und dadurch zur Gewinnung innerlich erneuerter melodischer Wertbegriffe zu gelangen.
Nun sind solche Versuche an sich nichts eigentlich Neues, sie lassen sich überall beobachten, wo zwei Zeitalter und zwei Weltanschauungen miteinander kämpfen. Die Melodik der Romantiker ist etwas durchaus anderes als die Melodik der Wiener Klassiker. Als Schumann, Chopin, Wagner und Liszt auftraten, hat man geradeso gezetert über den Mangel an Melodie, wie heutzutage. Man hat gespöttelt über die sogenannte „unendliche Melodie“ Wagners, man hat Liszt für einen Phrasendrescher, Schumann für einen dilettantischen Scharlatan, Chopin für einen Tonklingler erklärt. Das Neue, was diese und die anderen Romantiker - auch der leichter eingängliche und daher williger anerkannte Mendelssohn – brachten, war die poetische Beseelung der Melodie, die Entwicklung und Fortspinnung des melodischen Gedankens im Zusammenhang mit dem poetischen. Für die damaligen Musiker war dies die natürliche Fortsetzung des von Beethoven gebahnten Weges. Das Streben nach Verschmelzung verschiedenartiger künstlerischer Anregungen lag im Wesen der romantischen Kunst und war für jene Zeit auch das einzige Mittel, sich das große, an sich einstweilen noch unangreifbare Vermächtnis der Klassiker im zeitgemäßen Sinne nutzbar zu machen. Die romantische Bewegung war evolutionären Charakters, sie rüttelte nicht an den Grundlagen, sie baute sich den Klassizismus nach ihren Gesichtspunkten um. Wir stehen heut dem Zusammenbruch jener klassisch-romantischen Kunst gegenüber. Über die genialen Barockschöpfungen eines Wagner und Liszt hinaus ist sie zur technischen Künstelei, zu einem Talentspiel mit ausgemünzten Werten geworden. Stellt eine Erscheinung wie Richard Strauß nicht das künstlerische Gegenstück dar zu dem, was wir im heutigen Wirtschaftsleben Industrialismus und Kapitalismus nennen? Ich spreche hauptsächlich von der Art seines künstlerischen Gehabens, wie es
Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/014&oldid=- (Version vom 31.7.2018)