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Ein Weiblein, grau von Haaren,
Dort an dem Rocken spann,
Sie hatte wohl nichts erfahren
Vom strengen Spindelbann.

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Die Fürstin, die noch nimmer

Gesehen solche Kunst,
Sie trat in Weibleins Zimmer:
Wer bist du, mit Vergunst?

„Man nennt mich, schönes Liebchen!

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Die Stubenpoesie;

Denn aus dem trauten Stübchen
Verirrt’ ich mich noch nie.
Ich sitz’ am lieben Platze
Beim Rocken, wandellos,

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Meine alte, blinde Katze,

Die spinnt auf meinem Schooß.

Lange, lange Lehrgedichte,
Die spinn’ ich recht mit Fleiß,
Flächsene Heldengedichte,

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Die haspl’ ich schnellerweis’.

Mein Kater maut Tragödie,
Mein Rad hat lyrischen Schwung,
Meine Spindel spielt Comödie
Mit Tanzbelustigung.“

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Die Fürstin thät erbleichen,

Als man von Spindeln sprach,
Sie wollte flugs entweichen,
Die Spindel sprang ihr nach;

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_249.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)