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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

und improvisirten Galgen begnügen müssen.[1] Müssen die brutal gemordeten englischen Frauen und unschuldigen Kinder nicht grimmig gerächt werden? Freilich, sagen die Criminalgesetzbücher. Aber auch die englisch-indischen Soldaten waren unschuldig. Wenn ihm ein Jahrhundert lang unter dem Titel: „Civilisation und Cristianisirung“ alles mögliche Gift eingezwungen und alles mögliche Recht und Geld der Heimath genommen wird und er dann einmal in voller Wuth losbricht, so ist dieser Paroxysmus doch nichts, als endlich zur Krisis getriebene Folge fortgesetzter Vergiftung und Beraubung, deren Schuld nur allein die Vergifter und Räuber tragen. Vor dem parteilos und sachlich urtheilenden Richterstuhle des natürlichen Menschen- und Völkerrechts (ohne alle Rücksicht auf etwa besondere Freiheits-Rechte) könnte blos ein einstimmiges Schuldig für alle Mord- und Gräuelscenen in Indien gegen die englische Politik und die ostindische Compagnie ausgesprochen werden, ein Schuldig des Mordes ihrer eigenen Weiber und Kinder, an allen Blut- und Brandscenen, welche tausendweise aus paradiesischen Naturscenen gen Himmel rauchten und flammten und noch lange in Kerker- und Executionsscenen, in Schlachten und Schlächtereien fortwirken werden, „um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.“

Indien ist weit von hier und die Engländer zu Hause, meint man, haben nicht unmittelbar sehr darunter zu leiden. Das ist ein großer Irrthum. Abgesehen davon, daß das indische Budget mit einem fortwährend steigenden Deficit am Marke des Volkes zehrt, zehrt es Tausende materiell und moralisch mit Haut und Haaren auf und aus. Ich sah einige Regimenter von London von Weibern und Kindern Abschied nehmen, um sich nach Indien transportiren zu lassen. Welch’ herzzerreißende Scenen! Welch’ stumme Verzweiflung in den Gesichtern der Soldaten! Jeder schien zu fühlen, daß er einem elenden Tode unter brennender Hitze und überschwemmenden Regengüssen, nicht einem Tode im Kampfe entgegen gehe. Viele Weiber schrieen’s auch jammerkreischend aus: Ich sehe Dich nie wieder! – Und dazu ist der nagendste Kummer Hausfreund und Schlafgenosse in Tausenden von Familien geworden. Die 10,000 Engländer in Indien sind durch ganz England und in den verschiedensten Graden bekannt, befreundet, verschwistert, verschwägert. Sind unsere Söhne, Töchter, Kinder, Enkel u. s. w. auch mit ermordet? Diese Frage wühlt noch Tag und Nacht durch unzählige Familien. Viele Ermordete sind bekannt. Man hat’s gelesen, wie sie überfallen, auf den Markt geschleppt, gemißhandelt und zerstückt wurden, wie Andere, zarte Frauen und Kinder, Tage und Nächte lang durch Dschungeln flohen und doch endlich noch aufgefunden und ermordet wurden.

Die schwarzen Flore, die nach dem fürchterlichen Krim-Winter sich um englische Köpfe hüllten, verschleiern jetzt noch viel mehr grimmig gramentstellte Gesichter.

Neulich ging ich zu Fuße von den heitern Höhen des Krystall-Palastes durch die Waldhügel und Villa’s der Umgegend nach Forest-Hill, der ersten Eisenbahnstation vom Palaste nach London, um einen Freund zu besuchen. Unterwegs fand ich die himmlische Ruhe der Gegend vor einem einsam und versteckt stehenden Hause plötzlich durch wüthenden, brüllenden, fenstereinwerfenden Pöbel unterbrochen. Die königliche Familie von Oude, die herkam, um vor’m Parlamente Recht zu suchen, wie sechs oder acht andere abgesetzte indische Fürsten vergebens versucht haben, hatte sich vor den Verfolgungen des Pöbels hierher geflüchtet, war aber auch hier aufgefunden worden, um sich dafür mißhandeln zu lassen, daß die Engländer ihr ohne eine Spur, ja ohne einen Schein von Rechtstitel Thron und Reich wegnahmen. Die dreißig Personen des indischen Hofes von Oude (der abgesetzte König selbst sitzt im Fort William zu Calcutta gefangen), in ein verstecktes Haus zusammengedrängt, mußten auch aus diesem Asyle fliehen. Der Pöbel revoltirt hier zur Verherrlichung der Verbrechen in Indien, Tausende grämen sich ab über scheußlich gemordete Angehörige, das Land gibt seine Söhne her, um sie vom indischen Klima umbringen zu lassen und alle Kosten dafür doppelt und dreifach zu bezahlen. Das ist der Segen des Besitzes von Indien!




