Herbert Spencer bemerkt: „die Musik regt schlummernde Empfindungen auf, deren Möglichkeit wir nicht begriffen hätten und deren Bedeutung wir nicht kennen“, oder wie Jean Paul sagt: „sie erzählt uns von Dingen, die wir nicht gesehen haben und nicht sehen werden“. Umgekehrt werden, wenn lebhafte Erregungen gefühlt und vom Redner ausgedrückt oder selbst in der gewöhnlichen Sprache erwähnt werden, musikalische Cadenzen und Rhythmus instinctiv gebraucht. Wird der africanische Neger erregt, so bricht er häufig in Gesang aus; „ein andrer antwortet mit Gesang, während die übrige Gesellschaft, als wäre sie von einer musikalischen Welle berührt, in vollkommenem Gleichklang einen Chor murmelt“.[1] Selbst Affen drücken starke Gefühle in verschiedenen Tönen, Aerger und Ungeduld durch niedrige, Furcht und Schmerz durch hohe Töne aus.[2] Die durch Musik oder durch die Cadenzen leidenschaftlichen Redevortrags in uns angeregten Empfindungen und Ideen erscheinen, wegen ihrer Unbestimmtheit aber doch Tiefe, wie geistige Rückschläge auf Erregungen und Gedanken einer lange vergangenen Zeit.
Alle diese Thatsachen in Bezug auf Musik und leidenschaftliche Rede werden in einer gewissen Ausdehnung verständlich, wenn wir annehmen dürfen, dass musikalische Töne und Rhythmen von den halbmenschlichen Urerzeugern des Menschen während der Zeit der Brautwerbung gebraucht wurden, in einer Zeit, in der Thiere aller Arten nicht nur von Liebe, sondern auch von den starken Leidenschaften der Eifersucht, Rivalität und des Triumphes erregt werden. In diesem Falle werden nach dem tief eingepflanzten Principe vererbter Associationen musikalische Töne sehr leicht in einer vagen und unbestimmten Art die starken Erregungen einer längst vergangenen Zeit hervorrufen. Da wir allen Grund zu vermuthen haben, dass die articulirte Sprache, wie sie sicher die höchste ist, eine der am spätesten vom Menschen erlangten Künste ist, und da das instinctive Vermögen, musikalische Töne und Rhythmen zu produciren, in der Thierreihe sehr weit hinab entwickelt ist, so wäre es durchaus mit dem Principe der Entwickelung in Widerspruch, wenn wir annehmen sollten, dass die musikalische Fähigkeit des Menschen sich von den in der leidenschaftslosen Rede benutzten Tönen aus entwickelt hätte. Wir müssen annehmen,
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/330&oldid=- (Version vom 31.7.2018)