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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


dieser Dichtung hat Karl Simrock trefflich nachgewiesen, wie der Grundgedanke des Gottfried’schen Epos dem Wesen nach derselbe ist, den wir in den Sagen von Pyramus und Thisbe, von Hero und Leander, von Romeo und Julie ausgeprägt finden. Die Liebe kennt in ihrer Einseitigkeit kein anderes Gesetz als das eigene; sie durchbricht, wenn es sein muß, die Schranken der Sitte und der Gesellschaft, und beladen mit dieser Schuld geht sie an sich selbst zu Grunde. In allen diesen Liebessagen enden die Liebenden durch einen Irrthum über den geliebten Gegenstand, und dieser Irrthum erscheint als eine nothwendige Folge ihrer Schuld. „Pyramus ist in demselben Irrthume wie Romeo; er hält die Geliebte für todt, weil er ihr zerrissenes, blutiges Gewand findet. Er mißt sich selbst die Schuld ihres Todes bei und ersticht sich über ihrem Gewande, wie Romeo über Juliens vermeintlicher Leiche das Gift trinkt.“ Thisbe und Julie sterben vor Schmerz an der Seite der Geliebten. Aehnlich ist es mit Hero und Leander, ähnlich mit Tristan und Isolde. Leander stirbt, weil ihm mit der Fackel Hero’s der Stern der Liebe zu verlöschen schien, und dem Tristan bricht das Herz, weil das angeblich schwarze Segel ihm die letzte Hoffnung raubt.

Von modernen Dichtern ist die Geschichte von Tristan und Isolde mehrfach bearbeitet worden. Der tiefsinnige Immermann, geeignet wie kaum ein Zweiter für die Umdichtung dieses alten Stoffes im Sinne der modernen Anschauungen, starb über dem unvollendeten Werke. H. Kurtz ist es dagegen in jüngster Zeit gelungen, eine treffliche, den Ansprüchen der Neuzeit entsprechende Nachdichtung des Gottfried’schen Epos zu Stande zu bringen. Aber wie das Quellwasser seine metallische Frische am reinsten unmittelbar an der Quelle selbst bewahrt, so sprudelt der Geist kindlich frommer Einfalt, vermählt mit männlichem Ernste, auch in der herrlichen Schöpfung des alten Sängers lauterer und reiner, als in einer der späteren Nach- und Umdichtungen.

Meister Gottfried ist der Goethe des Mittelalters. Ein geborener Realist, lieh er seinen Gebilden die Farben des wirklichen Lebens und zeigte sich stets ebenso kampfesmuthig und schonungslos, wo es galt, gegen Lüge und Anmaßung Front zu machen, wie hingebend und warm, wo er Gutes und Schönes besang. Feinsinnig und zart in der Schilderung von Seelenzuständen, tief und umfassend in der Kenntniß von Welt und Menschen, schwungvoll und fast überreich an Phantasie, maßvoll und melodisch in der dichterischen Sprache, läßt er, um ein wahrhaft großer Dichter zu sein, nur Eines, die künstlerische Bewältigung des gewählten Stoffes, vermissen; denn die Umrisse seines Epos und der einzelnen Theile desselben lassen Präcision und Ebenmaß oft genug entbehren. Allein dieser Mangel, dem wir bei den gleichzeitigen deutschen Dichtern, Hartmann von der Aue etwa ausgenommen, fast durchgängig begegnen, dürfte eben deshalb mehr auf die Rechnung der damaligen Zeit als auf die unseres Dichters zu setzen sein.

Die neueste Nachdichtung der alten Liebesmär von Tristan und Isolde ist eine Tondichtung, die oben bereits erwähnte gleichnamige Oper Richard Wagner’s. Ueber den musikalischen Werth derselben hier zu urtheilen, kann natürlich nicht unsere Aufgabe sein, und auch in Betreff des vom Componisten selbst abgefaßten Libretto’s können wir nur ganz im Allgemeinen erwähnen, daß es in wesentlichen Punkten von der Dichtung Gottfried’s abweicht und derselben gegenüber selbstverständlich einen ziemlich abgeblaßten Eindruck macht.

Der geistvolle Maler, Professor Theodor Pixis in München, durch seine schönen Illustrationen zu deutschen Volksliedern, sowie zu Milton’s „Verlorenem Paradies“ rühmlich bekannt, hat eine „Richard-Wagner-Galerie“ nach seinen Original-Oelgemälden und Cartons in Photographien von Albert in München veröffentlicht, von welchen zwei ihre Gegenstände der Oper „Tristan und Isolde“ entnehmen: „Isolde, den Geliebten erwartend“, und „Isolde an der Leiche Tristan’s“.

