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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Meerastern bewachsenen Anhöhe der preußische Adler an einer halb zerfallenen Hütte prangte, die sich nur durch dieses preußische Wappen von den übrigen Wohnungen des Dorfes unterschied. Hinter dem Hause, fünfzig Schritte vom Meere, standen die einzigen Bäume des Ortes, zwölf Föhrenbäume, die wahrscheinlich noch aus der Zeit stammten, wo die ganze Landzunge mit Wald bewachsen war, während jetzt nur noch die Strecke von Hela bis Heisternest mit Wald bestanden ist. Diese letzten Zwölf von dem Regimente, das früher die Halbinsel vor dem Versanden geschützt hatte, neigten sich alle gegen Sonnenaufgang, denn die gewaltigen, oft wehenden Westwinde lassen keinen ungeschützt dastehenden Baum gerade aufwachsen. Ja, die fast immer wehenden Winde, die sich oft zum Sturme, mehrmals im Jahre auch zum Orcane steigern, sind eine Eigenthümlichkeit der Halbinsel. Ich getraue mir zu behaupten, daß alle Windmüller des deutschen Reiches auf mehrere Jahre versorgt wären, wenn unter sie der Helaer Wind Eines Jahres vertheilt würde; ja, ich spreche aus Erfahrung, man weiß wirklich nicht, wie man sich benehmen soll, wenn einmal ein windstiller Tag über Hela angebrochen ist, und wie Ossian von einem Tura der Winde spricht, so könnte ein späterer Ossianide mit vollem Rechte von einem Hela der Winde sprechen.

Unter diesen Bäumen hingen die Fischernetze, standen die Wiemen (Gerüste zum Trocknen der Fische), und hier versammelten sich auch die Väter von Hela, um ihr Thing zu halten, weil da mehr Raum und Kühle war, als in dem Wohn-, Schlaf-, Handwerks- und Viehzimmer des Schulzen. Auch die Weiber waren mitgekommen, denn es ist eine weitere Eigenthümlichkeit der Stranddörfer, daß das schwache Geschlecht (das aber trotzdem sehr oft die härteste Arbeit beim Fischfange oder bei den Meerfahrten nach Danzig auf seine Schultern nimmt) dem starken Geschlechte in solchen Versammlungen zur Seite steht.

Solche Schulzenversammlungen waren wohl schon manchmal stürmisch gewesen; manchmal schon waren die Leute (Geister kann man nicht sagen) aufeinandergeplatzt und hatten polnische Reichstage im Kleinen in Scene gesetzt; – aber heute sollte es schlimmer kommen und tragischer enden. In Ceynowa wohnte nämlich ein Quacksalber, Namens Kaminsky, der im Dorfe selbst als ein Hochgelehrter galt, weil er lesen und schreiben konnte, der aber auch für die übrigen Dörfer der Landzunge ein medicinisches Orakel war, weil er einige Schwindelcuren gethan und bei den Kranken stets mit lateinischen Brocken um sich warf, die er bei dem täglichen Besuche des katholischen Meßgottesdienstes aufgeschnappt hatte und nun in seine Reden einflocht.

Wenn auf der Halbinsel Jemand krank war, so ging man nicht zu dem ordentlichen Arzte nach Putzig, wie’s die Leute hätten thun sollen nach Sirach, Cap. 38, sondern man sagte: „Laßt uns gehen zu dem Wunderdoctor nach Ceynowa!“ gerade wie man zu Samuel’s Zeiten sprach: „Kommt, laßt uns gehen zu dem Seher gen Ramath!“

Besagter Aesculap, der Herr „Doctor“ (wie ihn seine Gläubigen nannten), hatte damals einen Kranken im Dorfe, bei dem seit langer Zeit die verordneten Arzneien und die gesprochenen lateinischen Floskeln nicht anschlagen wollten, der aber in Folge seiner kräftigen Constitution trotz der Curen und Mixturen des Katzendoctors (wie ihn die aufgeklärten Putziger nannten) ebensowenig sterben wollte. Damit nun sein Ruf als Arzt nicht leide und damit das Vertrauen in seine Geschicklichkeit nicht erschüttert werde, erklärte Kaminsky mit an die Nase emporgehobenem Rohrstocke einigen Ceynowensern, daß hier weder er, noch Hufeland oder Schönlein zu helfen vermöge, da der Kranke offenbar behext sei; ja, er vertraute ihnen auch noch unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß die Frau, welche morgen zuerst die Schulzenversammlung verlassen würde, unbestritten die Uebelthäterin sei.

