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wird also der Buchstabe aufgelöst, soweit das irgend angeht. Das ist die Form der Verkehrsschrift, die uns als älteste überliefert ist in pompejanischen Wandkrizeleien aus sullanischer Zeit; daß sie darum unbedingt als älter anzusehen sei gegenüber der Form der Papyri, die erst aus dem 1. Jahrh. n. Chr. erhalten sind, ist damit nicht gegeben. Denn es ist wohl möglich, die Formen der Wachstafeln aus denen der Papyri zu entwickeln, aber nicht umgekehrt. Die Schrift der Papyri aber ist es, aus der die Uncialis entstanden und die für die weitere Entwicklung die Grundlage geworden ist.

Diese ältere römische Kursive (Taf. I c, 166 n. Chr. Vgl. auch Tafel VI und VII) ist noch Majuskel, enthält aber gerade in ihren ältesten Bestandteilen schon einzelne Minuskelformen (b, d, h). Zur reinen Minuskel wird die Verkehrsschrift in der jüngeren römischen Kursive (Taf. I d), die aus dem 6. Jahrh. unserer Zeitrechnung überliefert ist. Sie ist Minuskel, indem sie das System der Ober- und Unterlängen aufnimmt und weiterführt, und ist zugleich ausgesprochene Kursive, indem sie reichlichen Gebrauch macht von Ligatur, der Verbindung der Buchstaben unter einander, in einem Maße, das die einzelnen Schriftzeichen vielfach fast unkenntlich werden läßt (Taf. XXIV a).

Wie nahe die Unciale als reine Schreibschrift ungeachtet ihres Majuskelcharakters der Kursive und der Minuskel steht, zeigt sich auch darin, daß sie früh mit beiden gemischt wird. Das Alphabet, das man als Halbunciale (Taf. I f, 6. Jahrh.) bezeichnet, ist reine Minuskel und man kann zweifelhaft sein, ob die dem Uncialcharakter am nächsten stehenden Buchstaben in Wirklichkeit nicht doch unmittelbar aus der Kursive stammen. Nur die Gestalt des M spricht für Entstehung aus der Unciale. Das Verdienst dieser Schriftform der Halbunciale ist, daß sie den ersten konsequenten Versuch macht, das Verhältnis der Ober- und Unterlängen zu regeln, das Vierlinienschema herzustellen, das die älteren Schriften noch nicht erreicht hatten. Wie sehr durch die damit gegebene Gliederung die Lesbarkeit gefördert wurde, liegt auf der Hand.

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Der Zerfall des Römerreiches raubte der Stadt Rom die alte Stellung als Mittelpunkt alles Geschehens. In den neu entstehenden Teilreichen schuf das Christentum mit der Gründung von Klöstern neue Mittelpunkte des Wissens; diese werden Hüter des alten Schrifttums, sie bewahren die Kunst des Schreibens und bilden die Schrift weiter aus. So entstehen aus Unciale, Halbunciale und jüngerer Kursive eine Reihe von selbständigen Schriftformen eigenen Charakters, die man Nationalschriften (irisch-schottisch, langobardisch, altitalienisch, merowingisch u. a.) zu nennen pflegt. Ihre Vielheit und Verschiedenheit mußte aber der Verbreitung der in ihnen geschriebenen Bücher Eintrag tun und war auch dem schriftlichen Verkehr hinderlich. Darum faßte im neuen Weltreich Karls des Großen, dem die Pflege der Wissenschaft besonders am Herzen lag, der Kreis der um diesen Herrscher versammelten Gelehrten den Entschluß, der Schriftverwilderung ein Ende zu bereiten und eine übersichtliche, leicht leserliche und leicht zu schreibende Schrift wiederherzustellen. Man schuf nichts Neues, man griff auch nicht einfach auf alte Formen zurück, sondern man verbesserte die gebräuchliche Schrift nach Grundsätzen, die aus den alten schönen Formen, vor allem der Unciale und Halbunciale, geschöpft waren. Die merowingische Buchschrift war aus der Halbunciale erwachsen, ihre Urkundenschrift aber aus der jüngeren Kursive, deren Ligaturen sie noch weiter zur Unleserlichkeit entwickelt hatte. Jetzt wurden die Ligaturen aufgelöst, man stellte die Buchstaben wieder geordnet neben einander, gestaltete sie kalligraphisch aus und hielt streng auf Gleichmäßigkeit aller Ober- und Unterlängen, was dem Vierlinienschema entspricht. Die so entstandene karolingische Minuskel (Taf. I g, 9. Jahrh.) ist aber nicht etwas, was von Anfang an gleich fertig auftritt und gewissermaßen als Vorschrift in das Reich hinausgeht. Nur der Geist, in dem die Reform durchgeführt wird, ist einheitlich, die Ausführung vollzieht sich selbständig an den verschiedensten Punkten in den klösterlichen Schreibstuben. Darum ist von

Gebhard Mehring: Schrift und Schrifttum
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