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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

ist bei den abendlichen Gasflammen von Wirkung; es überkommt Einen leicht eine feierliche Stimmung zwischen den Säulenpaaren an beiden Längsseiten, und die beiden Schmalseiten mit ihren hohen, säulenfreien Spiegelwänden täuschen durch ihre gegenseitige Vervielfältigung des Saalbildes in’s Unendliche den Neuling für Augenblicke über die eigentliche Größe des Raumes. Das fühlt Jeder, daß für ein gewöhnliches Restaurationsleben mit Kartetischen und Alltagsgeschwätz diese ernste Halle zu gut ist, auch wenn die Büsten der großen deutschen Männer, Luther’s und Gellert’s, Guttenberg’s und A. Humboldt’s, Moses Mendelssohn’s und Lessing’s, Schiller’s und Goethe’s, welche zwischen je einem Säulenpaar aufgestellt sind, für Manchen immer noch nicht deutlich genug von der bessern Bestimmung derselben zeugen sollten. Dem Veranda-Eingang gegenüber steigt im Saal ein Treppenpaar zu einer dritten Abtheilung der Wirthschaftsräume, dem sog Tunnel, empor. Den Aufgang rechts zu diesem „Tunnel“ versperrt ein Podium, auf welchem nichts als ein einfaches Tischchen zu sehen ist.

Das ist der Raum, und nun zu seinem Inhalt. Wenn nicht die Meßzeit dem Publicum, welches der obigen Einladung zu diesen Vortrags-Abenden im Hotel de Saxe mit fast stammgastlicher Regelmäßigkeit folgt, durch den Fremdenstrom eine unbestimmte Färbung giebt, stellt sie sich in einer sehr bestimmten dar: es ist der in seinen Ansprüchen bescheidene, aber geistig gern und freudig empfangende und strebende Mittelstand, der hier eine treue und dankbare Zuhörerschaft bildet. Da ist der fleißige Handwerker und der niedere Beamte. Sie haben den Tag an der Arbeit zugebracht, zum Zeitungslesen bleibt ihnen keine Zeit, aber wissen wollen sie, wie es in der Welt und insbesondre im Vaterlande steht. Da nehmen sie am Abend die Gattin am Arm, vielleicht auch die großen Kinder dazu, und gehen „zu Würkert“. Der junge, strebsame Geschäftsmann, der Commis aus den verschiedensten Geschäften stellt sich ein, wenn ihn nach besserer Unterhaltung verlangt, als „die Restauration“ im gewöhnlichen Styl sie bietet. Es sind auch bescheidene junge Arbeiter aus Fabriken und sonstigen großen Geschäften, die, vielleicht mit der Zukünftigen zur Seite, ebenfalls da Platz nehmen, aber das Herz haben sie gewiß auf dem rechten Fleck, sonst würden sie zu irgend einem der vielen Tanzvergnügen und nicht „zu Würkert“ gehen. Man sieht, für die Kreise der vornehmen, kalten Kritik ist die Gesellschaft, Gott Lob, zu bürgerlich!

Was giebt es denn nun so gar Absonderliches bei diesem „Würkert“? Zunächst, lieber Freund, Speise und Trank wie in jedem Wirthshaus, und Du siehst, daß all die Gäste nach ihren Mitteln und Bedürfnissen tapfer zugreifen. Ist aber das Leibliche befriedigt und steht das Töpfchen „Coburger“ oder „Lager“ gemüthlich vor den Leutchen, dann kommt der Augenblick, wo trotz der nun erst recht gelösten Zungen plötzlich tiefe Stille in Saal und Veranda eintritt. Auf dem Podium ist der Wirth, der Besitzer dieser stattlichen Kneipe, erschienen, und er ist’s, der mit mächtig durchdringender Stimme durch seinen Anruf: „Geehrte Anwesende!“ die bunteste Unterhaltung in lauschendes Schweigen verwandelt.

Ludwig Würkert legt seinen Vorträgen meist einen dichterischen Ausspruch zu Grunde, oder er giebt den Grundgedanken selbst in dem gedruckten Gedichte, welches wir am Eingang erhalten. Heute beginnt er mit dem Körner’schen Verse:

„Was zieht ihr die Stirne finster und kraus?
Was starrt ihr wild in die Nacht hinaus,
     Ihr freien, männlichen Seelen?
Jetzt heult der Sturm, jetzt braust das Meer,
Jetzt zittert das Erdreich um uns her, –
     Wir woll’n uns die Noth nicht verhehlen!

und nennt sofort als den Gegenstand der neuen deutschen Sorge und als die Ursache der drohenden Noth: Schleswig-Holstein und den deutschen Zwiespalt.

Er stellt seinen Zuhörern vor Allem ein klares Bild über den gegenwärtigen Stand dieser deutschen Herzens- und Schmerzenssache vor Augen; er erzählt von dem Befreiungsjubel in Holstein und wie niederbeugend, wie drückend derselbe auf uns in Deutschland wirken müsse, die wir die Lahmheit im Handeln gerade von Seiten des Volks täglich vor Augen sähen. Trotzdem erblicke er die uns drohende Gefahr nicht in einem Kriege mit dem Auslande, und wäre es halb Europa, sondern in dem Frieden, der abermals mit Deutschlands Schmach bezahlt werde, und zwar mit Beihülfe der sogen. „deutschen“ Großmächte, die angeblich aus „europäischen“ Rücksichten zu solch „höherer“ Politik gezwungen seien.

