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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

ein widerspenstiges, hartnäckiges Volk!“. hatte er darauf zu Dr. Böhmer, seinem Begleiter, gesagt und diese Aeußerung war bekannt geworden. Die Frankfurter waren stolz darauf.

Dorothea kehrte mit ihren Nachrichten zu der bekümmerten Mutter zurück, bei welcher sie noch die Amme traf, die ihr aus der Mainzer Zeitung heute die politischen Artikel vorlesen mußte, welche sie sonst nicht kümmerten. Wie hatte sich dies ihr sonst so liebe, gemüthliche Blatt, in welchem sie mit Vergnügen von all’ den Lustbarkeiten am Hofe des Kurfürsten, von Frau von Coudenhove und den galanten Herren und Damen gelesen hatte, in der letzten Zeit verändert! Forster’s und Wedekind’s Angriffe auf den schlechten Geist, der in Frankfurt sich der von Frankreich ausstrahlenden Lichtmasse verschließe, hatten sie heute so verstimmt, daß sie beschloß, die Mainzer nicht mehr zu halten und sich mit der hiesigen zu begnügen, in welche jetzt freilich auch Custine seine Proclamationen und Erlasse rücken ließ. Ueber die Gefangenschaft des Gatten beruhigte sie sich einigermaßen, als sie von ihrer Tochter hörte, was der Grund sei. Von Wegschleppen oder gar Todtschießen war nicht die Rede; sie hatte sich schon geängstigt, daß man ihm die Beherbergung seines eigenen Neffen zum Verbrechen machen könne. Die Amme schien über Hermann mit der Mutter gesprochen zu haben, denn diese sagte auf einmal: „Weißt Du, daß Contreordre für den Nachschub gekommen ist? Hermann ist nicht auf dem Marsch nach dem Luxemburgischen, sondern steht in Marburg, weil sie fürchten, daß die Franzosen von hier aus in Hessen einfallen werden.“

Auf die Frage der Tochter, woher sie das wisse, blickte Frau Hartinger auf die Amme, und diese sagte kurz: „Ich hab’s gehört.“ Ortenburg hatte aber selbst an sie geschrieben; er mußte von ihr Aufklärung über die räthselhaften Worte haben, die sie ihm, gegen den sie doch sonst so zärtlich war, beim Abschied bitterböse gesagt hatte. Ihre Antwort war heute durch Sperber auf die Post getragen worden.

„Wir können also ruhiger schlafen,“ sagte die Mutter. „Morgen wollen wir sehen, ob wir den Vater sprechen oder ihm wenigstens Essen schicken können. Gute Nacht, Dorche! Guter Rath kommt über Nacht.“

Den Geiseln, welche Custine in Verwahrsam genommen hatte, war die Verbindung mit ihren Familien und auch mit ihren Mitbürgern keineswegs abgeschnitten; im Gegentheil hoffte der General durch sie auf diese zu wirken oder, wie man heute sagt, einen Druck auf sie zu üben. Darum ließ er sie über ihr Schicksal in Ungewißheit: das Damoklesschwert hing über ihrem Haupte. Der widerspenstigen Stadt wollte er seine Gegenwart nicht lange mehr schenken, sondern sein Hauptquartier nach Mainz zurückverlegen, einstweilen konnte er ihr aber noch das Schauspiel eines Triumphzuges vorführen. Die Saline von Nauheim war wirklich von Houchard genommen worden; mit vierzehnfacher Uebermacht hatte er das schwache hessische Detachement, das von Hanau zum Schutz hierher geschickt war, nach der tapfersten Vertheidigung endlich überwältigt, als es die letzte seiner Patronen verschossen hatte. Die Gefangenen ließ Custine nun im Triumph unter Cavalerieescorte zu Frankfurt durch die Hauptstraßen führen, es machte aber auf die Einwohner nicht den gehofften Eindruck. Sie empfingen die deutschen Krieger, welche vor Unmuth über diese Behandlung knirschten, mit lebhaftem Enthusiasmus und thaten Alles, um ihnen und ihren zahlreichen Verwundeten ihr Schicksal zu erleichtern.

Dagegen machte der tapfere Widerstand des kleinen Häufleins Eindruck auf Custine, denselben, wie vor Zeiten der der Schweizer bei St. Jacob an der Birs auf das große Heer der Armagnacs. Wie diese, davon imponirt, den Angriff auf die Schweiz aufgaben, so Custine den seinigen auf Hanau. Um so wüthender fiel die Proclamation gegen den Tyrannen und Tiger von Hessen aus, um so abgeschmackter der Schluß derselben, in welchem er den hessischen Soldaten – fünfzehn Kreuzer täglichen Sold, wenn sie zu ihm übertreten wollten, fünfundvierzig Gulden Pension für einfache Desertion, das Bürgerrecht, brüderliche Liebe und Freiheit bot! Der Erfolg, war nur allgemeine Entrüstung im hessischen Volke, das theilweise zu den Waffen griff. Reellen Gewinn gab jedoch die Nauheimer Beute an Salz, fünfhunderttausend Thaler werth, die nach Mainz geschleppt wurde, und Houchard’s fortgesetzte Brandschatzung der reichsten Klöster und Besitzungen in der Gegend.


