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einer stummen Kopfbewegung zu begrüßen, denn sie öffnet überhaupt nur selten den Mund. Kinder hat sie nicht gehabt. Ihre Schwester, ungefähr von gleichem Alter, war nie verheirathet und lebt bei ihr. Fräulein Dosne ist groß und muß bemerkenswerth schön gewesen sein. Sie ist eine seltsame Erscheinung, eines jener Gesichter, deren Linien durch ein geheimnißvolles Drama so heftig erschüttert worden zu sein scheinen, daß davon eine Art zitternder Bewegung zurückgeblieben, welche selbst die Zeit nicht zum Stillstand bringen konnte. Auch sie spricht ebensowenig, wie Frau Thiers. Man sieht, daß eine etwas frostige Luft in den Sälen des Hauses der Place St. Georges wehen würde, wären nicht Thiers und Frau Dosne, dessen Schwiegermutter. Diese Letztere ist nicht mehr jung, wie sich leicht denken läßt, aber sie hat keinen der Fehler an sich, durch die so oft das Alter unliebenswürdig wird. Wenn sie spricht, sieht man den Schnee der Jahre an der Wärme eines immer jungen Herzens schmelzen und die glänzenden Blumen eines ewigen Frühlings aufblühen. Es gelingt ihr, ihr Alter vergessen zu machen, wie sie es selbst gern vergißt. Ein Charakter aus dem Ganzen, äußert sie rückhaltlos ihre natürlichen Abneigungen. Der Kaiser gehört nicht zu ihren Freunden, und wenn Thiers, der wohl auch für ihn keine besondere Zuneigung fühlt, über Louis Napoleon gleichwohl in gemessenen Ausdrücken spricht, so ist dies bei der Schwiegermutter etwas ganz Anderes. Man muß, will man sie nicht stark erzürnen, sich wohl hüten, irgend etwas vorzubringen, das einem Lobe des Mannes vom 2. December entfernt ähnlich sähe. Einer meiner Freunde, der ungeschickt genug dies unbeachtet gelassen, hielt es für rathsam, durch die Flucht den Wirkungen des Zornes sich zu entziehen, den er erregt hatte. Frau Dosne ist auch in ihrem Anzug jung geblieben und zeigt sich gern im ausgeschnittenen Kleide.

Man trifft bei Thiers Vertreter aller Parteien an, mit Ausnahme der Bonapartisten, die freilich auch kaum eine Partei zu nennen sind. Man ist Bonapartist aus Brauch, nicht aus Ueberzeugung. Es war die volle Wahrheit, die Picard obwohl scherzend aussprach, als er am Büffet des gesetzgebenden Körpers einem Deputirten der Majorität die Worte zuwarf: „Bonapartisten! Wo sind sie denn? Kennen Sie welche?“ – Hin und wieder sieht man auch Demokraten, die sich durch den ultraaristokratischen Aufwand nicht haben abschrecken lassen, der sich von der Schwelle an in dem Hotel der Place St. Georges ankündigt. Beim Eintritt in das Vorhaus befindet man sich gegenüber vier prächtigen Lakaien in Frack, kurzem Beinkleid und in Schuhen mit Schnallen, von dem Schlage derer, welche die demokratische Galle Thackeray’s so heftig in Bewegung setzten. Thiers ist nun einmal ein wenig „snob“, und ich würde ihm wohl den Rath geben über das Buch des berühmten englischen Humoristen etwas nachzusinnen, wenn er nicht zu alt wäre, um sich zu bessern, und wenn ich nicht wüßte, daß er hinlänglich von sich eingenommen ist, um sich, so wie er ist, für vollkommen zu erachten.

Dies führt mich darauf, Thiers’ äußere Person näher zu schildern, was ich absichtlich auf den Augenblick verspart habe, in dem der Mann in seinem Salon mehr sich selbst angehört und sich am unmittelbar menschlichsten giebt. Bei der Arbeit konnten wir ihn wohl belauschen, aber zum Lesen und Schreiben schicken sich alle Menschen so ziemlich auf gleiche Weise an, Victor Hugo etwa ausgenommen, der sich nie setzt und in seinem Zimmer nichts duldet, das einem Sessel irgend ähnlich sieht; allein Thiers setzt sich wie wir andern auch. Ebensowenig vermag die Rednerbühne uns Thiers von dieser Seite zu zeigen, sie verschlingt ihn und läßt kaum seinen Kopf sehen. Bei Tische? Da ist er auf seinen Stuhl gebannt, er ist unfrei und fühlt sich nicht heimisch. Aber in seinem Salon, das ist der rechte Ort; da sehen wir ihn schalten und walten, von dem Einen zum Andern gehen, sich unterhaltend, hüpfend, nie einen Augenblick ruhend. Um in zwei Worten sein Bild zu entwerfen: Thiers ist ein Mann, der fortwährend in Eile ist und zu laut spricht.