Die Noth könne Menschen und Staaten auf zweierlei Wege führen, auf den der Schande oder auf den der Ehre.

Mit ebensoviel Menschen- als Geschichtskenntniß und politischem Blick greift unser docirender Wirth in die schicksalreichen Nachtseiten des Lebens, um in warnenden Beispielen den Weg der Noth zur Schande Einzelner zu zeigen; dann führt er uns durch die deutsche Fürsten- und Volksgeschichte zu Anfang dieses Jahrhunderts, um den Schandweg zum Rheinbund allen seinen Zuhörern recht deutlich sichtbar zu machen. „Und ist,“ fährt er fort, „wenn Oesterreich und Preußen ihre dermalige Einmüthigkeit noch weiter pflegen, um sich vor allem sogen. „nationalen“ Treiben für immer Ruhe zu verschaffen, – ist dann etwa der Weg zu einem neuen Rheinbund so weit?“ – Darum müsse, selbst einem drohenden Bürgerkrieg zum Trotz, das Volk den Weg der Ehre festhalten, weil er der Weg des Rechtes sei. Wiederum gelte und geschehe hier Einzelnen wie Nationen. „Für die Völker aber sei das segensreichste Wirken der Noth, daß sie zum Zusammenfassen der vorher oft so zersplitterten Kräfte antreibe, und so möchten denn die Mittel- und Kleinstaaten Deutschlands nur fest und treu zusammenstehen und die Fürsten es zum ersten Male seit fünfzig Jahren wieder fühlen, wie mit dem Vertrauen die Macht wachse, wenn man sein treues Volk zu gemeinsamer That bereit hinter sich wisse. Sie sollten fest zusammenstehen, und die Bismarcke und Rechberge der ganzen Welt würden den Deutschen ihr Schleswig-Holstein nicht entreißen und die Nation werde siegen und sollten Millionen Teufel ihr entgegentreten!

Die Versammlung war längst im ganzen Herzen warm geworden und brach hier in lauten Beifallsjubel aus. Der in wahrer Begeisterung für seinen Gegenstand längst zum Predigerton der Rede emporgehobene patriotische Wirth (– mit dem Pathos dieses Predigertons, unseren Lesern später ganz erklärlich, sind, nebenbei gesagt, viele sonst ganz treue Verehrer des Redners nicht immer einverstanden –) beachtet dies jedoch nicht, sondern fährt mit gesteigertem Eifer fort, die Leiden der armen Schleswiger zu schildern. Jeder Schrei des Schmerzes, der Verzweiflung, jeder Fluch über die Nichtswürdigkeit, welche aus kalter Berechnung des Eigennutzes und der Bosheit eines Volkes Herz mit Füßen trete, das Alles werde mit der Kraft des Gebets im Volke wirken und müsse so wirken, wenn Deutschland nicht schmachvoll zu Grunde gehen solle.

„Wir wollen uns die Noth nicht verhehlen!“ ruft er zum Schluß des Vortrags den Gästen zu. „Gerade deshalb muß gegen die Folgen solcher Noth jeder Verständige und Brave sich schon jetzt rüsten, im Haus, in der Gemeinde, im Staat! So thuen auch Sie das Ihre! Aber nicht dadurch, daß Sie für sich allein vorsorgen, Sie, die Sie heute hier anwesend waren! Leider sind Einsicht und Erkenntniß der Zeit und der Pflichten, die sie uns auferlegt, noch so wenig verbreitet, daß wir mit Trauer behaupten können, es gehen in Deutschland noch Millionen nur ihrem Erwerbszweig nach und ahnen nicht, daß der ganze Baum ihrer Existenz in Gefahr steht! Verbreiten Sie Einsicht und Erkenntniß, gehen Sie zum Nachbar links und rechts und theilen ihm mit, wovon Sie heute sich überzeugt haben. Und dann öffnen Sie, wie das Herz, auch die Truhe, den Geldbeutel für den Gotteskasten des Vaterlandes! Sein Triumph wird auch der Ihre, seine Ehre die Ihre sein, und Ihre Kinder werden’s Ihnen einst segnen!“

Damit schloß der Redner, und lauter, dankbarer Beifall von allen Anwesenden belohnte ihn.

Erregt ist sichtlich die ganze Zuhörerschaft. Es sind zündende Gedanken unter sie geworfen, und je nach Begabung und Mundwerk beginnt die Discussion darüber an den einzelnen Tischen. Inzwischen versäumt ein patriotischer Colporteur nicht, die günstige Stimmung für sich zu benutzen: er bietet Karten von Dänemark und den Herzogthümern, Flugblätter, Zeitungen etc. feil, und die Bürgersfrau, die sonst den Groschen zehn Mal umwendet, der für etwas Gedrucktes ausgegeben werden soll, redet jetzt selbst dem Ehegatten zum Ankauf von diesem und jenem, das durch die eben gehörte Rede besonderes Interesse gewonnen hat, zu. Man schlage gerade einen solchen Erfolg dieser Vorträge nicht zu gering an.

Die hohe Gestalt des Wirthes erscheint wieder auf dem Podium. Er schlägt vor, eines der Lieder zu singen, welche wir gedruckt in Händen haben. Ein Waldhornquartett bläst die Melodie erst vor und begleitet dann den Gesang. Aber wer singt denn? Ein Sängerverein? Nein, die ganze Gesellschaft

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_070.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2022)