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gemischt, vollzieht sich unter diesen Einflüssen. All das bewirkt immer wieder neue Verschiedenheiten in der Gesamterscheinung und in der Gestaltung des Einzelnen. Schließlich war zu jeder Zeit die Handschrift vom persönlichen Wesen und Charakter beeinflußt, und zwar um so mehr, je größer die Vielschreiberei ist.

Niemand kann ernstlich hoffen, die alten Schriften alle zu entziffern und ohne Irrtum zu lesen, wenn er nicht mit der Geschichte unserer Schrift und mit dem Werdegang der einzelnen Buchstaben einigermaßen vertraut ist. Von besonderem Vorteil wird es sein, sich aus der geschichtlichen Entwicklung jeweils über den Zug, in dem die Feder den Buchstaben ausgeführt hat, klar zu werden. Denn nur dadurch ist es möglich, die einzelnen begegnenden Formen entweder auf die heutige Gebrauchsform oder auf die bekannte Urform zurückzuführen und damit richtig zu deuten.

Es ist bekannt, daß die Schrift von den Phönikern zu den Griechen, von diesen zu den Römern und von den Römern zu uns gekommen ist. Für uns ist nicht nötig, weiter als bis zu den Römern zurückzugehen, obgleich auch die ältere Geschichte manche Erscheinung zeigt, die auf die spätere Entwicklung ein Licht werfen kann.

Aus dem Römerreich ist eine ganze Reihe verschiedener Schriftformen überliefert. An erster Stelle steht verdientermaßen die große Monumentalschrift, littera oder capitalis quadrata genannt, jene kraftvollen feierlich schönen Buchstaben, die uns allen als die Großbuchstaben der lateinischen Druckschrift geläufig sind. Dieses Alphabet, eine Majuskel, hat seine vollendete Gestalt noch im letzten Jahrhundert v. Chr. erhalten (Tafel I a). Es war von Haus aus nicht Schreibschrift, sondern diente für Inschriften auf Stein und Metall, zur Ausführung in großen Formen. Wohl hat man es auch zur Vervielfältigung von Büchern verwendet, doch in den echten Formen der quadrata, wie es scheint, erst spät und nur auf Pergament, auch nur für die großen Dichter (z.B. Vergil und Plautus). Im allgemeinen verlor es in der Hand des Schreibers viel von seiner strengen Regelmäßigkeit;

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auf Papyrus kann es nur in zarten Strichen ausgeführt werden und nimmt eine Zierlichkeit an, die seinem Wesen fremd ist. Man empfand diese Veränderungen als unschön und grob und nannte deshalb die geschriebene Form der Kapitalis bäurische Schrift, littera rustica (Taf. I b). Als dritte Form der Majuskel entstand die Unciale (Taf. I e), deren erste Spuren schon im 2. und 3. Jahrhundert zu finden sind, die aber fertig erst im 4. Jahrhundert auftritt. Ihre höchste Vollendung hat sie erst lange nachher erreicht, als die fränkischen Gelehrten Karls des Großen die alten Schriftzeichen erneuerten; sie wird die eigentliche Prunkschrift des Mittelalters. Die Unicale rundet die eckigen Formen der Kapitalis zum Zweck leichterer Ausführung mit dem Schreibrohr; sie ist als Bücherschrift entstanden, aber nicht unmittelbar aus der Kapitalis, sondern aus der sog. älteren Kursive. Sie ist ursprünglich ein Versuch, die vereinfachten Formen der Kursive für die Neubelebung der Majuskelschrift zu verwenden. In der Wirkung ist sie eine Etappe auf dem Weg zur reinen Minuskel.

Neben der Monumentalschrift und noch vor deren höchster Vollendung hatten die Römer, wie vor ihnen die Griechen, eine Schrift für den täglichen Gebrauch, zu Aufzeichnungen im geschäftlichen Verkehr, die nicht wie die Schrift auf Stein für die Ewigkeit bestimmt war. Diese Verkehrsschrift ist von Anfang an eine Schreibschrift und sie ist eben darum für die weitere Entwicklung von ungleich größerer Bedeutung gewesen, als die littera quadrata. Die ältesten Zeugnisse ihres Daseins stammen allerdings erst aus dem ersten Viertel des 1. Jahrh. vor Chr. Aber sie tritt da bereits mit einzelnen Formen auf, die eine frühere Entstehung voraussetzen. Als Notizbuch wie als Unterlage für Geschäftsurkunden dient die Wachstafel; im weichen Wachs werden die Schriftzeichen mit dem Stilus, dem Griffel, eingeritzt, hat die Notiz ihre Bedeutung verloren, so kann sie mit dem stumpfen Ende des Griffels ausgetilgt und das Wachs zu neuer Verwendung wieder geglättet werden. Auf dem zähen Wachs kann nur in einzelnen Strichen geschrieben werden, die möglichst im Zug von oben nach unten auszuführen sind; in solche einzelne Striche

Gebhard Mehring: Schrift und Schrifttum
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