Der militairische Stellenmarkt in England.[2]

Die nachstehenden Enthüllungen eines englischen Cavallerieofficiers, die wir Dickens’ Household Words entnehmen, gewähren einen belehrenden Blick in das Treiben und Wirken der auch nach dieser Seite hin durch und durch faulen Adels- und Geldwirthschaft der stolzen Britannia und sind mehr als vieles Andere geeignet, den Zustand der englischen Armee zu erklären. –

Warum ich eigentlich Dienste nahm, wüßte ich wohl schwerlich zu sagen. Ich fühlte gerade keinen besonderen kriegerischen Eifer in mir. Es war vielleicht, weil mehrere „Männer,“ von sechszehn Jahren oder da herum, die meine Cameraden in einer fashionablen öffentlichen Schule waren, in die Armee zu treten beabsichtigten; oder, wahrscheinlicher, wegen des gloriosen Vorrechtes, eine mit Goldtressen bedeckte Uniform tragen zu dürfen; am allerwahrscheinlichsten aber doch wegen der Alternative, die mir mein Vater stellte: entweder mir ein Officierspatent zu kaufen, mich mit guten Pferden in ein wohlbekanntes Regiment zu bringen und mir zugleich, außer meinem Gehalte, 500 Pfund (3350 Thlr.) jährlich zur freien Verfügung zu stellen, oder aber, mich auf die Universität zu schicken, wo ich mich um einen Grad bewerben sollte, um mir dann bei einem Anwälte im Tempel den Kopf mit der Rechtsgelahrtheit zu zermartern.

Die Wahl war schnell getroffen und mein Name wurde sogleich beim Kriegsamte für eine Charge vorgemerkt.

Officiersstellen waren zu jener Zeit gerade schwer zu erlangen, selbst durch Kauf; und erst nachdem ich anderthalb Jahre gewartet und meinen Vater gepeinigt hatte, fast monatlich an das Parlamentsmitglied für unsere Grafschaft und die verschiedenen Generale zu schreiben, mit denen er bekannt war, erhielt ich endlich vom militairischen Secretair des Oberbefehlshabers die officielle Weisung, daß nach Einzahlung einer Summe von 840 Pfund (5600 Thlr.) an den Armeeagenten, Herrn Soundso, mein Name Ihro Majestät für ein Fähnrichspatent in den leichten Dragonern empfohlen werden würde.

Auf diese Art wurde ich in der Armee angestellt: nicht etwa wegen irgend eines Verdienstes, das ich besessen hätte; nicht, weil ich vielleicht geistig oder physisch mich dazu eignete; nicht, weil ich ein Jota von der ganzen Sache verstand; sondern erstens, weil mein Vater so viel Einfluß hatte, mir eine Charge zu verschaffen, und dann zweitens, weil er Geld genug besaß, 840 Pfund dafür zu bezahlen.

Ungefähr zwei Monate, nachdem ich meinen Namen in der officiellen Zeitung als Fähnrich bei den leichten Dragonern gelesen

  1. Die beifolgende Abbildung einer solchen Scene in Peschawur gibt eine drastische Anschauung dieser Executionsweise, die eigentlich indisch ist, und von den Engländern gegen Verbrecher höherer Kaste aufgenommen ward. Diese Todesart ist leicht, und hat für den Hindu, der sich religiös nach Vernichtung und Auflösung in alle Lüfte sehnt, nichts Schreckliches; nur den Umstehenden bekommt sie manchmal nicht gut, wie denn bei diesen Zerschmetterungen sehr oft Glieder der Zerschossenen umstehenden Lebenden an die Köpfe flogen und ihnen Glieder zerschlugen. Bei der Zerschießung von zehn brahminischen Soldaten in Ferozepore zeigten die aus ihren Eisen geschlagenen und vor die Kanonen gebundenen Opfer den grössten Muth. Einige, die erschreckt aussahen, wurden von den Andern gescholten: „Was zeigt Ihr Furcht? Sterbt als Männer, nicht als Feiglinge! Ihr vertheidigt eure Religion, warum zittert Ihr also für euer Leben? Unsere Henker sind keine Sahibs. Sahibs? Hunde sind es!“ Einer wendete sich, schon vor die Kanone gebunden, trotzig um und warf dem commandirenden Officiere die Verbrechen Englands an Indien vor, bis dieser Feuer! rief, und der Sprechende unter Donner und Dampf verschwand.
    Aber auch für die Engländer, die schwere Rache üben, gibt es freilich – Entschuldigung wenigstens. Ein Officier, der kurz vorher in Delhi stand, schreibt z. B.: „Unser Blut ist in Wallung. Wir haben gesehen, wie Freunde, Verwandte, Mütter, Gattinnen und Kinder grausam ermordet und ihre Leichen grausam verstümmelt worden sind. Das allein in Verbindung mit dem Muthe, der uns die Russen besiegen ließ, würde uns mit Gottes Hülfe in den Stand setzen, den Sieg über diese Feinde zu erfechten. Unsere Scharfschützen rufen, wenn sie angreifen (10 gegen 100), einander zu: „Gedenkt der Weiber und der Kinder!“ und dann fliegt Alles vor ihnen dahin, wie Spreu vor dem Winde.“
  2. Während des Krim-Feldzuges hat sich bekanntlich das System des Officierstellenkaufs in der englischen Armee als nachtheilig und gefährlich so deutlich herausgestellt, daß man endlich ernstlich mit einer Reform desselben umgeht. Das Unglück in Indien mit seinem blutigen Gefolge hat wiederum großentheils in jenem Stellenkaufe eine, wenn auch entferntere Veranlassung, und so wird man obigen Artikel mit Interesse lesen.
    D. R.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_498.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)