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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


verkehrte viel mit den neuen Freunden und Freundinnen in Darmstadt, Gießen und Homburg. Es war ja die Zeit der Freundschaftlerei, der Schwarm- und Starkgeisterei, der Mondscheingefühle, der Ossian’schen Seufzerlaute und der Lorenzodosen. Unter den Freundinnen, mit welchen Goethe an den erwähnten Orten mehr oder weniger schwärmte, befanden sich Karoline Flachsland, Herder’s Braut, und zwei aus Empfindsamkeit und Migräne zusammengepappte Homburger Hofdamen, welche unter ihren Freunden Lila und Uranie hießen und von denen die erstere ein weißes Lämmchen am himmelblauen Bande als Wahrzeichen mit sich herumzuführen pflegte. Die Goethe’schen Lieder „Felsweihe“, „An Psyche“, „An Lila“, „An Uranie“, „Elysium“ sind durch diesen Verkehr, zu welchem der gute Merck mitunter allerdings sarkastisch-mephistophelisch gesehen haben mag, angeregt worden. Karoline Flachsland schrieb an ihren Verlobten, Goethe habe den Freunden in Darmstadt Scenen aus seinem Götz von Berlichingen vorgelesen und „stecke voller Lieder“, worauf Herder gnädigst erwiderte, der Goethe sei ein „wirklich guter Mensch“, aber doch „äußerst leicht und viel zu spatzenmäßig“. Was der Griesgram Herder, der es sein Lebenlang nie vermochte, unserem Dichter, welcher doch als ein rechter Freund an ihm gehandelt hat, volle Anerkennung zu zollen, unter Spatzenmäßigkeit eigentlich verstanden habe, wird uns nicht gesagt.

Im April 1772 lernte Goethe in Darmstadt auch die damals gefeiertste deutsche Autorin kennen, Frau Sophie von La Roche, die Jugendgeliebte Wieland’s, Verfasserin des Romans „Das Fräulein von Sternberg“, welcher zu jener Zeit so berühmt gewesen, wie nur irgend ein Roman von heutzutage sein mag, aber seine Bestimmung, d. h. sein Verschwinden im Maculaturkorb der Literarhistorie, welches ja den berühmten Romanen von heutzutage auch bevorsteht, bereits glücklich erfüllt hat. Sophie, auch ein Stück Sturm und Drang, und zwar ein schönschwarzäugiges, sehr liebebedürftiges, hatte ihre Tochter Maximiliane mitgebracht, welche etwas später einen bedeutenden Eindruck auf Goethe machte und vom Schicksal ausersehen war, einem Frankfurter Urphilister einen der größten Phantasten und eine der größten Phantastinnen, welche die Welt je gesehen, zu gebären: den Clemens und die Bettina Brentano. Endlich schwarmgeisterte und freundschaftelte in dem Darmstädter Kreise auch jener Michel Leuchsenring mit seiner ewigen Briefmappe herum, welchen Goethe unlange darauf als „Pater Brei“ in seinem also benamseten Fastnachtsspiel nicht gerade schmeichelhaft, aber desto naturwahrer abconterfeit hat, als womit er einen recht ergötzlichen Beitrag zur moralischen Krankheitsgeschichte jener Tage lieferte.

Der gute Herr Johann Kaspar hatte derweil wieder mehr als einmal Ursache gehabt, über den Herrn Sohn bedenklich den Kopf zu schütteln und zu meinen, die Juristerei müßte demselben doch von Rechtswegen die Hauptsache sein und dürfe nicht so, wie leider augenscheinlich geschah, von den Allotriis, als da seien Vagiren und Poetisiren, in den Hintergrund gedrängt werden. Der sorgsame Vater that also wieder einmal einen pädagogischen Ruck und erinnerte unsern Sausewind von Wolfgang daran, daß es Brauch für junge Juristen, eine Weile beim Reichskammergericht zu Wetzlar (bandwurmigen Andenkens!) zu prakticiren, um sich in den „Reichsproceß“ einzuschießen, was schlechterdings rathsam und nothwendig, so man sich für eine höhere juristische oder auch diplomatische Laufbahn qualificiren wollte. Dem Wolfgang lag an dieser Qualification sicherlich blutwenig oder gar nichts, aber warum sollte er dem Vater nicht den Gefallen thun? Eine Luftveränderung konnte jedenfalls nichts schaden, und er durfte ja mit Bestimmtheit erwarten, in Wetzlar einen Kreis von Altersgenossen zu treffen, welche gerade so wie er beflissen sein würden, sich in den salva venia vermaledeiten Reichsproceß einzuschießen und zu Rechtslichtern oder Diplomatiephänomenen zu qualificiren. Demzufolge finden wir den Dichter im Mai von 1772 als „Praktikanten“ in Wetzlar, wohin er seinen Götz (in der ersten Gestalt) fertig mitgebracht hatte. Es war dies so zu sagen die Einführungskarte, welche den Wolfgang in dem Kreise von richtig in Wetzlar vorgefundenen Mitpraktikanten sofort in die Mitte und um verschiedene „Fuß“ höher stellte.

