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Autor: Moritz Brosch
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Titel: Schuldig oder non liquet?
Untertitel: Zur Streitfrage über Maria Stuart.
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 1 (1889), S. 49–60.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br
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Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Siehe auch Maria Stuart (1542–1587)
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[49]
Schuldig oder non liquet?
Zur Streitfrage über Maria Stuart.
Von
Moritz Brosch.


Um die Mitte des Jahres 1566 gelangte an den englischen Hof die Nachricht aus Schottland, dass Graf Bothwell über Maria Stuart alles vermöge, dass er, der verrufenste der schottischen Edelleute, in höheren Gnaden bei ihr stehe, als alle übrigen Höflinge zusammengenommen[1]. So erscheint Bothwells Namen, der den schwärzesten Schatten auf Mariens Charakter wirft, zuerst in inniger Verbindung mit dem der Königin. Es war Bothwell, der die Vorbereitungen zur Ermordung des Königin-Gemahls, Henry Darnley, in die Hand genommen und am 9. Februar 1567 zum erwünschten Ende geführt hat. Es war Maria Stuart, die den kranken Darnley von Glasgow nach Edinburgh gebracht und in dem einsam gelegenen Hause einquartirt hatte, in dessen Kellerraume die Pulvermenge aufgehäuft wurde, die genügend war, es in die Luft zu sprengen[2]. Sehr bald nach der grauenhaften [50] That verbreitete sich die Kunde, dass Maria Stuart den Mann heirathen wolle, der sie durch Mord von ihrem zweiten Gatten befreit hatte; schon im März schrieb Will. Drury an Cecil, es herrsche die Ueberzeugung im Volke, dass die Königin mit Bothwell sich verheirathen werde[3], und im April liess Murray, auf der Reise nach dem Festland begriffen, gegen den spanischen Botschafter in London die Andeutung fallen, dass solches geschehen könne. Vergebens warnten die Königin ihre getreuen Anhänger, James Melville und Lord Herries, vor dieser allgemein anstössigen Ehe. Am 15. Mai, also im Beginne des vierten Monats nach Darnley’s Ermordung, heirathete Maria Stuart den Mörder desselben, den Grafen Bothwell. Alles dies, so erstaunlich es klingt, ist nicht Roman, sondern Geschichte und steht unverrückbar fest, wird auch von keiner Seite mit irgendwie ernsten Gründen bestritten.

Der Zweifel beginnt bei der Frage, ob Maria Stuart im Voraus gewusst habe, was Bothwell gegen Darnley plane, und ob sie mit der Ausführung des schrecklichen Planes einverstanden gewesen. Auch diese Frage würde längst aufgehört haben, controvers zu sein, wenn die berüchtigten Cassettenbriefe, aus denen sich ein vernichtendes Selbstgeständniss der Königin ergibt, durchgängig echt wären. Wie weit die Fälschung derselben sich erstrecke, und wie es mit dem versuchsweise schon früher angetretenen, jüngsthin wieder versuchten Beweise stehe, dass nicht bloss einer der Briefe, sondern auch die übrigen sieben gefälscht seien – will ich hier ganz auf sich beruhen lassen. Ich setze hypothetisch den Fall, der Beweis sei erbracht, und es habe seine volle Richtigkeit mit demselben. Allein, selbst wenn es wirklich und nicht bloss hypothetisch sich also verhielte, was wäre denn eigentlich dabei gewonnen? Nichts anderes, als dass die Cassettenbriefe die unwiderleglichen Beweisstücke nicht sind, für welche sie sonst gelten könnten. Einzig dieses und nichts weiter. Daraus aber schon den Schluss zu ziehen, dass die Unschuld der Königin, weil die am schwersten wiegenden Schuldbeweise als Machwerk von Feinden erkannt worden, eine ausgemachte Sache sei, würde sich für einen Advocaten schicken, der die Partei Maria Stuarts zu vertreten hätte, nicht für den Historiker, dem seine Stellung angewiesen ist über den Parteien.

