Textdaten
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Autor: Caspari
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Titel: Schamyl in Kaluga
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 408–411
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[408]
Schamyl in Kaluga.

Sie haben in der Gartenlaube bereits früher (Nr. 15) einige Mittheilungen über den jetzigen Staatsgefangenen Rußlands, einstigen Chef der Tscherkessen, geliefert; erlauben Sie mir, daß ich heute darin fortfahre. Das Wesen Schamyl’s ist so interessant und bietet auch jetzt noch in der Gefangenschaft so viel Eigenthümliches und Charakteristisches, daß authentische Mittheilungen darüber sicher alle Leser Ihrer Zeitschrift interessiren dürften.

Schamyl war nach der Abreise seines bisherigen Begleiters, des Herrn v. Boguslawsky, sehr verstimmt und ging lange Zeit wie ein Tiefsinniger umher, obwohl wir uns auf alle Weise bemühten, ihn aufzuheitern. Auf meine ängstlichen Anfragen, wie diesem drückenden Zustande ein Ende zu machen sei, erwiderte Chadshio, Schamyl’s und mein alter Freund, das einzige und sicherste Mittel, das er kenne, sei die Musik, welche Schamyl leidenschaftlich liebte, und später Besuche in den öffentlichen Gesellschaften, für die er jetzt „noch nichts tauge“.

Kaum hatte mir Gramoff, Schamyl’s Dolmetscher, diese Worte übersetzt, so rief ich einen Diener und gab ihm Befehl, zum folgenden Tage eine Orgel, welche in einem Privathause verkauft wurde, in Schamyl’s Gastzimmer zu schaffen.

Als Chadshio von Gramoff erfuhr, wovon die Rede sei, äußerte er das lebhafteste Vergnügen und schien zugleich sehr gerührt. Wahrscheinlich unter dem Einflusse dieser Rührung gestand er mir, daß Schamyl außer der Besorgniß um seine Familie auch noch einen besondern Grund zur Traurigkeit habe. Er fühle sich nämlich tief ergriffen vom Gefühl der Dankbarkeit gegen den Kaiser für so viele unerwartete Beweise von dessen Freundlichkeit, und suche nach Mitteln, um dem Kaiser thatsächliche Beweise seiner Dankbarkeit und Ergebenheit geben zu können.

Ich äußerte ihm meine Zufriedenheit mit Schamyl’s dankbaren Gesinnungen und setzte hinzu, ich habe von ihm nichts Anderes erwartet, da er in der That eines ganz andern Empfanges gewärtig gewesen sei, und daß gewiß auch Schamyl’s Gefährten, von Gunib bis Petersburg und Kaluga, dessen Ansichten und Wünsche jetzt theilten; daß endlich er selbst, Chadshio, allem Anscheine nach, nunmehr nicht mit derselben Meinung über Rußland, mit welcher er den Kaukasus verlassen, dahin zurückkehren werde.

„O!“ rief er aus, „Du sollst bald erfahren, was ich gesagt habe, sobald ich wieder in meinem Karata bin.“

„Wohlan, was wirst Du sagen?“ fragte ich, besonders deshalb [409] neugierig, da Chadshio einer der reichsten und geachtetsten Familien Karata’s angehört, und als ehemaliger Murid und Schamyl besonders nahe stehend, eine einflußreiche Persönlichkeit in seinem Lande vorstellt.

