Schein und Sein (Die Gartenlaube 1864)

Textdaten
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Autor: Z.
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Titel: Schein und Sein
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aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 40–41
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Optische Täuschungen
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Schein und Sein.

Die meisten Reisenden, wenn sie das erste Mal in die Schweiz kommen, werden von der Großartigkeit der Landschaft nicht in dem Grade ergriffen, als sie es vorher bei dem Gedanken an zwölf- bis vierzehntausend Fuß hohe Gebirge sich vorgestellt hatten. Es kommt eine Art Enttäuschung über die Leute. Die weißen Schneegipfel scheinen ihnen zu niedrig und in wenig Stunden erreichbar, während in der That die Entfernungen Tagereisen betragen; – es ist, als lägen die Berge dicht hintereinander, und doch werden sie durch tiefe und breite Thäler, mit hohen Bergzügen wieder zwischen sich, von einander getrennt. Erst die Erfahrung macht klug. Wenn man eine der verschwindend kleinen Vorhöhen mit Mühe und großem Zeitaufwande erstiegen hat und die scharfgezeichneten Hörner immer noch in derselben Größe vor sich sieht, und wenn man dann wieder viele Stunden sich müde gelaufen und Boden mit den Füßen weggestoßen hat, den man vorher gar nicht gesehen, und wenn immer neue Entfernungen aus der Erde wachsen und man beim Zurückschauen den Berg, von wo man den ersten Anblick hatte, gar nicht mehr oder nur als einen niedrigen Hügel im Thale findet, erst dann entwickeln sich die Vorstellungen von der wahren Größe, und man erkennt die Täuschung, die man sich machte. So beurtheilt der oberflächlich Blickende den großen Mann, weil er ihn in seiner Klarheit zu übersehen wähnt; er sieht nicht den Unterschied und die Länge und Beschwerlichkeit der Wege, die jener gegangen, ehe die Höhe erklimmt war und wohin ihm die Menge nie nachfolgt. –

Der aufgehende Mond.

Je nachdem wir nahe oder entfernt einem Gegenstande uns befinden, erscheint dieser uns verschieden groß, und wir vermögen, wie dies im Felde und in der Astronomie auf besondere Weise geschieht, die Entfernungen aus der scheinbaren Größe bekannter Gegenstände zu bestimmen. Haben wir aber einen Berg oder etwas Aehnliches im Gesicht, mit dessen Begriff sich die Vorstellung einer bestimmten Größe nicht verbindet, denn ein Berg kann groß oder klein sein, so müssen wir, um ihn taxiren zu können, seinen Abstand von uns wissen und mit in Rechnung bringen. Allein es ist schwierig, die horizontale Entfernung abzuschätzen, und je größer sie ist, um so leichter irren wir uns auch in der Beurtheilung der Höhe des Gipfels.

Den Reisenden täuscht die klare Luft, die scharfe Begrenzung der Gebirge. – Nähert Ihr Euch im Nebel einer fremden Stadt, so erscheinen ihre Thürme von ungeheurer Höhe, weil Ihr sie mit den verwischten Contouren weit von Euch entfernt glaubt, obwohl Ihr nahe vor ihnen steht. – Der Durchmesser der Sonne ist über vierhundert Mal größer als der des Mondes; wenn wir die beiden Kugeln auf einem riesengroßen Billard mit einem Blicke übersehen könnten, so würde der Unterschied zwischen ihnen größer sein, als der zwischen einem Pfefferkorn und einem mannshohen Luftballon. Die Sonne ist aber fast zwanzig Millionen Meilen von der Erde entsernt, der Mond nur gegen 50,000 Meilen; wir nehmen es daher Niemandem übel, wenn er sagt, daß ihm beide Gestirne gleich groß vorkommen. Die gegenseitigen Entfernungen bei der Schätzung zu berücksichtigen, ist bei solchen Dimensionen ohne die genauesten astronomischen Methoden nicht möglich.

Indessen wenn fünf Menschen beieinanderstehen, denen man den aufgehenden Mond zeigt, so sind sie, wenn man sie fragt, wie groß er wohl sei, geschwind mit ganz bestimmten Maßangaben bei der Hand.

„Wie ein Suppenteller,“ sagt der Eine. Der Andere: „i Gott bewahre, höchstens so groß wie ein Zweithalerstück.“ Ein Dritter findet ihn so groß wie – wie – ja wie ein Eimerfaß, worüber sich ein Vierter ordentlich erbosen kann, denn er schwört Stein und Bein: „wie ein Silbergroschen, genau, nicht größer und nicht kleiner.“

Und Alle haben Unrecht. Warum? Weil es eben ganz unstatthaft ist, zwei Gegenstände wie den Mond und einen Silbergroschen in Bezug auf ihre Größe mit einander zu vergleichen, oder den einen durch den andern zu messen, ohne ihre gegenseitige Entfernung sowie ihren Abstand vom Auge in Berücksichtigung zu ziehen.

Eine Weinflasche, die vor mir auf dem Tische steht, kann mir die Aussicht nach einem Kirchthurm ganz und gar verdecken, deswegen wird mir doch nicht einfallen dürfen, zu sagen, die Weinflasche ist so groß als der Thurm. Wenn die Leute aber in der angeführten Weise über den Mond reden, so machen sie es nicht klüger. Der Eine denkt sich den Silbergroschen gerade vor das Auge gehalten, der Andere hat eine Tonne in Gedanken, die ein paar hundert Schritt von ihm entfernt liegt.