[51] Von den Cassettenbriefen ganz und gar abgesehen, verbietet uns eine Reihe geschichtlicher Thatsachen, die Beschuldigung Maria’s wegen Gattenmordes so schlechthin zurückzuweisen. Es sind Thatsachen, denen mittelst der gebräuchlichen Methode der Vertheidiger Maria Stuarts nicht beizukommen ist. Mit dieser Methode hat es nämlich die sonderbare Bewandtniss, dass sie den, der sie anwendet, unmerklich auf den Punkt führt, von dem aus betrachtet als gefälscht erscheint, was zu Lasten der Königin spricht, und als echt und glaubwürdig, was zu ihrer Entlastung sich tauglich erweist. Treten nun Dinge hervor, welche diesen Aussichtspunkt versperren, so werden sie mit dem Mantel des Schweigens bedeckt, oder man gibt ihnen, den widerspenstigen Dingen, eine nach Thunlichkeit harmlose Auslegung. Allein schweigen heisst nicht widerlegen, Verdächtiges für harmlos erklären heisst nicht es aus der Welt schaffen.

Als in Schottland bei Hofe kein Zweifel daran herrschen konnte, dass Maria Stuart die Ermordung Riccio’s ihrem Gemahle nicht verziehen habe und zum Mindesten durch eine Ehescheidung sich an ihm rächen wolle, traten fünf Lords, darunter Bothwell und der überschlaue Maitland von Lethington, vor die Königin und machten ihr den Vorschlag, dass sie die von ihr gewünschte Ehescheidung in die Hand nehmen und zu einem glücklichen Ende führen wollten. Die Königin erhob den Einwand, dass aus der Scheidung sich Folgen ergeben würden, welche die Legitimität ihres vor etwa sechs Monaten geborenen Sohnes in Frage stellen könnten. Darauf nahm Lethington das Wort und sagte: „Madame, wir sind hier die Häupter von Eurer Gnaden Regierung und Adel, wir werden die Mittel finden, dass Eure Majestät ohne Präjudiz für Jhren Sohn den Gemahl loswerden, und obgleich Lord Murray hier nur um ein kleines weniger scrupulös als Protestant ist, denn Sie als Papistin, wird er dabei durch die Finger sehen und nichts sagen, während wir handeln.“ Murray schwieg auch in der That; später wollte er gar solche Worte nicht vernommen oder ihnen weiter keine üble Deutung gegeben haben. Maria Stuart erwiderte: „Ich möchte nichts gethan sehen, was meine Ehre und mein Gewissen berührte; denn indem Ihr Gutes mir erweisen wollt, könnte es leicht zu meinem Schaden und Missfallen sich wenden.“ Was Lethingtons Aeusserung bedeute, dass sie nichts anderes bedeute, [52] als was zwei Monate später sich mit Darnley ereignet hat, seine gewaltsame Beseitigung, musste die Königin, die ja nicht stumpfsinnig war, verstehen. Ihre Gegenäusserung war desshalb klug und weise gesetzt; aber eine unzweideutige Ablehnung, ein strenges königliches Gebot, von der Sache abzulassen, war es nicht.

Die Scene, die sich hiermit abgespielt hatte[4], gleicht derjenigen, die vor dem Papste Sixtus IV. gespielt wurde, als sein Nepot Girolamo Riario und dessen Spiessgeselle Montesecco die geplante Ermordung der Gebrüder Medici andeutungsweise vor ihm zur Sprache brachten. Nach der wiederholten Betheuerung, er wolle kein Blut sehen, sagte damals der Papst den beiden Versuchern: „Ich bin es zufrieden, dass Ihr diese Barke lenket, nehmet aber der Ehre des hl. Stuhles in Acht.“ Wie man immer über die Willensäusserungen des Papstes und der Königin denke, wenn sie deutlicher gelautet hätten, würde man wissen können, ob Maria Stuart und Sixtus den Mord gewollt oder nicht; jetzt weiss man nur, dass beide auf Ehre und Gewissen sich berufen, aber ein unbedingtes Verbot des Mordes nicht über die Lippen gebracht haben.