Das erstgenannte Bild schmückt die heutige Nummer dieses Blattes. Der Künstler zeigt uns das liebreizende Weib, wie es in der herrlichen Mondnacht auf der alten Treppe des Schlosses dem Geliebten sehnsuchtsvoll mit dem Schleier winkt, nachdem das Zeichen, daß Alles zum heimlich-süßen Stelldichein bereit ist, soeben durch Auslöschen der Fackel gegeben worden.

Mögen die trefflichen Bilder unseres Künstlers, obwohl sie zunächst nur die Werke des modernen Tondichters illustriren wollen, auch das Andenken des alten Sängers in uns auf’s Neue erwecken; denn Gottfried ist werth, daß sein Lorbeer durch die Jahrhunderte hindurch zu uns herüberleuchte, und mit gerechtem Stolze können wir auch auf ihn das Dichterwort anwenden:

„Er war unser“.

E. Z.



Zur Abstammungslehre.[1]
Der Thiere Ahnenreihe.

Darwinismus? Der Mensch ein Fortschrittsaffe? Wehe! – Sollte denn aber wirklich die ganze sittliche Weltordnung zu Grunde gehen, wenn, wie die Wissenschaft durch die Lamarck-Darwin’sche Umwandelungslehre bewiesen hat, die Thiere, welche bis jetzt auf unserer Erde gelebt haben und noch leben, vom Schöpfer nicht gleich und für immer als solche, welche sie eben sind (und zwar von jedem Thiere ein Männlein und ein Weiblein) und zu gleicher Zeit (im Paradiese) geschaffen wurden, sondern wenn sie sich ganz allmählich, in Jahrmilliarden, aus- und hintereinander, die vollkommeneren immer erst aus ihren weniger vollkommenen Vorfahren, hervorgebildet haben? Würde der Schöpfer in seiner Allmacht und Allweisheit wirklich herabgesetzt, wenn man ihm nachsagte, daß er in ein kleines unsichtbares Bläschen, in eine sogenannte Zelle, die Fähigkeit gelegt hätte, daß sich aus dieser, durch Vermehrung und Verwandlung ihrer Bestandtheile, nach und nach alle und zwar immer vollkommner werdenden Geschöpfe hervorgebildet hätten? Ja, wäre es im Gegentheile nicht eine grobe Vermenschlichung des Schöpfers, demselben zuzutrauen, daß er, um Vollkommenes zu schaffen, vorher, gewissermaßen zur Probe, erst Unvollkommenes geschaffen und dann wieder vernichtet hätte? – Sollten denn wirklich Moral und Sittlichkeit, Staat und Gesellschaft gefährdet sein, wenn, wie die Wissenschaft lehrt, die Wirbelthiere aus den Wirbellosen und zwar aus Würmern oder Mantelthieren, die Vögel aus den Reptilien, die Säugetiere aus den Amphibien sich entwickelt haben? oder wenn die luftathmenden Lungentiere aus den wasserathmenden Kiementhieren, wenn Kopfträger aus Kopflosen und wenn schwanzlose Thiere aus geschwänzten, durch allmähliche Umbildung von Organen, hervorgegangen sind? – Sollte es wirklich für den Menschen, der doch nach der mosaischen Schöpfungsgeschichte als „Erdenkloß“ erschaffen wurde, sehr entwürdigend sein, daß er vor seinem Eintritte in die Welt (als Embryo), wo er ganz dieselben Umhüllungen und Ernährungsapparate wie die höheren Säugethiere besitzt (nämlich Amnion, Allantois, Decidua, Placenta), vorübergehend thierische Bildungen an sich trägt? – daß er z. B. wie die meisten Thiere eine Zeitlang einen Schwanz hat, daß er während einer kurzen Zeit die den Vögeln, Amphibien, Reptilien und Schnabelthieren eigenthümliche Cloake und den beim Affen zeitlebens vorhandenen Zwischenkieferknochen (in welchem die vier oberen Schneidezähne stecken und der von Goethe beim Menschen nachgewiesen wurde) besitzt, – daß ihm wie den Fischen Kiemenbögen zukommen, – daß man ihn zu einer bestimmten Zeit seines Embryolebens nicht von einer Schildkröte, einem Huhne, einem Hunde, einer Eidechse oder einem Karpfen zu unterscheiden im Stande ist, – und daß seine kunstvolle Hand während ihrer Entwickelung der groben Pfote des Hundes, dem zierlichen Flügel des Huhns und dem plumpen Vorderbeine der Schildkröte ganz ähnlich ist?

Sollte der Mensch denn wirklich etwas ganz Absonderliches

  1. Nicht ohne Wehmuth übergeben wir den obigen Artikel der Oeffentlichkeit. Es ist der letzte, der aus der Feder unseres Bock geflossen ist, und er beweist so recht, wie viel Klarheit und unbeirrte Ueberzeugungstreue mit dem Heimgegangenen eingesargt wurde. D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_007.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2018)