„Ich werde sagen: Schamyl sprach – das ist schwarz, und ich werde sagen – das ist weiß; Schamyl sprach – das ist weiß, und ich werde sagen – das ist schwarz. So werde ich sprechen.“

„Warum aber wirst Du so sprechen? Vor Kurzem noch dachtest Du anders.“

„Nein, schon längst dachte ich so – Kasü-Mahomed dachte auch nicht anders; noch viele unserer Brüder haben gleiche Gesinnung, und jetzt meint es selbst Schamyl wie wir.“

„Wenn ihr aber schon längst so dachtet, warum nanntet ihr dann nicht früher schon das weiß, was Schamyl schwarz nannte?“

„Schamyl verstand so gut zu sprechen. – Das ganze Volk hatte den Schamyl auserwählt, um uns zu vertheidigen … Schamyl ist ein kluger Mann, ein sehr kluger Mann, und dabei sehr gut, so gut, daß er nicht besser sein kann. Dagegen aber, wenn Kasü-Mahomed strafbar geworden wäre, so hätte er ihm auf der Stelle den Kopf abhauen lassen. – Deshalb liebten und achteten wir aber auch den Schamyl über Alles.“

„Warum glaubst Du aber, daß Schamyl sich irrte, als er sagte, dies sei schwarz und jenes weiß?“

„Deshalb, weil er 65 Jahre alt ist, und weil er sein ganzes Leben hindurch keine Vergnügungen kannte, sondern nur betete.“

„Nun, und also?“

„Und deshalb verbot er uns, Tabak zu rauchen und die Frauen anzusehen, oder mit ihnen zu sprechen. Aber ist das wohl möglich?“

„Freilich, das ist nicht möglich,“ entgegnete ich lachend. „Aber Du weißt auch, zu was für Helden er euch im Kampfe gegen die Russen machte.“

Auf Chadshio’s Gesichte malte sich das Lächeln der Selbstzufriedenheit. „Das ist wahr,“ sagte er – „und eben deshalb liebten und achteten wir ihn … Nun aber ist das nicht mehr nöthig,“ fuhr er fort, als fiele ihm plötzlich etwas ein … „Schamyl sagte, in den Büchern stände geschrieben: wenn der Muselmann in ein Haus gehet, wo Weiber mit entblößten Schultern und unverhüllten Gesichtern sind, oder wo man tanzt und Gelage hält, über diesem stürzt das Dach zusammen und zerschmettert ihn. Ist das wahr? Wir sind ja in den Theatern gewesen und haben dergleichen Frauen gesehen, und dennoch ist das Dach nicht über uns zusammengestürzt, und wir sind, Allah sei gelobt, noch gesund. Deshalb glaube ich, Schamyl sagte uns das, nicht weil es in den Büchern so geschrieben steht, sondern weil er alt ist und ihm das nicht mehr Freude macht, was den jüngeren Männern gefällt.“

Schamyl.
Nach einer in Kaluga aufgenommenen Photographie.

„Also meinst Du, Schamyl habe sich auch damals geirrt, als er noch in Dargo war?“

„Nein, damals hatte er Recht. Zum Beispiel, das Tabakrauchen verbot er uns keineswegs darum, weil der Rauch übel riecht, wie er es denen sagte, die ihn in Rußland deshalb befragten, sondern blos darum, weil unser Volk arm ist, selbst keinen Tabak baut, sondern denselben kaufen muß. Aber Tabak kaufen statt Brodes, wenn man am Brode Mangel leidet … und doch gibt es bei uns solche Leute … Deshalb verbot er uns auch, zu tanzen und mit den Frauen Umgang zu haben, nicht weil es Sünde ist, sondern damit unsere jungen Leute sich nicht einfallen ließen, statt des Nachts auf der Lauer zu stehen, irgendwo zu tanzen und den Mädchen nachzugehen: Du selbst weißt ja, wie wenig unserer sind. Wenn wir uns so lange gegen euch gehalten haben, so verdanken wir das nur unserer strengen Lebensart und weil wir jede Art von Vergnügen für Sünde hielten. O, Schamyl ist ein großer Mann!“

Jetzt hörten wir Schamyl’s Stimme, der im Nebenzimmer geruht hatte. Er rief Chadshio. Mein Freund stand auf, verabschiedete sich und eilte zu seinem Schamyl.