Wenn freilich der Angabe eines sehr übel berufenen Zeugen sich Glauben schenken liesse, wäre Maria Stuart mit der Absicht, Darnley ermorden zu lassen, denn doch aufs deutlichste hervorgetreten: sie hätte Sir James Balfour direct aufgefordert, den Mord auszuführen und, als er sich dessen weigerte, ihn einen Feigling gescholten[5]. Die Nachricht klingt unglaublich, wäre es aber an und für sich genommen mit nichten. Wir haben uns gegenwärtig zu halten, dass diese Königin und Philipp II. Zeit- und Gesinnungsgenossen waren: dieselben Triebfedern, die den spanischen Herrscher in Bewegung gesetzt, müssen auch auf sie gewirkt haben, und Handlungen, die er für erlaubt hielt, können nicht ihr als verwerflich erschienen sein. Denn dass ihr Gewissen zarter besaitet gewesen, als das seinige, ist leicht gesagt, [53] aber schwer zu denken und gar nicht zu beweisen. Wie er den Mord Escovedo’s und Montigny’s anbefohlen hat, so hätte sie den ihres Gemahls einzuleiten versuchen können, und wir brauchten uns darüber nicht zu verwundern. Unbequeme Menschenleben in bequemer Art aus dem Wege zu räumen, galt ihnen beiden als Vorrecht der souveränen Gewalt; einen Mord abscheulich zu finden, wenn er ihnen passte, däuchte sie beide ein bürgerliches Vorurtheil. Philipp hat auf Oraniens Kopf einen Preis gesetzt und diese ruchlose Preisausschreibung öffentlich erlassen; Maria Stuart ist es sehr zufrieden gewesen, als ihr Halbbruder, den sie hasste, unter Mörderhand fiel: sie wollte dem Mörder desselben eine Pension aussetzen[6], und sie hat, wenngleich dazu provocirt, sich nicht entblödet, an Babingtons Verschwörung gegen das Leben Elisabeths Theil zu nehmen. Dass sie an Sir James Balfour das Ansinnen gerichtet habe, er möge ihren Gatten meuchlings bei Seite schaffen, wäre desshalb leicht zu glauben, wenn dieser Sir James es nicht ausgesagt hätte, und wir es von anderer, verlässlicher Seite erfahren würden. Seine Aussage aber ist werthlos, weil sein Charakter die Falschheit und Käuflichkeit selbst war.

Vier Wochen waren nach Darnley’s Tode verflossen, Placate auf Placate, die Bothwell des Mordes beschuldigten, in Edinburgh angeschlagen worden. Man forschte nach den Urhebern derselben und wollte einen von ihnen entdeckt haben. Gegen diesen erliess die Königin eine Proclamation, mit der sie ihn des Hochverraths schuldig erklärte, weil er ihre Majestät geschmäht und verleumdet habe; allen denen, die ihm zur Flucht verhelfen sollten, ward mit dem Tode gedroht[7]. Sie wollte Bothwell, das ist klar, geschont haben und dessen Ankläger, als einem des Hochverraths Schuldigen, das Wort abschneiden. Wollte sie es, weil das Bewusstsein ihrer Schuld sie drückte, oder in Verblendung der Leidenschaft, die der Schändliche ihr eingeflösst hat? – Das ist eine offene Frage, der gegenüber es gleichfalls eine offene Frage bleiben muss, ob Marien eine Schuld am Morde trifft oder nicht. Man wird vielleicht einwenden: sie hatte keine [54] Ahnung davon, dass Bothwell der Mörder sei, dass sie folglich durch Erlass der Proclamation sich selbst blossstelle[WS 1]. Allein die Sache war notorisch: ganz Edinburgh wiederhallte von den Anklagen gegen ihn. War denn Maria Stuart taub, dass sie den Wiederhall nicht vernommen hätte?

