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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Gartenlaube ihren einzigen ärztlichen Berather haben. Als ich jüngst im hiesigen neuen Rathhause bei dem Feste, welches die Stadt Berlin dem ersten deutschen Reichstage gab, von der Höhe der großen Treppe auf die Festversammlung, welche sich zu den Erfrischungssälen hinaufbegab, hinsah und in dieser Gemeinschaft edelster Männer jedes zweite Haupt glänzend kahl fand, da mußte ich, wie schon so oft bei ähnlicher Wahrnehmung in großen Versammlungen, des Satzes denken, den der alte schlesische Schulrath Menzel, ein würdiger Mann, in seiner Geschichte der Deutschen an die Spitze der Vorrede gestellt hat: „Unsere Voreltern behielten, wie die alten römischen Schriftsteller berichten, ihre Haare und ihre Zähne bis in’s hohe Alter unversehrt!“ Und heute? Ist unser Geschlecht entartet? – Wahrlich nicht! In der zweitausendjährigen Geistesarbeit, die wir vollbracht haben, hat unsere Organisation in ihrem Grundwesen keine Erschütterung erfahren – nur äußerlich etwas zerzaust haben uns die Kämpfe.

Ich habe die Ueberzeugung, daß die möglichst vielseitige Beachtung meiner hier gegebenen Rathschläge der heranwachsenden Generation ein dauerhafteres Kopfhaar schaffen wird, als wir haben. Man vermeide die angegebenen Entstehungsursachen der chronischen Haarleiden, so weit dies möglich ist, und wo man Gefahr fürchtet, da zähle man, wie ich in dem früheren Aufsatze angegeben habe, den Haarausfall. Das Zählen ist mühsam, lieber Leser, sehr mühsam! das weiß ich sehr wohl – aber es steckt die Mühe zwölfjährigen Zählens und Untersuchens mehrerer Hunderttausende von Haaren in dem Gesetz, das ich Dir angegeben habe: „in der Norm darf bei lang getragenem Haar nie mehr als der vierte Theil des Haarausfalls unter sechs Zoll messen,“ und es steckt die Arbeit von acht Jahre hindurch fortgesetzten vielen Tausenden von Versuchen in dem Medicament, welches ich Dir am Schlusse dieses Aufsatzes rathen werde. Ich sage Dir das nicht, um einen besondern Dank von Dir einzuernten, denn, so schwer meine Arbeit gewesen ist und noch ist, ich denke nicht gar zu groß von ihr. Vielmehr sage ich Dir das, weil ich es Dir sehr angelegentlich an’s Herz legen will, für Dich oder Deine Kinder auch Deinerseits die Mühe nicht zu scheuen, um Dich und sie zu bewahren, damit es Dir und ihnen nicht ergehe wie mir, der ich erst durch einen Schaden, welchen ich hinterher nicht wieder gut machen konnte, klüger geworden bin.

Sobald nun die Zählung ergiebt, daß der erste Beginn eines chronischen Haarleidens vorhanden ist, so rathe ich zu folgendem Medicament: Zwei bis vier Gramm (ein Achtel bis ein Viertel Loch) doppeltkohlensaures Natron werden in hundertachtzig Gramm (zwölf Loth, anderthalb kleine Kaffeetassen, zwölf Eßlöffel) destillirten Wassers oder durch ein engmaschiges Leinentuch filtrirten Regen- oder Flußwassers aufgelöst und davon bei sehr zarten Personen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen der Woche, bei Personen von sonst gutem Befinden an drei oder vier aufeinanderfolgenden Tagen der Woche ein bis zwei Eßlöffel voll mit einem recht weichen Haarpinsel oder einem kleinen Schwamm recht sorgfältig und andauernd, aber nicht rauh, in die Kopfhaut (besonders in den Vorderkopf und Mittelkopf – dies sind die am meisten gefährdeten Gegenden) eingerieben, so daß möglichst viel von der Flüssigkeit auf die Haut (nicht blos auf die Haare) kommt (man macht zu dem Zwecke, besonders bei langem Haar, an verschiedenen Stellen einen Strich mit dem Kamme); darauf werden Kopfhaut und Haare recht sorgfältig mit einem weichen, dünnen Tuche trocken gerieben und der Kopf die nächste Stunde vor Erkältung behütet. Die Einreibung kann zu jeder Tageszeit vorgenommen werden. Die übrigen Tage der Woche (Pause-Tage) wird das Haar in der sonst gewohnten Weise frisirt. Am ersten dieser Pause-Tage wird in die Kopfhaut und das Haar etwas Oel, von dessen Güte man sich vorher durch Riechen überzeugt, eingerieben. Schon nach wenigen Wochen wird eine Abnahme des täglichen Haarausfalls eintreten.

Die Arznei wird fortdauernd (fünf bis zwölf Monate) in der angegebenen Weise angewendet, bis die fortgesetzte Haarzählung ergiebt, daß die kurzen Haare zwischen einem Fünftel und einem Viertel des Gesammtausfalls ausmachen; dann wird einen Monat lang in jeder Woche um einen Tag weniger eingerieben (also ein bis drei Mal pro Woche). Wer nun für die Woche noch mehr als einen Einreibungstag hat, läßt jeden Monat einen weitern Tag pro Woche ausfallen. Ist man bis zu einem Tag für die Woche angelangt, so wird die nächsten drei Monate die Einreibung nur alle vierzehn Tage einmal angewendet! Damit ist die Cur beendet; sie dauert in der Regel zwölf bis achtzehn Monate. „Lange Zeit!“ sagst Du, lieber Leser – aber scheue die Ausdauer nicht! Ermüde nicht! denn es ist etwas Schönes, das Haupthaar bis in’s hohe Alter sich zu bewahren.

