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Aber ach, die Sonne spielet

Ewig nur mit meiner Qual,
Ewig, ewig sie mir zielet,
Nimmer tötet mich ihr Strahl.

Wenn so rasch die Wolken fließen

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Um den nackten Feuerball,

Alle Narben sich erschließen,
Aufstehn meine Sünden all.

So wenn einst die Engel ziehen
Mit der Zornposaune Schall,

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Nahn die Toten aufgeschrieen

In des Wahnes Widerhall.

Nieder schmilzt der Sonne Siegel
Vor des Richters jüngstem Tag,
Es zerbricht des Todes Riegel,

40
Klar steht, was verloren lag.


Und der ewgen Schönheit Spiegel
Spiegelt jegliche Gestalt,
Und des Rechtes Feuertiegel
Prüfet jeglichen Gehalt.

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Wohin soll ich dann mich schmiegen,

Wenn das Licht hoch überwallt?
In dem Staube werd ich kriechen
Mit der Schlange Mißgestalt.

Weh, die Sonne sinkt, vergießend

50
Blutge Tränen ohne Zahl,

Und aus ihren Tränen sprießen
Tausend Tränen bittrer Qual.

Und es weinen die Verliebten
Einsam in vergeßner Schmach,

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_089.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)