Er ist weder schön von Gesicht, noch von Wuchs. Er ist klein, untersetzt, von gewöhnlichem Aussehen; der übertriebene Ausdruck seiner Gesichter schneidenden Züge erinnert unwillkürlich an die bekannten Nürnberger Figuren. Wenn die geistvolle Frau von Girardin, die mit der scharfen Spitze ihrer Feder so viele Gesichter gezeichnet, Thiers „Mirabeau-mouche“ (Mirabeaufliege) nannte, ein Spitzname, den dieser ihr nie verziehen hat, so kann die Bezeichnung gewagt erscheinen, denn Thiers hat nichts von der Zierlichkeit dieses kleinen Insects. In ganz anderem Sinne gewagt ist freilich die soldatisch derbe Bezeichnung, welche den Marschall Soult zum Urheber hat und die hier nicht wiederholt werden kann. Thiers ist also nicht schön – und, was noch mehr heißt, wie ebenfalls Frau von Girardin, als weibliche Richterin hier doppelt beachtenswerth, anmerkt: Haltung und Manieren sind gewöhnlich. Aber bei genauerer Beobachtung wird sich das Urtheil doch umstimmen. Das Gesicht zeigt eine hohe, breite Stirn, ein lebhaftes, glänzendes Auge, das leider hinter einer mächtigen, goldenen Brille versteckt ist, einen Mund, der durch den Ausdruck leichten Spottes nicht verunziert wird; Thiers soll nur zu sprechen anfangen und man wird ihn allerliebst finden. Seine Unterhaltung ist, wie die aller Männer, die viel wissen, reich durchwirkt mit Thatsachen, die sein feiner Geist lichtvoll zu beleben versteht. In seiner Jugend ein unermüdlicher Frager, wußte er, wie keiner, die Leute zum Sprechen zu bringen und hätte wie Sokrates sich den Geburtshelfer der Geister nennen können – nur trug er nach geleisteter Hülfe das Kind mit sich fort. In dieser Weise verfuhr er, da er an seiner Geschichte der Revolution schrieb, wiederholt mit dem General Jomini. Dieser, der Thiers recht wohl durchschaute und es müde war, sich so auspressen zu lassen, hatte seiner Tochter eines Tages sogar anbefohlen, durch ihre Dazwischenkunft zur rechten Zeit ihn aus dem umstrickenden Zauber der Schlange zu befreien, doch siehe da – als die Tochter dem Befehle des Vaters gemäß handeln wollte, wurde dieser ganz aufgebracht und hieß sie die Unterhaltung nicht stören.

Viel hat Thiers durch seine unersättliche Wißbegierde auf diese Weise wie spielend gelernt, wobei ihm noch das wunderbarste Gedächtniß zu Statten kam. Die Zahlen für die statistischen Belege seiner Finanzreden stehen ihm bis in die größten Einzelheiten reichlich zu Gebote und er trägt sie alle in seinem Kopfe. Erwähnenswerth erscheint mir auch ein kleiner Vorfall, mit dem ich erst vor einigen Tagen bekannt gemacht wurde. Es war im Jahre 1840. Das Gesetz über die Festungswerke von Paris wurde eben verhandelt und man wußte, daß Thiers dasselbe in langer Rede vertheidigen sollte. Ein Journalist, der den Inhalt der Ministerrede an sein Provincialblatt zuerst berichten wollte, begiebt sich deshalb am Morgen der Sitzung selbst zu Thiers. „Ich fand Thiers“ – so erzählte mir derselbe Journalist – „im Anziehen begriffen. Während er sich wusch, rasirte, die Beinkleider anlegte etc., hat er mir aus dem Gedächtniß in einer halben Stunde seine ganze Rede, an der er vier Stunden in der Kammer sprach, auszugsweise in die Federn dictirt, und als ich die Rede selbst mit dem Auszuge verglich, überzeugte ich mich, daß er nicht einen einzigen Gedanken zu entwickeln vergessen und die Reihenfolge seiner Entwickelung nicht einen Augenblick verlassen hatte.“

Thiers ist öfters ein Schwätzer genannt worden, und man hat sein Geplauder sogar mit dem einer alten Klatschgevatterin verglichen. Der Vergleich trifft nur insofern, als er allerdings oft einen übereilten Vortrag hat und der Ton seiner Stimme scharf und verstimmt klingt. Im Uebrigen ist seine Unterhaltung stets auf die Sache selbst eingehend und höchst anziehend. Man unterhält sich gern mit Thiers, aber mit ihm zu streiten, das soll man bleiben lassen. Der kleine Mann ist Feuer und Flamme, duldet keinen Widerspruch und wird, was man ihm auch vorbringt, eher absurd finden, als bemüht sein, dies zu beweisen. Es ist das nicht eben das Zeichen eines guten Geschmacks und spricht vielmehr für das Urtheil der Frau v. Girardin, wie auch der Umstand, daß Thiers, wenn ihm die Unterhaltung seines Salons nicht zusagt, zuweilen auf seinem Lehnstuhl einschlummert. Dafür begleitet er aber auch hinwiederum die Leute, die ihm gefallen, bis an die Thür seines Vorhauses.

Trotz solcher gelegentlichen Ausbrüche von Heftigkeit in der Rede, die man auf Rechnung eines nicht genug bekämpften südlichen Temperaments zu setzen hat, wird Thiers gleichwohl als ein Mann von leichtem und in den Beziehungen des Lebens angenehmem Umgange betrachtet. Der Ton geringschätzender Höhe, die gebieterische Haltung des großen Mannes, der dem gemeinen Sterblichen wohl erlaubt, sich dem Fußgestelle seiner Größe zuweilen zu nähern, aber selbst von demselben nie herabsteigt, sind ihm durchaus fremd; er ist im Gegentheil voller Leutseligkeit und Natürlichkeit, keine Spur von dem stolzen Ernste, den die Franzosen so wenig lieben und den sie „morgue“ nennen, vielmehr

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