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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

alle Deutschen auf des Erdballs Runde, insonderheit aber alle deutschen Jungfrauen!" hinaus in die feierlich stille Nordlandnacht.

Und nun zum Festmahle, Nordpolfahrer!

Rasch hatten wir die Geschenke weggeräumt und Teller und Gläser an deren Platz gestellt; hereingebracht wurden die dampfenden Schüsseln, die schlanken Flaschen mit dem edelsten Weine der Erde; und „wir erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“. Der Koch hatte sich selbst übertroffen. Manche Blechbüchse mit eingemachtem Gemüse und anderen heimathlichen Gerichten war auf diesen Tag aufgespart worden und fand heute Verwendung; außerdem aber gab es Walroßzunge, Schneehuhnfricasse, Renthierziemer und Moschusochsenbraten.

„Wirklich abscheulich ist es von Ihnen, Koldewey, daß Sie alle Moschusochsen aufgegessen haben. Sie hätten uns doch einen lebend mitbringen können. Ich freilich kann ihn nicht unterbringen; aber mein alter Freund Bodinus würde sich unendlich über solchen Zuwachs des neugeschaffenen Berliner zoologischen Gartens gefreut haben."

„Ging nicht, lieber Doctor, – das Kalb, welches wir lebend hatten, würde ebenfalls gegessen, wenn auch nicht an jenem Weihnachtsabende, sondern während der Schlittenreise, welche uns bis zum siebenundsiebenzigsten Grade führte. Hinzuzufügen habe ich meiner Erzählung, daß unser Gelage in der herrlichsten Feststimmung verlief. Wir hatten von durstwürdigen und trinkkundigen Männern aus Bingen eine Kiste mit edlem Rheinwein zum Geschenk erhalten, welche, für den heutigen Abend aufbewahrt, jetzt geöffnet worden war und eine Flasche nach der anderen spendete. Je tiefer sie sich leerte, um so mehr erfüllte uns der heitere Geist des Rheinlandes. Durch die geöffneten Thüren der Kajüte und des Logis war ein so enger Verkehr mit der Mannschaft hergestellt worden, daß eine Stimmung uns und sie beseelte, der Trinkspruch von unserem Tische drüben, das Lied von dort in der Kajüte widerklang. Hoch Deutschland, hoch König Wilhelm, hoch die deutsche Flagge, hoch die Spender des edlen Weines, die Lieben in der Ferne, Alle, welche heute unser gedenken! tönte es bei Gläserklingen von uns nach drüben hinüber und rief den Widerhall in gleichen Worten und Klängen wach, und ‚Wann i komm', wann i komm', wann i wied'rum komm’‘ klang es im Liede unter Citherbegleitung von drüben zu uns herüber, und wir und die Mannschaft, die Mannschaft und wir sprachen, sangen, dachten Dasselbe, wie wie gemeinschaftlich zu Ehren derselben Personen getrunken hatten. Waren es die Geister des Rheinweins, war es die herrlich stille Nacht, war es der heutige Festtag — ich lasse es unentschieden, woher es kam, daß es uns nicht mehr in den Räumen litt, sondern hinausführte in's Freie, um unserer Stimmung Raum zu geben. Als ob Oberon's Zauberhorn auf uns gewirkt hätte, trieb uns ein unwiderstehliches Verlangen zu – tanzen! Rasch wurde mit Schaufel und Besen ein Plan vom Schnee befreit und geebnet; der einzige Spielmann des Schiffes erhielt seinen Hochsitz auf dem Geweih eines Renthieres, und der Ball auf dem Polareise begann und nahm seinen Fortgang. In Ermangelung der besseren Hälfte unseres Geschlechtes walzte Jedweder mit seinem Nebenmanne; selbst der ernste Copeland drehte sich im lustigen Reigen — Angesichts der ewigen Sterne und möglicherweise einiger von fern her zuschauender Eisbären und Schneefüchse.

So ging es bis tief in die Nacht; trotzalledem aber sah man von Stunde zu Stunde ein einsames Lichtlein in wundersamen Bogenwindungen und Zickzacklinien dem Beobachtungsposten am Lande sich zuwenden und nach geraumer Zeit von da ebenso wieder zurückkehren; denn selbst in der höchsten Festfreude durften die wissenschaftlichen Beobachtungen nicht unterbrochen werdern. Und so mächtig auch Wein und Feststimmung wirken mochten, die Instrumente wurden richtig abgelesen; die Tabellen wiesen keine Lücke auf.

Erst um Mitternacht wurde Befehl zur Ruhe gegeben. Mit dem Gedanken, über’s Jahr im Vaterlande und in Gesellschaft der heute schmerzlich entbehrten Damen dasselbe Fest zu feiern, schliefen wir ein, um am anderen Morgen – Sie erlassen mir wohl dessen Schilderung! Denn auch Sie wissen sicherlich aus eigener Erfahrung, daß selbst im edelsten Weine Dämonen schlummern, welche wach werden, wenn die besseren Geister verschwinden und – sogar in der Nähe des Nordpols hat der Katzenjammer Macht über den sterblichen Menschen! Glücklicher Copeland, Dein würdiges Haupt hatte doch wenigstens nur theilweise von Haarweh zu leide!I Aber wir? Ach, es war fürchterlich!“

Ich warf, dem Erzähler einen mitleidsvoll beistimmenden Blick zu; verstand ich jedoch vollkommen, welch unsägliches Weh der erste Weihnachtstag über die heitere Gesellschaft gebracht, wie er aller Kunst des selbst kranken Arztes, aller Geschicklichkeit des Koches gespottet haben mochte.