Binnen kurzer Frist stellte sich heraus, dass königliche Proclamationen nicht genügend seien, eine gerichtliche Untersuchung des grässlichen Falles hintanzuhalten. Man musste eine solche anordnen; Zeit und Form derselben ward durch den geheimen Staatsrath bestimmt, in dem Bothwell Sitz und Stimme hatte und keines der Mitglieder ihm zu widersprechen wagte. Graf Lennox, der Vater Darnley’s, ward nach Edinburgh vorgeladen, wo er seine Klage wider Bothwell vor Gericht zu begründen habe. Es wurden ihm nur 14 Tage Frist gegeben, um deren Verlängerung er nachsuchte. Da er jedoch wusste, dass Maria Stuart seinem Begehren zu willfahren nichts weniger als geneigt sei, richtete er an Königin Elisabeth das Gesuch: sie möge die Gewährung seiner Bitte um Fristverlängerung befürworten. Elisabeth schrieb sofort an die Schottenkönigin in dem von Lennox gewünschten Sinne; der Ueberbringer des Briefes sprengte mit verhängten Zügeln nach der englischen Grenzfestung Berwick, deren Befehlshaber, Sir Will. Drury, das Schreiben einem Officier übergab, dem Generalprofossen der Festung, der es spornstreichs nach Edinburgh trug und hier der Maria Stuart einhändigen sollte.

Am frühen Morgen des Tages, auf den die Gerichtssitzung anberaumt war, traf dieser Bote ein und begehrte im königlichen Palaste Zutritt, der ihm aber, weil Ihre Majestät noch schlafe, verweigert wurde. Als er nach ein paar Stunden wiederkehrte, fand er alle Zugänge des Palastes von der bewaffneten Gefolgschaft Bothwells besetzt und konnte nicht durchkommen. Es erschienen Bothwell und Lethington, denen er das Schreiben Elisabeths übergeben musste; sie kehrten mit demselben in den Palast zurück, um jedoch nach einer halben Stunde wieder hervorzukommen und dem englischen Officier zu eröffnen: die Königin schlafe noch immer; der Brief werde ihr eingehändigt werden, wenn sie ihr Lever gehalten habe. Dann schwang sich Bothwell in den Sattel und warf, bevor er nach dem Gerichtslocale ritt, einen Blick nach den Fenstern des königlichen Schlafgemachs. [55] Aus einem derselben winkte ihm die Königin ihren Gruss zu[8].

Man wird fragen: Ist das auch wahr? Ist’s zu glauben, dass eine Königin dem Manne, der sich wegen Meuchelmords vor die Schranken des Gerichts verfügte, ihren freundlichen Gruss mit auf den Weg gegeben? – Die Sache wird von Sir Will. Drury an den englischen Staatssecretär Cecil berichtet, und man wäre geneigt, diesem Sir William, dessen Parteinahme gegen Maria Stuart nicht zu leugnen ist, die Eigenschaft eines verlässlichen Gewährsmannes abzusprechen. Aber seine Parteilichkeit konnte nicht so weit gehen, dass er, nur um der Schottenkönigin eins anzuhängen, sich selbst geschadet hätte: er musste den Bericht des Officiers, den er nach Edinburgh entsendet hatte, genau so wiedergeben, wie er ihm geworden, weil ihm sonst Gefahr drohte, bei Elisabeth und Cecil, die auf wahrheitsgetreue Berichterstattung etwas hielten, ausser Credit zu kommen. Ist dies aber der Fall, so darf man sich nicht einbilden, besser zu wissen, was Maria Stuart in dem Momente gethan hat, als der Officier es wusste, der mit eigenen Augen es gesehen hat. Möglich ist nun, dass die Königin trotz allem, was geschehen war und ihr zur Kenntniss gelangt sein musste, Bothwell nicht für den Mörder ihres Gatten hielt; möglich aber auch, dass ihr Gruss dem Mitschuldigen galt, der ihre eigene Sache vor Gericht zu vertreten ging. Welches von beiden der Fall gewesen ist, entzieht sich aller Berechnung, und eben desshalb, wie auch aus andern Gründen, auf die ich gleich zu sprechen komme, ist es fraglich, aber keineswegs ausgemacht und entschieden, ob Maria Stuart den an Darnley begangenen Mord nicht mitverschuldet habe.

