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entreißen lassen, daß er ein Deutscher sei. 1521 hat er seinen Wohnsitz von den Niederlanden nach Basel verlegt und empfängt hier, wie schon vorher in den Niederlanden, die Pilgerfahrten seiner deutschen Anhänger, die jetzt fast die größte Gruppe seiner Weltgefolgschaft bilden. Basel wird durch ihn ein Mittelpunkt der humanistischen Bewegung, wie sie ihn bisher nicht besessen hatte. Aber Erasmus wird die Furcht vor der ferocia der Deutschen nicht los. Seinem Alcibiades-Hutten schickt er mit Bedacht ein Charakterbild seines englischen Freundes Thomas Morus als Muster einer vornehmen und ausgeglichenen Humanität. Im Reuchlinschen Handel hat er auch Partei genommen, aber vor allem, um zu verhindern, daß sich hier ein „Tumult“ erhebe, denn in einem solchen sah er die schwersten Gefahren für den Fortschritt der neuen Bildungsreligion. In der großen Vorrede zu der neuen Ausgabe des Enchiridion von 1518 an den elsässischen Abt Paul Volz hat er doch wohl den deutschen Freunden eine Art von Programm der humanistischen Bewegung, wie er sie wünschte, geben wollen. Die humanistische Überzeugung, daß die Wahrheit am besten in der Stille wirke, ist auch bei diesem ewig agitatorischen Geiste doch die Grundstimmung.

Bei den Deutschen fehlt das Bewußtsein dieses Gegensatzes. Wie bei Hutten, so sehen wir bei den allermeisten einen fast naiven Glauben, daß sie mit ihrem Kampf gegen Hierarchie, Romanismus und Courtisanenwesen einfach Partisane in dem großen von Erasmus geführten Kampf gegen die Barbarei seien und daß gerade Deutschland in diesem Kampf die erste Stelle gebühre.

Aber es gibt unter ihnen doch einen Mann, bei dem wir wenigstens den inneren Widerspruch zwischen der romantischen und der aufklärerischen Tendenz beobachten können. Das ist Aventin[1]. Freilich muß man bei der Beurteilung seines Wesens und seines Werkes zwei Dinge in Anschlag bringen, zunächst daß Aventin ein echter Sohn seines bayerischen Stammes ist. Er zeigt als Hauptzug die stammesmäßige Empfindlichkeit, die aus instinktmäßigen Abwehrgefühlen eines bäuerlichen Daseins entsteht und bei ihm zum erstenmal in die große literarische Form hineinwächst.

  1. Eine einigermaßen genügende Biographie fehlt. Das Beste hat Sigmund Riezler im Nachwort zu seiner Ausgabe der Annalen (Johannes Turmair’s Sämtliche Werke. München, Kaiser 1891 ff.) Bd. 3 und in seiner Geschichte Baierns Bd. 6 (Gotha, Perthes 1903), S. 389 ff. gegeben.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_047.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)