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Theologie erhalten. Dazu ist es nicht gekommen, und auch das Werk ’De inventione’ blieb zunächst ungedruckt. Dann aber zogen es holländische Anhänger des Erasmus ans Licht. Es wirkt auf Erasmus selbst, auf seinen getreuen Schildknappen Ökolampad, auf die Juristen der Zeit, auf Melanchthon. Und das von Agricola gegründete System der Loci als Fundstätten der Begriffe wird die Grundlage einer humanistischen Systematik, die, wie wir sehen werden, auch wesentlich für die Reformation wird. Ob und wie weit gerade durch Agricola die humanistische Bewußtseinsstellung in die Schulen der Brüder vom gemeinsamen Leben selbst eingedrungen ist, müßte erst noch einmal untersucht werden. Es spricht dafür, daß Hegius sein Schüler war.

Eine andere Abwandlung des Problems zeigt Mutian[1]. Er ist in Deventer Mitschüler des Erasmus gewesen, dann früh nach Italien gekommen. Sein Jugendleben scheint in den Bahnen des humanistischen Vagantentums zu verlaufen, aber das entspricht nicht seiner im Grunde beschaulichen Art. Er sucht ein Leben für sich. Zunächst scheint es sich bei ihm um einen ganz ähnlichen Fall zu handeln wie bei Petrarca. Die Kultur der Seele als Selbstzweck führt den Sekretär der hessischen Kanzlei in die beata tranquilitas beim Dom zu Gotha. Ein lebendiges Bildungsbedürfnis, rein ästhetisch orientiert, macht diese Einsamkeit zum Mittelpunkt einer literarischen Agitation, die in ihren Interessen ganz universal und in ihrer Haltung gegen die Umwelt ganz kritisch ist[2]. Der Unterschied Mutians gegen Petrarca liegt aber auch in der anderen räumlichen und geistigen Umgebung, in der beide leben. Es handelt sich bei Mutian nicht mehr um eine von ritterlichem Geist und Scholastik eingenommene Welt und ebenso wenig um ein erst noch zu entdeckendes Altertum. Was Mutian flieht, ist die Plattheit des Lebens, die sich ihm zunächst in dem eigenen Konvent, dann aber schließlich überall in der Welt zeigt. Und was er sucht, ist das Göttliche, das sich durch alle Zeiten hindurch gleich bleibt. Daher seine berühmten freigeistigen, pantheistisch klingenden Äußerungen, seine Kritik an den Zeremonien,

  1. Zeugnis der Briefwechsel Mutians, der zweimal, von Krause und Gilbert, herausgegeben ist. Die Ausgaben ergänzen sich gegenseitig. Fr. Hallbauer, Mutianus Rufus und seine geistesgeschichtliche Stellung, Leipzig 1929, bietet für dieses Problem wenig.
  2. Briefe ed. Gilbert Nr. 93, S. 134.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_038.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)