Da es ohne die geringste Anwandlung von Scham darauf eingerichtet worden, dass der Ankläger, Graf Lennox, nicht erscheinen könne, schloss die Gerichtsverhandlung mit der Freisprechung Bothwells. Allein der possenhafte Act dieser Freisprechung hat die Stimmen, welche Bothwell und die Königin der entsetzlichen That beschuldigten, nicht zum Schweigen gebracht. [56] Um die öffentliche Meinung zu beschwichtigen, wurde in dem alsbald eröffneten Parlamente die Stellung der protestantischen Kirche gesetzlich geregelt und, etwas später, die Abhaltung des katholischen Gottesdienstes aufs strengste verpönt[9]. Maria Stuart, die eifrige Katholikin, gab zu allem ihre Zustimmung; ja ihre Trauung mit Bothwell erfolgte nach calvinschem Ritus. Was nichts auf der Welt über sie vermocht hätte, bewirkte die Macht der Liebe oder die Furcht vor drohenden Entdeckungen.

Um den Eheschluss mit dem Geliebten zu beschleunigen, oder unvermeidlich erscheinen zu lassen, war Maria Stuart damit einverstanden, dass Bothwell sie nach Dunbar entführe und so den Schein hervorrufe, als nehme sie ihn gezwungen zum Gemahl, als könne sie, um ihre Ehre zu retten, sich nicht anders helfen. James Melville, der bei dem Acte der Entführung gegenwärtig war, stellt es in seinen Memoiren ausser Zweifel, dass die Königin, nach ihrem Betragen in dem Falle zu urtheilen, weder überrascht, noch überwältigt wurde; ihm gegenüber machte man kein Hehl daraus, und er verzeichnet dies, ohne es in Abrede zu stellen, dass ihr nur geschehe, was von ihr mit Bothwell vereinbart worden. In eben dem Sinne sprach sich der katholische Vertrauensmann aus, welcher de Silva, den spanischen Botschafter in London, mit Nachrichten aus Schottland bediente[10], und derselben Ueberzeugung war man auch am französischen Hofe[11]. Der Versuch, diesen Aussagen mit dem Einwand zu begegnen, dass die Entführung bei Foulbriggs oder Fountainbridge, [57] in unmittelbarer Umgebung, so zu sagen einer Vorstadt von Edinburgh stattgefunden habe und die Betheiligten nicht bei Sinnen gewesen sein müssten, die Comödie dort aufzuführen, wo die Gefahr der Entlarvung am nächsten lag – dieser Versuch hätte etwas auf sich, wenn nicht durch Dr. Chalmers urkundlich festgestellt worden wäre, dass der Ort der Entführung anderswo zu suchen ist: bei der Brücke nämlich, die zwei Meilen von Edinburgh entfernt über den Fluss Almond geführt hat.

In Dunbar war Maria die Gefangene Bothwells, wenn anders eine Gefangenschaft, in die sie sich freiwillig begeben hat, diesen Namen verdient. Was nun da zwischen dem Entführer und der Entführten vorging, erfahren wir nur in dunkler Andeutung, aus der sich ebenso gut alles wie nichts schliessen lässt. Maria Stuart hat später geschrieben, dass Bothwell, um ihre Einwilligung zu erlangen, es an Bitten und ungeziemenden Forderungen nicht fehlen liess, ja selbst vor Anwendung von Gewalt nicht zurückgeschreckt sei. Allein diese Aeusserung der Königin entspricht dem Zwecke, der mit der Entführung verfolgt ward; ob sie der Wahrheit entspricht, steht sehr dahin. Denn wer nimmt sich mit Gewalt, was er schon vordem in Güte gehabt hat! Und nach allem zu schliessen, was seit Darnley’s Tode vorgekommen war, gehörte eine ausserordentliche Naivetät dazu, sich das Verhältniss zwischen Maria und ihrem Geliebten als ein reines vorzustellen, das erst in Dunbar befleckt worden wäre. Als Bothwell nach Dänemark entflohen war, soll er dessen Könige, unter Vermittlung des französischen Gesandten Dauzay, gestanden haben, dass er Maria Stuart in Dunbar gewaltsam dahin gebracht habe, sich ihm preiszugeben. Das Actenstück, welches dieses Geständniss enthält, ist auf der königlichen Bibliothek des Schlosses Drottningholm in Schweden; ob es echt oder eine Fälschung sei, wäre erst zu untersuchen. Vollends verdient die Nachricht, dass Bothwell auf seinem Todtenbette bekannt habe, dass er sich magischer Künste bedient, um die Königin zu bethören, auch nicht den geringsten Glauben. Erst müsste doch bewiesen sein, dass es solche magische Künste gibt. Und wenn er dergleichen auf seinem Todtenbette ausgesagt hat, so passte darauf das Wort, das Lessing im Nathan dem Saladin in den Mund legt: „Gar sterbend! – nicht auch faselnd schon?“

