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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Daß Hoffmann,“ hub er an, „ab und zu an Liebesparoxysmen gelitten hat, wird Allen bekannt sein; weniger bekannt möchte es sein, daß er in dieser Hinsicht allen Warnungen seiner Freunde zum Trotz in einer Weise ausschweifte, welche mehr noch als alle am Arbeitstische und am Piano, so wie hier in dieser Weinkneipe durchwachten Nächte seine Gesundheit untergrub; wenigstens weiß ich aus Erfahrung, daß die Fieberträume seines kranken Gehirns zu solcher Zeit immer am tollsten waren. Auch im Sommer des Jahres 1820, zwei Jahre vor seinem Tode, hatte er wieder einen solchen Raptus. Es war ein schöner Sommertag. Die Probe war beendet, und ich stand eben im Begriff, Rebenstein nach Haus zu bringen –“

„Ist das auch die richtige Lebensart, Devrient?“ sprach lachend Wegner, der Mitinhaber der Weinstube und ein flotter Trinker.

„Du meinst, Rebenstein habe mich hierherbegleitet? Das bestreite ich, denn Rebenstein trinkt nur im Stillen. He, Louis, habe ich Recht?“

Louis, der Oberkellner, stand bei Devrient in besonderer Gunst, denn er kannte des großen Mimen Zunge auf’s Haar und brachte den Rothwein nie zu warm, den Sect nie zu kalt auf den Tisch; darum genoß er auch das Vorrecht, in nächster Nähe Devrient’s verweilen zu dürfen, ein Vorrecht, das er nie mißbrauchte.

„Es ist so, wie Sie sagen, Herr Devrient,“ sprach Louis. „Früh am Morgen, wenn ich das Fenster meiner Dachkammer öffne, schaut Herr Rebenstein schon von drüben herüber und winkt mir, ihm ein Quart als Morgentrunk hinüberzubringen.“

Alle lachten. Devrient aber fuhr fort:

„Eben, als wir uns von Lemm getrennt hatten, tritt eine Jungfer zu mir heran und fragt mich, ob ich Herr Devrient sei.

„Der bin ich,“ lautete meine Antwort; „was steht dem hübschen Kinde zu Diensten?“

„Ich soll eine schöne Empfehlung von meiner Madam bestellen,“ spricht sie und macht einen Knix, „und Herr Devrient möchte doch die Güte haben, sie zu besuchen, aber gleich auf der Stelle.“

Während mich Rebenstein ganz verwundert ansieht, frage ich ebenso verwundert: „Ja, liebes Kind, wenn ich nur wüßte, wie Deine Madam heißt?“

„Habe ich Ihnen das noch nicht gesagt? Es ist Frau von –“

In diesem Augenblicke wurde die Thür der Weinstube heftig aufgerissen, und der Theaterdiener Zäger stürmte mit den Worten herein:

„Aber, bester Herr Devrient, es ist sechs Uhr; Sie sollen uftreten un lassen sich nich sehen! Logen un Parquet, allens in Aufruhr; im Parterre trommeln de Beene un uf de Gallerie pfeift allens nach Noten!“

Devrient, dem ein solches Vergessen schon öfters begegnet war, sah nach der Uhr und versetzte harmlos: „Wahrhaftig, fünf Minuten über sechs Uhr. Es ist hohe Zeit, Zäger! Auf Wiedersehen, meine Herren, nach dem Theater!“

Bei diesen Worten erhob er sich schwerfällig vom Stuhle; er konnte ohne Hülfe nicht stehen und gehen. Zäger aber wußte Bescheid; er stülpte ihm den Hut auf, faßte ihn kräftig unter den Arm und schleppte ihn mehr, als er ging, nach dem Theater.

Kaum war Devrient aus der Thür, so sprach der Kammergerichtsrath: „Den Spaß, meine Herren, müssen wir mit ansehen! Ich bin neugierig, wie sich Devrient herausbeißen wird.“

Damit eilte die Gesellschaft nach dem Theater, dessen letzte Plätze sie erhielt. Man gab Shakespeares Richard III. Eben waren jene eingetreten, als der Vorhang in die Höhe ging und Devrient aus den Coulissen auf das Theater schwankte. Noch war seine Zunge keines Wortes mächtig, noch vernahm sein bereits geschwächtes Gehör kein Wort des sich umsonst abmühenden Souffleurs; aber mit wunderbarer Gabe beherrschte er seinen Körper, und die Zuschauer studirten den tückischen Charakter Gloster’s aus dem Mienenspiel Devrient’s, an dem jeder Zoll ein Richard war. Jetzt dämmerte es in seinem Gedächtnisse und mit heiserer Stimme declamirte er die ersten Verse. Das Publicum lauschte. Mit jedem Worte kräftigte sich die Stimme des Schauspielers, bis ihm plötzlich wie mit Blitzesschnelle die Geister des Weines aus der Brust entflohen. Als er die Worte:

Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht,
Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln;
Ich, roh geprägt, entblößt von Liebes-Majestät
Vor leicht sich dreh’nden Nymphen mich zu brüsten;
Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Athmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Daß Hunde bellen, hink’ ich wo vorbei;
Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,
Weiß keine Lust die Zeit mir zu vertreiben.
Als meinen Schatten in der Sonne spähn
Und meine eig’ne Mißgestalt erörtern;
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden –

mit unnachahmlicher Bosheit vortrug, hätte man in der herrschenden Todtenstille ein Blatt fallen hören können. Von Scene zu Scene, von Act zu Act stieg der Beifall, bis die letzten Worte des fluchbeladnen Königs:

Ein Pferd! ein Pferd! mein Königreich für’n Pferd!

mark- und beinerschütternd in die Ohren schlugen.

Noch tobte der Beifallssturm, noch rief die Bewunderung Aller Devrient heraus, als schon die Lutterschen Gäste das Theater verlassen hatten, um in der Weinstube, als wäre nichts vorgefallen, die alten Plätze wieder einzunehmen. Bald nachher trat Devrient in großer Aufregung ein; doch erst gegen Mitternacht konnte er zur Fortsetzung der unterbrochenen Erzählung bewogen werden.

„Die Dame,“ fuhr Devrient fort, „welche mich zu sich hatte bescheiden lassen, war Frau von Z., sie war jung, schön, lebhaften Temperaments, eine große Musikliebhaberin und seit Kurzem an einen Hauptmann im … Regiment verheirathet. Hoffmann hatte sie auf einer musikalischen Soirée beim Grafen R. kennen gelernt und sich sterblich in sie verliebt; doch hatte er sich diesmal gewaltig verrechnet, denn das Wort, welches er im Munde zu führen pflegte: „Liebe schwärmt auf allen Wegen“ hatte wohl in Bezug auf ihn selber seine Richtigkeit; aber der Gegenstrophe: „Liebe kommt uns rasch entgegen“ fehlte von Seiten der Frau von Z. alle und jede Wahrheit. Die Dame befand sich in der peinlichsten Lage; ihr Mann, auf einige Zeit nach Breslau commandirt, stand mit Hoffmann in freundschaftlichem Verhältnisse. Sie kannte das exaltirte Wesen des Dichters der „Phantasiestücke“ und wollte ihn nicht ohne Noth bloßstellen. In ihrer Rathlosigkeit und Verzweiflung hatte sie den Beschluß gefaßt, sich an Hoffmann’s Freunde zu wenden, und da weder Fouqué, noch Hitzig, noch Chamisso in Berlin anwesend waren, so hatte sie mich zum Retter in der Noth ausersehen. Aber was zu thun? Guter Rath war theuer. Wir sannen hin und her, fanden aber keinen Ausweg in diesem Labyrinthe. Endlich empfahl ich mich der Dame mit der Bitte, mich sofort zu benachrichtigen, wenn Hoffmann bei ihr zum Besuche erscheinen würde. Mir war bereits ein Plan durch den Kopf gegangen, welchen ich nur der Dame vorher nicht hatte verrathen wollen, um jede Plauderei und jedes Mißlingen unmöglich zu machen. Ich beschloß nämlich, die Furcht Hoffmann’s vor einem Doppelgänger zu benutzen und ihn durch sein zweites Ich von einem erzdummen Streiche abzuhalten. Die Maske war die einzige Schwierigkeit, welche ich zu überwinden hatte, denn Stimme, Gang, Gebehrden etc. brauchte ich nicht erst zu studiren. Hier in dieser Stube überdahkte ich den Plan genau und war kaum damit zu Ende gekommen, als Hoffmann eintrat. Wir blieben kaum ein halbes Stündchen zusammen und plauderten; er hatte keine Ruhe.

„Sehen wir uns heute Abend?“ fragte ich ihn, als er fortstürmen wollte. „Du weißt, es ist heute der 19. Juli, der Sterbetag der Königin Louise, und darum kein Theater. Das ganze Theaterpersonal macht Landpartieen; wie wär’s, wenn wir hier einen lustigen Abend verlebten! Wir könnten nichts Besseres thun!“

„Altes Weinfaß,“ fuhr er mich an. „Du hast den versoffenen Falstaff so oft gespielt, daß Dir seine Schlemmernatur ganz und gar zu eigen geworden ist. Kennst Du denn nichts Höheres mehr als das Trinken?“

„Hat Dich einmal wieder Gott Amor mit nie fehlendem Pfeile verletzt?“ fragte ich lachend.

„Ludwig! Ludwig!“ antwortete er pathetisch. „Ich glaube, keine sterbliche Frau kann sich rühmen, Dein Herz je gerührt zu haben; nur den Himmlischen, den Musen opferst Du Weihrauch.“

„Doch, doch, Amadeus! Eine habe ich geliebt mit aller Gluth jugendlicher Leidenschaft.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_425.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)