Nach Beendigung der Cur prüfe man von Zeit zu Zeit wiederum den Haarausfall: kurzdauernde Störungen brauchen nicht zu beunruhigen; sie sind Folge vorübergehender Reizzustände und schwinden von selbst; treten hingegen nach längerer Zeit wieder andauernde Abweichungen von dem normalen Verhältniß ein, so kehre man für zwei bis drei Monate zu dem Curverfahren zurück; gewöhnlich genügt es alsdann, wenn man für die erste Woche nur zwei Einreibungstage ansetzt und im zweiten Monat auf einen Tag herabgeht. Sehr selten (und dies fast nur bei sehr bedeutender erblicher Anlage) ist es nöthig, noch eine dritte Cur von gleicher Dauer eintreten zu lassen.

Ist die Kopfhaut sehr spröde oder die Schüppchenbildung sehr reichlich, so setze man der Arznei einen Eßlöffel voll reines Glycerin aus einer guten Droguenhandlung oder einer Apotheke hinzu. Selbstverständlich meide man, soweit dies angeht, die oben angegebenen Krankheitsreize, sowohl die directen auf die Kopfhaut als auch die auf die entfernteren Organe.

Hat die Familie einen Hausarzt, so theile man ihm die Absicht, die Cur anzuwenden, mit; es sind zuweilen wegen gewisser Eigenthümlichkeit der Constitution (Neigung zum Rheumatismus, nervöse oder Congestions-Kopfschmerzen) kleine Abweichungen von der angegebenen Methode nöthig, oder es ist die gleichzeitige Verabreichung innerer Medicamente erwünscht (bei Bleichsucht, bei chronischem Magenkatarrh); der Hausarzt wird gewiß gern die angemessenen Anordnungen treffen. Ich habe meine Behandlungsmethode bereits vor fünf Jahren in einem medicinischen Journal veröffentlicht, das ebenso wie dieses Blatt über den civilisirten Erdkreis verbreitet ist;[1] vielen Collegen wird daher mein Vorschlag bekannt geworden sein und sie werden gewiß gern mit ihrem Rathe zur Seite stehen; nur muß ich bitten, daß man dem Collegen nicht zumuthe (was thatsächlich ihm oft zugemuthet worden ist), den täglichen Haarausfall selbst zu zählen; das ist keine Arbeit für den Arzt und selbst, wenn er sich ihr unterziehen möchte: er hat keine Zeit für dieselbe.

Auf eine Nebenwirkung meiner Curmethode will ich noch aufmerksam machen, weil sie die Patienten zuweilen beunruhigt: das angewendete Medicament verändert nämlich in manchen Fällen die Farbe des Haares, es giebt ihr einen schwachen Stich in’s Röthlich-Blonde. Manchen ist diese Veränderung ganz erwünscht, die Meisten indeß ziehen ihre natürliche Farbe vor. Ich bemerke hierauf: wenn die Flüssigkeit nach dem Einreiben recht sorgfältig abgetrocknet wird, tritt die Veränderung der Haarfarbe gar nicht ein oder wird sehr unerheblich, und auch wo das sorgfältige Abtrocknen unterbleibt, tritt wenige Monate nach Beendigung der Cur die ursprüngliche Farbe unverändert wieder hervor.

Aber wohlgemerkt: die angegebene Heilmethode ist nur für das erste Stadium der chronischen Haarkrankheiten berechnet. Sobald hingegen bereits im Verlaufe mehrerer Jahre, also ganz allmählich eine sichtbare Verdünnung des Haarbodens eingetreten ist (zweites Stadium), sobald mithin die Veränderungen der Kopfhaut bereits erhebliche geworden, liegt eine schwerere Krankheit vor, die ich noch niemals in vollständige Heilung habe übergehen sehen. Nach meiner Meinung kann es sich für diese Fälle nur darum handeln, den Verlauf des krankhaften Processes zu verlangsamen, aufzuhalten, und hier ist, wie ich am Ende meines ersten Aufsatzes deutlich zu machen suchte, eine beständige Behandlung durch den Arzt nöthig, weil sich allgemeingültige Vorschriften nicht geben lassen.[2]

Und wenn Dein Arzt Dir sagt, er könne Dir nicht helfen, so bescheide Dich damit und gehe nicht zu einem Nichtsachverständigen,

  1. Virchow’s Archiv für pathologische Anatomie und klinische Medicin.
  2. Ich habe in Folge meines ersten Aufsatzes eine große Anzahl Briefe durch die freundliche Vermittlung der Redaction erhaltet; – die meisten erheischten Hülfe für einen sehr vorgeschrittenen Grad des zweiten Stadiums; ich habe diese letzteren Briefe unbeantwortet lassen müssen, nicht aus Mangel an Menschenfreundlichkeit gegen den Hülfe Suchenden, sondern in Folge der vorhandenen Unmöglichkeit, die gewünschte Hülfe zu gewähren. Wo ich glaubte, nützen zu können, habe ich geantwortet. Freundlichen Dank Denjenigen, welche durch Einsendung besonders beschaffener oder besonders langer Haare meine Sammlung bereichert haben.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_427.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)