Die Hartnäckigkeit, mit der Maria Stuart an ihrem dritten [58] Gemahl, nachdem sie ihn längst als Mörder ihres zweiten erkannt haben muss, unentwegt festhielt, mit der sie sich weigerte, durch ihre Einwilligung zur Scheidung die Gewalt der Katastrophe zu ermässigen, welche über sie hereingebrochen war: diese ihre Hartnäckigkeit wäre ein Verdachtsgrund mehr für ihre Mitschuld an Darnley’s Ermordung. Allein aus Verdachtsgründen ein Urtheil schöpfen oder solche für hinfällig erklären, ist beides gleich leicht und in vielen Fällen gleich unrichtig. Was wissen wir denn von den Motiven, welche die Königin bestimmt haben, lieber das Schlimmste zu ertragen, als durch Preisgebung Bothwells den Versuch zu machen, es von sich abzuwenden? Hat Liebe sie so weit verblendet? oder hat die Furcht auf ihr gelegen, dass eine gründliche Untersuchung von Bothwells Schuld auch die ihrige ans Licht bringen werde? oder glaubte sie, dass ihre Feinde, auch wenn sie sich von Bothwell trennen wollte, ihr dennoch unerbittlich das Verderben bereiten würden? oder war ihr der Grund massgebend, den sie selbst Nicholas Throckmorton, dem Gesandten Elisabeths, zu wissen gegeben hat[12][WS 2], dass sie nämlich ein Kind unter ihrem Herzen trug, welches sie durch Scheidung der Ehe mit Bothwell nicht zum Bastard stempeln wollte? – Man möchte beinahe letzteres glauben, zumal sich kaum bezweifeln lässt, dass die Königin während ihrer Gefangenschaft auf Schloss Lochleven eine Tochter gebar, die nach Frankreich gebracht, in einem Nonnenkloster von Soissons erzogen wurde und daselbst den Schleier genommen hat[13]. Es ist demnach möglich, dass Maria Stuart, wenn sie gegen eine Scheidung sich sträubte, aus mütterlicher Angst und Vorsicht gehandelt hat; es ist ebenso möglich, dass in dem Falle ganz andere Beweggründe entscheidend auf sie gewirkt haben. Ueber den psychologischen Vorgang, der bei dem Anlass in der Seele Maria’s spielte, gibt uns Niemand Auskunft, und ohne solche [59] bleibt es eine müssige Sache, erforschen zu wollen, ob diese Königin durch das drückende Bewusstsein einer gemeinsamen schweren Schuld oder durch Motive besserer Art an Bothwell gefesselt war.