Als nun eine Fischerfrau, die sonderbarer und ominöser Weise den Namen „Zeinowa“ führte, als die Erste aus der obenerwähnten Versammlung aufbrach, um ihr zu Hause gelassenes Kind zu säugen, wurde sie von den Vertrauten des Kaminsky gepackt und der ganzen Ortschaft als die Hexe vorgestellt, die seit längerer Zeit alles Unheil über Ceynowa gebracht habe. Freunde und Verwandte der Frau mochten doch wohl noch nicht ganz von deren Hexenthum überzeugt sein, und darum tödtete man sie nicht auf der Stelle; sondern beschloß sofort in der Versammlung, die Hexenprobe an ihr zu versuchen. Sank sie im Meere nicht unter, so war sie gewißlich eine Hexe, und man konnte sie also mit gutem Gewissen und mit vollem Rechte erschlagen; sank sie aber unter und ertrank, so war sie doch wahrscheinlich eine Hexe, denn die höhere Gerechtigkeit hatte sie ereilt. Das war die Logik der letzten Hexenrichter Europas, dieser stupiden, entmenschten Peninsulaner, welche, obgleich sie den von Heinrich Krämer, Jakob Sprenger und Johann Gremper 1489 verfaßten Hexenhammer nicht gelesen hatten, doch wußten, daß die Ceynowa’sche eine wirkliche Hexe sei. Man schritt also zum Gottesurtheile, bemannte ein Boot, warf die Unglückliche hinein und stürzte sie auf hoher See über Bord. Die auf der Landzunge üblichen starken, wollenen Weiberröcke erhielten das Schlachtopfer einige Minuten über Wasser; diese Minuten aber genügten, um den Unholden den Beweis zu liefern, daß sie es hier in Wahrheit mit einer Hexe zu thun hätten; unbarmherzig wurde mit Rudern auf sie losgeschlagen, die ihrerseits erbärmlich um Hülfe und Gnade schrie, sich in ihrer sinnverwirrenden Todesangst für schuldig bekannte und dem Kranken bis nächsten Mittag sein Gebreste wieder abzunehmen versprach. Aber mit jedem Angstschrei der Ertrinkenden steigerte sich die Wuth ihrer Henker, verdoppelten sich die Schläge; dabei aber ließen sie mit raffinirter Grausamkeit die dem Tode Geweihete nicht untersinken – da bekanntlich eine Hexe auf dem Meere nicht sterben kann – sondern, um sicher zu sein, daß sie auch wirklich ihre schwarze Seele aushauchte, rissen sie die Frau wieder in’s Boot hinein, fuhren zu Land und schleppten die fast Leblose an den Strand, um sie da für immer unschädlich zu machen.

Die ganze christliche Gemeinde von Ceynowa sah nun zu, wie die vom Teufel Besessene mit Rudern niedergeschlagen, mit Fäusten und den Absätzen der schweren Fischerstiefeln so lange bearbeitet wurde, bis auch die letzte Spur von Leben aus der zerstampften, zuckenden Hülle gewichen war. Ob die Geistlichkeit diese Teufelsaustreibung für eine gottesgefällige That ansah und schwieg, oder diesen Beweis des Glaubens für einen zu schroffen hielt und anzeigte, das habe ich nicht erfahren können; das aber weiß ich, daß das Gericht in Putzig sich der Sache annahm, die Betheiligten verhaften ließ und dieselben je nach dem Maße ihrer Schuld und Betheiligung zu fünf bis zwanzig Jahren Zuchthaus verurtheilte. Das Kind der Zeinowa, das damals die unschuldige Ursache am Tode der Mutter war, lebt jetzt als Arbeitsmann in Putzig und heißt Bernhard Zeinowa. Der zeitige Besitzer von Ceynowa, Herr von Below auf Rutzau, hatte nach den damaligen Gesetzen, wegen Insolvenz der Ceynowaer, sämmtliche Gerichtskosten, sechshundert Thaler, zu bezahlen, und war froh, als er später sein Patronat über diesen ihm so theuer und verabscheut gewordenen Ort durch Verkauf einem Andern übergeben konnte, dem Gutsbesitzer Herrn Schönlein auf Rekau.

Ich könnte hier schließen. Aber nein, die Geschichte ist noch nicht aus. Unter den Mördern der Zeinowa hatte sich einer, Jacob Mrauczeck, durch seine Rohheit und Wildheit bei dem Lynchen besonders hervorgethan. Er war es gewesen, welcher dem armen Weibe den Brustkasten zertreten und damit ihr den Todesstoß gegeben hatte. Er hatte einen ungemessenen Ehrgeiz; wie den Themistocles der Ruhm des Miltiades nicht schlafen ließ, so trachtete er nach dem höchsten Amte in seinem Heimathsdorfe. Durch eine kühne oder außerordentliche That hoffte er eher an das Ziel zu gelangen und sich wie ein zweiter Herostratus zu verewigen, und bei der Hexenprobe bot sich ihm eine günstige Gelegenheit. Aber ich meine, wenn sich Einer mit aller Gewalt verewigen will, da ist es denn doch noch besser, wenn er seinen Namen wie Kiselack an die Gletscher des Montblanc und Monte Rosa schreibt; noch besser freilich ist es, wenn Einer ein geistlich Lied dichtet und in den Anfangsbuchstaben oder -Wörtern der einzelnen Verse seinen Namen hinstellt, wie z. B. Heinrich Müller in dem Passionsliede: Hilf Gott, laß mir’s gelingen etc. oder Herberger in dem Sterbeliede: Valet will ich dir geben etc. oder endlich Casimir, Markgraf zu Brandenburg, in dem Dankliede: Capitan, Herr Gott, Vater mein etc. Die beste Art jedoch sich zu verewigen scheint mir zu sein, daß man recht und schlecht lebt wie Hiob, der Mitwelt nach Kräften nützt, seine Stelle im Leben ausfüllt, einen guten Nachruf hat, und der Nachwelt etwas hinterläßt, von dem sie noch zehren kann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_193.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)