„Und Sie, Hegemann?“

„Auch wir haben," begann dieser, „unseren Weihnachtsabend gefeiert; bei uns aber ging’s stiller her. Nachdem wir am sechsten September den letzten Versuch gemacht, mit der ‚Hansa‘ die Küste' zu erreichen, mußten wir uns wohl entschließen, im Eise zu überwintern. Die Scholle, an welcher unser Schiff lag, hatte ein und dreiviertel Seemeilen Durchmesser und eine geschätzte Stärke von etwa sechszig Fuß, erschien uns also sicher genug. Fünfhundert Schritte vom Rande errichteten wir aus gepreßter Kohle, sogenannten Kohlenziegeln, Mauern zum Winterhause, vermörtelten die Kohlenstücke mit Wasser, welches gefrierend einen festen Kitt bildete, und überdeckten die Wände anfangs mit Segeltuch, später mit Brettern. Das Haus war zwanzig Fuß lang, vierzehn Fuß breit und gegen sieben Fuß hoch. Ausgangs Septembers war es vollendet und mit Proviant für zwei Monate versehen. Schon Anfangs Oktobers deckte fußhoher Schnee Haus und Schiff.

Wir trieben bereits seit Anfang Septembers langsam, mit Beginn des October schneller nach Süden hinab. Am neunzehnten October waren wir ungefähr eine deutsche Meile von der Liverpool-Küste entfernt. Unsere Scholle wälzte sich, getrieben von einem heftigen Sturme, am Landeise dahin. Andere Schollen thürmten an ihr, am Landeise sich in die Höhe und hoben schließlich auch die ‚Hansa‘ zwanzig Fuß empor. Das arme Schiff krachte in allen Fugen, so furchtbar, daß in uns kein Zweifel aufkommen konnte über sein endliches Schicksal. Mit allen Kräften brachten und warfen wir Geräthschaften und Proviant auf das Eis. Ein Glück, daß wir gerade beschäftigt waren, letzteren umzustauen, und ihn zur Hand hatten — einige Tage früher oder später wäre er für uns verloren gewesen. Auch heute hatten wir wenig Zeit. Um Mittag war das Schiff gehoben worden; gegen drei Uhr Nachmittags ließ die Pressung nach, und mit schwerem Leck sank die ‚Hansa‘ in ihre Lage zurück. Eine Eiszunge unter dem Kiel hielt sie noch in einer gewissen Höhe über dem Wasser; brach diese ab, so mußte sie verloren sein. Die Pumpen versagten ihren Dienst; das Wasser gefror in den Ausflußröhren und auf dem Deck vor dem Abfließen. Wir retteten, was zu retten war, zuletzt auch Masten und Raaen, um genügendes Brennholz zu haben. Aus Furcht, daß das Schiff nicht allein jene Eiszunge, sondern auch denjenigen Theil der Scholle, auf welcher der gerettete Proviant noch lag, abbrechen könnte, lösten wir endlich die Taue, an denen es noch hing; es neigte sich zur Seite, schwankte hin und her und sank vollends während der Nacht in die Tiefe hinab.

Am zwanzigsten October bezogen wir das Haus und schliefen zum ersten Male in ihm. An Trinken war heute nicht zu denken; zum Kochen gab es keine Zeit, und so blieb denn nichts Anderes übrig, als zum Schiffszwieback gefrorenen Wein zu essen. Die Kälte von -20 Grad, welche im seinem Innern herrschte, sank zwar, nachdem die Oefen angeheizt worden waren, nach und nach bis auf -5 Grad Réaumur; doch verbrachten wir eine sehr unruhige Nacht in der neuen Wohnung, weil uns das damals noch ungewohnte Dröhnen des Eises störte und beängstigte. Die nächsten vierzehn Tage vergingen unter beständiger Arbeit, behufs besserer Einrichtung des Hauses, welches nach und nach so wohnlich als möglich gemacht wurde, obgleich es noch immer wie eine Räuberhöhle aussah, da neben werthvollem Geräth die rohesten Kisten und Fässer standen. Anfangs Novembers lagen wir so tief unter Schnee, daß wir uns einen Gang von zwanzig Fuß Länge von der Thür aus in’s Freie bahnen mußten. Nach und nach wurde derselbe zu einem Stollen, welcher den eisigen Wind trefflich von der Thür abhielt, umsomehr, als er mit Absicht in Krümmungen angelegt worden war.

Wir trieben ununterbrochen nach Süden, bald langsamer, bald rascher, anfänglich so schnell, daß wir fürchten mußten, zu bald nach Cap Farewell, der Südspitz Grönlands, zu gelangen. Am 17. December überfiel uns bei nur drei bis vier Grad Kälte schwerer Sturm. Unsere Scholle erschütterte in ihren Grundfesten unter entsetzlichem Dröhnen und Knallen. Am nächsten Tage war die Sonne auch für uns, obschon blos für kurze Zeit, untergegangen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 877. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_877.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)