güte, leutselig und freundlich gegen Jedermann. An Bildung besaß sie kaum mehr, als was die Bürgermeisterstochter eines kleinen Landstädtchens im vorigen Jahrhundert in der Schule lernte. Einen Brief schrieb sie im äußersten Nothfall; ihre Hand war nicht an die Feder gewöhnt, und über Komma und Punktum hatte sie keine besonderen Studien gemacht. Den „Schwäbischen Merkur“ las sie regelmäßig von hinten, das heißt, sie war zuerst auf die Todesnachrichten und andere Personalien aus. Aus dem Gebiete der Politik interessirte sie nur, was den König und die Königin anging; sie hatte die ganze Familientafel des angestammten Königshauses im Kopfe, und auch über die Familienverhältnisse der übrigen europäischen Höfe hätte der „Gothaische Hofkalender“ sich bei ihr Raths erholen können. Aber in den Künsten der Haushaltung wurde sie nicht leicht von Jemand übertroffen. Man mußte sie sehen, wenn sie den Teig knetete und die Brodlaibe mit der langen hölzernen Schaufel in den Ofen schob und dabei selten unterließ, für die Kinder einige „Beerten“ (Rahmkuchen, Apfelkuchen etc.) oder einen winzigen, mit einem Apfel gefüllten Brodlaib mitzubacken, oder wenn sie zur Weihnachtszeit wochenlang an den Abenden die Orangen, Citronen, Mandeln, welche von den hausirenden Tirolern in’s Haus geliefert wurden, in kleine Stücke zerschnitt, den Zucker und Zimmt im Mörser zerstieß und die Lebkuchen und „Springerlein“ bereitete, oder wenn der Herr Special und die Frau Specialin bei Gelegenheit der Kirchen- und Schulvisitation erschienen und im Pfarrhause ein Ehrenessen veranstaltet wurde – das war der Mutter Element; da gab es kein Jagen und Drängen, keinen Ausdruck des Scheltens und der Ungeduld; da floß Alles so lustig von der Hand und fand natürlich und geordnet seinen Weg. Wie einfach sonst der Haushalt war, wenn Gäste kamen, wurde Nichts gespart. Da drangen wir Knaben wie ein Schrecken in den Taubenschlag, und die Gans nahm Abschied von ihren Schwestern.

Aber auch Garten und Feld war der Mutter ebenso vertraut, wie das Haus. Den Blumengarten, der sich so melancholisch an der Kirchhofmauer hinzog, mit der traulichen, von Haselnußbäumen umschatteten Ecke, verzierte sie mit dem reichsten Sortiment von Blumen; den großen Gemüsegarten, der durch den Hofraum vom anderen getrennt war, übernahm sie mit Hülfe der Dienstboten und Kinder allein, und der stets im Studiren begriffene Papa wurde nur herbeigerufen, wenn es galt, die mit der Schnur bezeichneten Wege durch das eben gerechelte Land kräftig abzutreten. Wie aufmerksam war sie hinter den Feinden des Gartens her! Oft stand sie lange Zeit mit der scharfen aufgehobenen Hacke und paßte dem Maulwurf auf, dessen Wege sie verfolgte, bis der sichere Streich ihn erlegte. Auch durch das Dorf zu ziehen, die Haue auf der Schulter, um ihren Hanf oder ihre Rüben auf dem vor dem Dorfe gelegenen Pfarracker zu besorgen, schämte sie sich nicht; sie dünkte sich für keine Arbeit zu vornehm, und alle diese Arbeit hinderte sie nicht, ihr Haus zu einem Muster der Ordnung und Reinlichkeit zu machen.

Vor einer solchen Pfarrerin hatten die Leute Respect, und es war gewiß im ganzen Dorfe kein Mensch, der etwas Böses über sie geredet hätte. Auch der Vater war als Prediger wie als Mensch sehr beliebt. Seine Predigten waren scharf logisch eingetheilt, wenn auch nie geschrieben, doch im Kopfe bis auf’s Wort ausgearbeitet und zielten auf’s Herz und auf den Willen; das Dogma stand im Hintergrunde; voran trat das Leben und die praktische Frömmigkeit. Ein besonderes Geschick hatte er für die Gelegenheitsreden; er war ein milder und billiger Beurtheiler der Menschen und der menschlichen Dinge. Lob, Tadel oder Mahnung wußte er so tactvoll einzuflechten, daß sie niemals verletzten. Am Menschen schätzte man neben dem Ernst des strengen und festen Charakters insbesondere, daß er keine Unterschiede machte. Er behandelte alle Menschen gleich und stellte sich ihnen gleich. Ich hörte ihn aussprechen, daß er die Zeit zu erleben wünschte, da alle Menschen einander mit „Du“ anredeten, und die Tiroler rühmte er gerne, weil sie selbst ihren Kaiser duzen. Es war etwas in ihm von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution, der er einst, als sie noch reiner gewesen war, mit Klopstock zugejauchzt hatte. Obwohl ihm der Weg offen stand, würde er nie eine Stelle in der Stadt angenommen haben. Die Vornehmheit und der Zwang der städtischen Verhältnisse widersprachen seiner republikanischen Einfachheit und Ungenirtheit.

Unter solchen Eltern ließ sich gut leben. Auch war die Erziehung die vortrefflichste von der Welt, wenigstens für gutgeartete Kinder. Man ließ uns wachsen wie die jungen Bäume, denen man etwa Pfähle giebt, damit sie gerade bleiben, und die üppigen Schosse abschneidet, damit sie fruchtbarer werden, an denen man aber nicht immer herummacht. Man modelte und dressirte uns nicht; man moralisirte nicht viel an uns hin. Man ließ uns springen wie die Füllen und gab der Individualität den freiesten Spielraum zu eigener Entfaltung unter Menschen, in Feld und Garten und Wald. Körperlicher Züchtigung enthielte sich der Vater grundsätzlich; von dem mahnenden Worte eindringender Herzlichkeit erwartete er Alles, und oft ist mir im späteren Leben seine ruhige Stimme wie ein sokratisches Dämonium auf meinem Wege an’s Ohr gedrungen, als eine Art Gehörsvision. Die Mutter dagegen, die keine Philosophin war, aber eine praktische Frau, besann sich nicht lange, dem jugendlichen Sünder – am häufigsten freilich, wenn er bei Regenwetter durch’s ganze Dorf gestampft war und Abends mit über und über bespritzten Kleidern nach Hause kam, was seine Lust war – mit der kräftigen Hand einige Merkzeichen zu geben. Auch das war gut. Sie vergaß den Apfel nicht neben der Ruthe. Es war schnell vorbei, wie die Regenwolke, und die Güte leuchtete wieder auf ihrem Gesicht. Wenn man den rechten Ton traf, konnte man sie, wie man sagt, um den Finger wickeln. Wenn sie unzufrieden war, suchte ich sie durch allerhand drollige Reden und kindliche Späße zum Lachen zu bringen und bat: „Mueter, mueß sie net bäus si“ (Mutter, sie muß nicht böse sein). Darauf brach sie hundert und hundertmal halb lachend, halb wehmüthig in den Ausruf aus: „Bübli, Bübli, wenn Du nur im Himmel wärest. Wie wird Dein Zünglein so froh sein, wenn Du schläfst!“

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_099.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)