Goethe’s Götz von Berlichingen ist eine jener dichterischen Kraftgeburten, welche den Aufgang neuer Epochen in der Literatur eines Volkes markiren. Das eigenste Wesen einer Nation athmet, der volle Herzschlag einer Zeit pulsirt in solchen Hervorbringungen. Es ist elementare Poesie darin, darum wirken sie mit der Macht von Naturgewalten auf die Gemüther der Zeitgenossen. Alle irgendwie Empfänglichen spüren den unwiderstehlichen Anhauch von Ursprünglichem, Eigenwüchsigem, Nochnichtdagewesenem. Alle Fühlenden finden sich erfrischt, alle Wissenden erkennen, daß der Genius ihres Landes wieder einmal wohlthätig sich geoffenbart habe. So wirkte der Götz erst auf engere und weitere Kreise, welchen der Dichter aus der Handschrift vorlas; dann, nach Veröffentlichung des Werkes, auf weiteste, auf die Nation und bald auch auf die Fremde. Erinnern wir uns zum Beispiel nur, daß einer der gesundesten und wirkungsreichsten Dichter unseres Jahrhunderts, Walter Scott, sein bewunderungswerthes Talent zuerst mit dem Goethe’schen Götz genährt hat. Es ist fernerweit eine Eigenheit derartiger Meteore der Poesie, daß vom Standpunkt strenger Kunstform manches, vieles, vielleicht sogar alles an ihnen ausgesetzt werden kann. Und das paßt nun auch auf den Götz. Denn er gibt sich für ein Drama, ist aber keins, obzwar die einzelnen Scenen von dramatischem Leben schwellen und die Charaktere mit plastisch-dramatischer Bestimmtheit sich zu und gegen einander stellen. Nein, als Drama ist das Gedicht nicht haltbar. Es fehlt der Hauptfigur an dramatischer Entwickelung: der gute Götz ist in der ersten Scene genau das, was er in der letzten ist, und umgekehrt.

Es fehlt auch die dramatische Knotenschürzung und Knotenlösung, denn die Verwickelung zwischen Weislingen, Maria und Adelheid läuft eigentlich nur episodisch nebenher und ist mit der Haupthandlung in keinen recht organischen Zusammenhang zu bringen. Aber der Götz bekommt, so zu sagen, ein ganz anderes Gesicht, wenn wir ihn als dramatisirte oder vielmehr dialogisirte historische Novelle nehmen, was ja die „Historien“ Shakspeare’s großentheils auch sind. Da haben wir denn ein ebenso ursprüngliches als echtdeutsches Werk vor uns. Echtdeutsch in seinem innersten Kern, weil der Hauptaccent auf die Freiheit der Persönlichkeit gelegt ist. Das ist die Bedeutung der Gestalt des Götz, welcher daran zu Grunde geht, daß er die Berechtigung des altgermanischen Individualismus und Particularismus den Forderungen des im Aufgange begriffenen modernen Staates gegenüber aufrecht halten will. Zugleich veranschaulicht die Götz-Figur deutlich, mit was für einer souveränen Macht unser Dichter schon im Beginne seiner Schöpferthätigkeit dem Realen den Stempel des Idealen aufzudrücken vermochte. Denn der gute Götz war in der historischen Wirklichkeit doch eigentlich nur ein ordinärer Junker, ja nicht viel besser als der nächste beste Raubritter. Sowie aber ein Strahl des Goethe’schen Genius auf ihn fiel, erschien er im Nimbus eines nationalen Helden. So ein Verklärungswunder zu thun ist das Recht des Genies. Ganz Aehnliches that z. B. Byron an seinem Sardanapal, indem er dem verrufenen Weichlinge der assyrischen Legende unsere innigste menschliche Theilnahme zu gewinnen wußte. Besonders hervorzuheben ist noch die Meisterschaft, womit im Götz die Volksscenen greifbar realpoetisch behandelt sind. Wie diese Bauern, Wirthe, Soldaten und Zigeuner vor unseren Augen leben und weben! Unser Dichter hat so etwas nur noch im „Egmont“ und in „Hermann und Dorothea“ wieder erreicht. Auch Stimmung und Ton der Sturm- und Drangzeit, wie sie zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts waren, sind prächtig getroffen, und was den Stil angeht, so hat derselbe die Sprache der Kraftgenieperiode des achtzehnten Jahrhunderts zu classischer Unvergänglichkeit ausgeprägt. Aus alledem erhellt, daß und wie elektrisch der Götz bei seinem Erscheinen in die Gemüther der Zeitgenossen einschlagen mußte. Hier war, was mehr oder weniger alle Gebildeten der Nation bewegte, bedrängte, bestürmte, durch einen Auserwählten mit hinreißender Kraft und Gewalt ausgesprochen. Hier war der allgemeine Freiheitstrieb, welcher in der Gesellschaft von damals gohr, mit der nationalliterarischen Emancipationstendenz genialisch verbunden. Von jeder Seite der Goethe’schen Dichtung rief es den Deutschen zu: „Ihr seid etwas, Ihr könnt etwas! Habt nur den Muth, etwas zu wollen!“ Lessing’s „Minna von Barnhelm“ war der Morgenstern, Lessing’s „Emilia Galotti“ das Morgenroth unserer großen Literaturperiode; mit dem Erscheinen von Goethe’s „Götz“ aber hob sich die Sonne unserer Classik am Horizont empor.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_291.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)