Fasst man alles zusammen, so kann man sich der Einsicht nicht erwehren, dass Maria’s Betragen gegen den Mörder Darnley’s einer unanfechtbaren Freisprechung von der Schuld des Gattenmords im Wege stehe. Und man könnte das die Königin belastende Material nach Belieben vervollständigen, könnte die Aussagen aufführen, die einerseits von Crawford, dem Vertrauensmann, und Nelson, dem Diener Darnley’s, andererseits von Bothwells Mitschuldigen und Helfershelfern, Nicolaus Hubert alias Paris, Powrie und Hepburn abgegeben wurden; sie enthalten eine Kette von Thatsachen, die als Indicienbeweis gegen Maria Stuart zu verwerthen keine Kunst wäre und auch schon versucht wurde. Allein bei diesem Beweise darf man sich aus dem Grunde nicht beruhigen, weil jene Aussagen nicht ganz von Widersprüchen frei sind und theils vor dem schottischen Staatsrath und schottischen Gerichten, theils vor der in York niedergesetzten englischen Commission abgegeben wurden, also immerhin dem Zweifel Raum gönnen, ob sie nicht parteiisch zugerichtet und protocollirt sind, ob man dem Gedächtniss oder Uebelwollen der Vernommenen nicht durch Verheissungen oder Zwangsmittel nachgeholfen habe.

Die Frage steht, was immer über dieselbe geforscht oder gefabelt worden, noch genau auf dem Punkte, wo sie Robertson schon im vorigen Jahrhundert, mit seiner ungemein gründlichen und, soweit die damals vorhandenen historischen Belege reichten, erschöpfenden Untersuchung gelassen hat: aus den Thatsachen ist bei objectiver Betrachtung auch nicht entfernt etwas anderes zu ersehen, als dass Maria Stuart entweder sich des Gattenmordes schuldig fühlte, oder aber so thöricht gewesen ist, durch ihr Betragen vor und nach dem Morde, durch die einzelnen Stadien und den ganzen Verlauf ihres Liebesabentheuers mit Bothwell den Schein der Mitschuld auf sich zu laden.

Zwischen diesem Entweder-oder gibt es kein Drittes. Man hat also die Wahl, Maria Stuart für eine grosse Thörin oder eine grosse Verbrecherin zu halten. Gegen die erstere Annahme spricht alles, was vom Lebenslaufe dieser Königin uns bekannt [60] ist und was Zeitgenossen beinahe einstimmig von ihr ausgesagt haben. Somit wäre nicht zu verkennen, dass man nach Regeln der Wahrscheinlichkeit an ihre Schuld zu glauben hätte. Allein glauben ist nicht wissen, die grösste Wahrscheinlichkeit noch lange nicht eine mit Sicherheit ermittelte historische Wahrheit. Es gibt Probleme, denen gegenüber wir uns mit jener begnügen müssen, weil diese schlechterdings unerreichbar ist und die Bemühung, ein Unergründliches zu fassen, mit Nothwendigkeit zu groben Täuschungen führt. Solch ein Problem ist das vorliegende: es lockt zu tendenziöser Verarbeitung; es spottet exacter Lösung. Die völlige Aufhellung der Streitfrage, die Parteigeist und Hass auf der einen, Entrüstung und Mitleid auf der anderen Seite, mit Absicht oder unbewusst, verwirrt und verdunkelt haben, ist nach Lage der Dinge eine blanke Unmöglichkeit. Denn solch eine Aufhellung müsste schlechterdings darauf hinauslaufen, dass Maria’s Schuld oder Nichtschuld am Gattenmorde bewiesen würde, das heisst, dass nicht eine einzige Thatsache oder Zeugenaussage, die für das Gegentheil des zu Beweisenden spricht, unwiderlegt stehen bliebe. Auf Grund des uns dargebotenen, spröden und widerspruchsvollen Materials ist dies nicht zu leisten und wurde auch nicht geleistet. Es fehlt uns keineswegs an gewissenhaft vorgenommenen Untersuchungen des interessanten Vorgangs; aber zu einem unumstösslich gewonnenen Ergebniss haben sie nicht geführt. Immer wieder bleibt der Eindruck zurück, dass den beigebrachten Beweismitteln sich andere entgegenstellen liessen, welche gleich schwer oder schwerer ins Gewicht fallen und die scheinbar entschiedene Frage neuerdings in den Bereich des Zweifels, der Ungewissheit rücken. Und mit jedem Schritte über diesen Bereich hinaus läuft man Gefahr, ins Gebiet der Legende abzuschwenken vom Boden nüchterner historischer Forschung, auf dem sich als völlig sicher nur herausstellt: dass wir, in Ermanglung fester Anhaltspunkte zur Entscheidung der Schuldfrage, uns damit zufrieden geben müssen, dass Maria Stuart vielleicht Gattenmörderin gewesen ist, vielleicht auch – nicht.