Wenn daher Nachrichten in den Zeitungen stehen, wie folgende:

„Aus Kosten wird in der Breslauer Zeitung gemeldet, daß am 6. September Abends gegen 11 Uhr am nordwestlichen Himmel ein Meteor mit Schweif beobachtet worden ist. Eine ähnliche Erscheinung wurde am 7. Abends 71/2 Uhr an der Nordgrenze Ungarns in den Beskiden, auf dem Wege von Polhora nach Krzyowa, bemerkt. In der Richtung von O. nach W. zog eine elliptische Feuerkugel mit Schweif, ähnlich einer Rakete von blendendem röthlichem Lichte den durchziehenden Himmelsstreifen erhellend. Die elliptische Kugel hatte einen scheinbaren Durchmesser von etwas mehr als einem Zoll und der Schweif eine scheinbare Länge von vier Fuß,“

So ist das mit dem „etwas mehr als einem Zoll“ und der Schweiflänge von vier Fuß Unsinn. Man kann eine scheinbare Größe nicht mit einer wirklichen messen. Das Einzige, was aus den beiden Maßangaben hervorgehen könnte, wäre, daß die feurige Kugel noch nicht ganz den fünfzigsten Theil von der Länge des Schweifes zum Durchmesser gehabt habe.

Die Astronomen reden zwar bei Finsternissen auch von Zoll, sie sagen: Die Scheibe der Sonne oder des Mondes erleidet eine Verfinsterung bis zu drei Zoll oder bis sechs Zoll etc.; sie verstehen aber unter Zoll nicht den zwölften Theil eines Fußes, sondern den zwölften Theil des scheinbaren Durchmessers jener Gestirne. Eine dreizöllige Finsterniß ist danach eine solche, bei welcher der scheinbare Durchmesser der Scheibe um 3/12 oder 1/4 seiner Länge verdunkelt ist, eine zwölfzöllige Finsterniß ist total. Da hier blos gegenseitige Verhältnisse in’s Spiel kommen, so ist eine solche Bestimmung natürlich zulässig. Ausmessung der Feuerkugel aber und ihres Schweifes durch den Zollstab, wie sie der Referent über die obengedachte Erscheinung vorgenommen, ist irrig, denn Niemand kann sich aus jenen Angaben eine Vorstellung auch nur der scheinbaren Größe des Phänomens machen.

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Am hohen Himmel.

Eine andere, weit verbreitete irrige Anschauung hängt mit solchen Täuschungen eng zusammen. Die meisten Menschen sind nämlich geneigt zu behaupten, daß das Aussehen des Vollmondes, wenn er sich eben über den Horizont erhebt, größer sei, als wenn er hoch über uns steht, und sie glauben diese Beobachtung auf eine sehr plausible Weise dadurch zu begründen, daß sie annehmen, die Dünste, die gegen Abend nahe dem Boden lagern, brächen das Licht auf eine eigenthümliche Art und ließen das Bild der Mondscheibe größer erscheinen, als die klare, durchsichtige Nachtluft über unsern Köpfen. Das klingt nach etwas – der Grund aber ist einmal unnöthig und dann auch falsch.

Ein König von England stellte einst den Gelehrten seines Reiches die Preisfrage: ein Gefäß mit Wasser und ein Fisch werden gewogen; warum beträgt das Gesammtgewicht weniger, wenn der Fisch mit in das Gefäß gethan wird, als wenn Fisch und Wasser für sich gewogen werden?

Es liefen einige sechzig sehr gelehrte Beantwortungen ein, und keine traf das Richtige. Nur ein Einziger von all’ den Weisen hatte sich erst überzeugen wollen, ob denn eine Gewichtsdifferenz auch wirklich, wie König Georg behauptete, stattfände; er machte das Experiment, und siehe da – die ganze Geschichte war ein Scherz, der Fisch wog im Gefäße genau so viel als außer demselben.

Aehnlich ist es auch mit dem Monde. Seine Scheibe ist am Horizont nicht um eine Haarbreite größer als im Zenith, und die Dünste brauchen gar nicht als Vergrößerungsgläser gedacht zu werden. Aber wenn der Mond aufgeht, erscheint sein Bild am Horizont in der Nähe von Bäumen und Felsen und Häusern, die wir unwillkürlich als Maßstab gebrauchen. Für den hohen Himmel fehlen uns solche Vergleichsgegenstände, oder wir können sie nur aus unserer nächsten Nähe nehmen. Während daher das eine Mal die Mondscheibe vielleicht breiter erscheint als die Krone eines mächtigen Baumes, wird sie im zweiten Falle durch ein Blatt verdeckt, das vor unsern Augen schwankt.

An diese Vergleichungen knüpft sich aber die Vorstellung, und so wird uns der eine Eindruck mächtiger als der andere. Durch geeignete Betrachtung der beiden Abbildungen werden diese Verhältnisse besondere Klarheit erlangen. In beiden ist der Mond gleich groß, und doch täuscht das Bild, in einiger Entfernung durch die sehr wenig geöffnete hohle Hand betrachtet, in erwähnter Weise das Auge.

Die Ursache liegt in uns, in der Unbeständigkeit der Art zu urtheilen, in dem Verwechseln des Maßstabes, der ewigen Ursache aller Ungerechtigkeit.
Z.