5.

Fand denn das Beispiel des braven Hessenvolks gar keine Nachahmung? Ließ sich ein Landstrich von wenigstens acht Millionen einer treuen und wehrhaften Bevölkerung durch achtzehntausend Franzosen in Angst und Schrecken setzen, so daß keine Hand sich gegen sie aufhob? Wer trug die Schuld der Schmach und fand sich gleichgültig mit der Schande ab? Hören wir darüber einen Rheinländer, welcher jene jammervolle Zeit mit erlebt. hat! Von den kleinen Herren, die sich vom Breisgau bis nach Westphalen in die deutschen Rheinlande theilten, fühlte sich keiner mehr in seiner Residenz sicher. Alle zogen rückwärts und ließen Land und Leute im Stich, am schnellsten diejenigen, welche einst am lautesten gedroht und getrotzt. Der Bischof von Speier suchte im Odenwalde eine Zuflucht, der Kurfürst von Trier bei dem von Köln Schutz; in Coblenz wurden um fabelhafte Summen Schiffe gemiethet, alle Cavaliere, die meisten Geistlichen, kurfürstliche Räthe mit Frauen und Kindern, sehr viele Bürger und Handwerker, die meisten Mönche und Nonnen, sogar der Gardeoberst von Landenberg mit Officieren und Gemeinen – Alles floh rheinabwärts! In Bonn und Köln packte man aber auch bereits zur Flucht nach Westphalen und Holland ein. Die Fürstin von Neuwied empfahl sich der Milde Custine’s. Der panische Schrecken verbreitete sich vom Rheinlande weiter bis in das Herz von Deutschland. Baden und Würtemberg, auch mehrere Reichsstädte betheuerten ihre Neutralität, die Bischöfe von Bamberg und Würzburg, das Reichskammergericht erbaten sich Schutzbriefe von Custine; aus Cassel flüchtete die landgräfliche Familie, während der Landgraf an der Spitze seiner Truppen noch jenseit des Rheins im Felde stand; ja die Gesandten auf dem Reichstage zu Regensburg mietheten bereits Schiffe zur Flucht auf der Donau, wenn die ersten Franzosen sich bei Nürnberg zeigen würden.

Von jenen kleinen Herren und freien Gemeinwesen ist die Mehrzahl, absonderlich die geistlichen Fürsten, in der Napoleonischen Zeit ihrer Selbstständigkeit beraubt und bei der Umgestaltung Deutschlands 1815 nicht wieder restaurirt worden. Man würde jedoch ungerecht sein, wollte man ihnen die ganze Schuld jener unerhörten Schmach aufbürden; es war das Elend der politischen Verfassung des deutschen Reichs, welches sich darin kund gab. Wären Custine’s Thaten so kühn und gewaltig gewesen, wie seine Proclamationen, hatte er nur mäßige Colonnen von Mainz gegen Coblenz und über Frankfurt landeinwärts rücken lassen, so würde er der ganzen westlichen Kleinstaaterei mit einem Schlage ein Ende gemacht und aus dem ganzen Rheinlande vorläufig eine Tochterrepublik Frankreichs geschaffen haben. Die Stände des Kurfürstenthums Trier, verlassen von ihrem geistlichen Herrn, schickten ihm in ihrer Rathlosigkeit bereits eine Gesandtschaft, um wegen einer Brandschatzung, noch ehe er trierischen Boden betreten hatte, gütlich mit ihm zu contrahiren, ihm die preußischen Magazine in Coblenz und, wenn er darauf bestünde, auch den Ehrenbreitstein zu überlassen! Diese Gesandtschaft empfing Custine noch in Frankfurt, und es machte auf die wackern Bürger einen ebenso beschämenden, wie niederbeugenden Eindruck. Auf Hülfe war nicht mehr zu rechnen. Die Kaiserlichen in Belgien, die Preußen und Hessen auf dem Rückzuge noch jenseit Coblenz mochten wohl schon geschlagen und zersprengt sein.

Trüb gestimmt durch solche Gedanken, bekümmert um ihren Vater saß Dorothea Hartinger allein. Die Mutter war ausgegangen, um sich bei Freundinnen Rath und Trost zu holen. Es war allerdings gestattet worden, die im rothen Hause verwahrten Geiseln mit allem Nöthigen zu versehen, aber eine Freilassung, bevor der letzte Kreuzer der Contribution entrichtet war, stand nicht in Aussicht; es hieß sogar, daß sie nach Mainz transportirt werden sollten. Dorothea bangte darum, da erschreckte ein leises Klopfen an der Thür das sonst so herzhafte Mädchen; kaum daß sie antworten konnte. Die Thür wurde bescheiden geöffnet – ein französischer Officier trat herein. Sie stand bestürzt auf. Welches neue Unheil sollte ihr dieser Bote verkünden? Er nahte sich ihr rasch. „Verzeihung, Mademoiselle, dem wahren Freunde.“

Bei dem Tone dieser Stimme blickte sie erstaunt auf; nun erst erkannte sie, wer der Officier war.

„Ich war fern von hier,“ fuhr dieser fort, „ich konnte nicht ahnen, was sich hier begeben würde! Sie staunen, mich in französischer Uniform zu erblicken?“

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