Anmerkungen

  1. Calend. of State Pap. Foreign 1566–68 p. 93, 110.
  2. Bekanntlich ist Darnley nicht durch die Explosion getödtet worden, sondern vor derselben geflüchtet und auf der Flucht seinen Mördern in die Hände gefallen. Die gewöhnliche Lesart, wie das zugegangen sei, finde ich der Hauptsache nach bestätigt in einer venet. Depesche, welche die Erzählung des über Paris nach Schottland heimkehrenden savoyischen Gesandten La Morette reproducirt: Quando fù circa mezzanotte il Re senti romor grande… onde dubitando di quello che gli intravenne si calò giù d’una finestra che guidava sopra il giardino, ma non puote andar inanti, perche fù attorniato da alquanti quali con le maniche della sua camicia lo strangolorno etc. Dep. Giov. Correr. Paris 20. März 1567, Ven. Arch.
  3. Calend. of State Pap. ut supra p. 198.
  4. Der Beleg für selbe ist die Protestation der Lords Argyle und Huntley, die ihnen beiden von Maria Stuart zur Unterzeichnung gesendet worden; s. Anderson, Collection relat. to the hist. of Mary Q. Scotland. London 1728, IV, P. 2 p. 189. Der Protest Murrays gegen die ihm dabei zugemuthete Rolle ib. p. 194.
  5. Vergl. Froude IX, 115.
  6. Labanoff III, 341.
  7. Wortlaut der Proclamation, vom 12. März 1567, bei J. R. Burton, The Register of the Privy Counc. of Scotl. Edinb. 1877, I, 500.
  8. Calend. of State Pap. Foreign 1566–1568 p. 207, 230; hierzu die Instruction, mit der Elisabeth den Lord Grey nach Schottland senden wollte, ib. p. 215: „The Queen has also cause to mislike the usage of the Provost Marshal of Berwick sent with her letters, and earnestly requires that so open an insolence may be openly repaired.“
  9. D. Burton, Register a. a. O. I, 513.
  10. Froude IX, 64.
  11. Dep. Giov. Correr im Ven. Arch. Paris 30. Mai 1567: Altri all’ incontro dicono che ’l sforzo fosse volontario concertato da ella per fuggire in qualche parte il biasimo che di questo matrimonio le devrà seguire. – ib. 25. Juni: La Regina di Scotia ha mandato a queste Maestà il vescovo Domblanense il quale con una lunga diceria principiando dal nascimento di essa Regina… mostrò che la sua vita è stata sempre accompagnata da una instabile et dubiosa fortuna… concludendo in fine che anco questo matrimonio fatto all’ Ugonotta sia stato più tosto destino et necessità che propria ellezione. La iscusa fù sentita, ma da sue Maestà bene informate del fatto poco accettata, perche male si può attribuire a forza quello in che tanto apertamente è concorsa una spontanea volontà et premeditata deliberazione.
  12. Throckmortons Bericht an Elisabeth, 18. Juli 1567 im Calend. of State Pap. Foreign 1566–1568 p. 288. Schon einen Monat früher schrieb Bedford die Nachricht von Marias Schwangerschaft an Leicester, ib. p. 252.
  13. Selbst Labanoff und Lingard können nicht umhin, es für glaubwürdig zu halten, dass diese Tochter der Maria Stuart existirt hat; die Meldung von Erziehung und Einkleidung derselben in Soissons findet man bei Castelnau de Mauvissière, Mémoires ed. J. Le Laboureur. Bruxelles 1731, I, 648.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: blosstelle
  2. Vorlage (in der Anmerkung): 18. Juli 1867, Stade