Am folgenden Morgen stand die Drehorgel schon in meinem Zimmer. Obgleich ich gegen Chadshio’s Versicherungen gar keinen Zweifel hegte, so gestehe ich offen, daß ich die Wirkung der Musik auf Schamyl keineswegs mit Gleichgültigkeit erwartete. Mustapha, dessen Bestimmung auf Erden, nach Schamyl’s Versicherung, der Gebrauch seiner Stimme war, fing endlich an, seine Stärke auch in der Instrumentalmusik zu versuchen. Es zeigte sich, daß er hierin ungleich stärker war; bei den ersten Tönen, welche er dem Instrumente entlockte, öffnete sich die Thür, und Schamyl trat mit freudestrahlendem Gesicht in’s Zimmer. Er setzte sich neben mich auf das Sopha und lauschte fast eine halbe Stunde lang den Tönen mit der größten Aufmerksamkeit, fast unbeweglich, und warf nur zuweilen einen Blick auf Mustapha, wie der Künstler, der auf seine Lieblingsschöpfung blickt. Dann stand er auf, näherte sich dem Instrumente und untersuchte es in allen seinen Einzelnheiten, weshalb auch die ganze äußere Bedeckung weggenommen werden mußte. Nachdem er seine Neugierde befriedigt hatte, erklärte er, daß ihm in seinen Bergen nie etwas Aehnliches vor Augen gekommen sei. Ich benutzte dies, um ihn zu fragen, warum er dort die Musik verboten hätte.

„Vermuthlich steht auch davon in Deinen Büchern?“ setzte ich hinzu.

„Ja,“ antwortete er, „auch davon steht in unseren Büchern, aber ich meine, die Musik ist dem menschlichen Ohre so süß, daß auch der eifrigste Muselmann, dem es leicht wird, alle Vorschriften des Propheten zu erfüllen, nicht im Stande ist, der Musik zu widerstehen; deshalb verbot ich die Musik, aus Furcht, meine Krieger möchten die Schlachtmusik, die ihnen während des Kampfes in die Ohren tönte, gegen eine andere Musik bei unseren Frauen vertauschen.“

Nach der Besichtigung der Orgel befahl Schamyl dem Mustapha, weiter zu spielen.

[410] Am folgenden Tage, nachdem Schamyl seine neue Wohnung besichtigt hatte, hatten wir uns vorgenommen, dem hochwürdigen Gregorius, Bischof von Kaluga und Borofsk, einen Besuch zu machen. Als ich ihn bedeutete, daß unser Hochwürdigster sich freiwillig das Gelübde des Fastens auferlegt und außerdem allen Familienfreuden entsagt habe, konnte sich Schamyl anfangs von der Wahrheit meiner Worte nicht überzeugen; nach meinen wiederholten Versicherungen aber äußerte er die höchste Hochachtung für einen Mann, welcher, im Besitze einer so hohen Würde, sich habe entschließen können, dem Genusse der höchsten irdischen Glückseligkeit zu entsagen. Er erwartete mit Ungeduld den Abend, um bei seiner Hochwürden zu erscheinen.

Endlich schlug es sechs Uhr, und wir machten uns auf den Weg. Der wohlwollende Empfang, den seine Hochwürden dem Schamyl gewährte, versetzte ihn in freudige Aufregung. Nach den ersten Begrüßungen wurde Thee gereicht, und es entspann sich sogleich ein interessantes Gespräch, welches einerseits den klaren Verstand des Erzbischofs, andererseits die originelle Anschauungsweise des ehemaligen Hauptes der muselmännischen Geistlichkeit im Kaukasus beurkundete, der trotz seiner Würde doch weiter nichts als ein einfaches Kind der Natur war. Seine einfachen Antworten und noch mehr seine naiven Fragen stempelten ihn vollständig dazu.

Die erste Frage, die der Erzbischof ihm vorlegte, war ganz geeignet, der darauf folgenden lebhaften und höchst anziehenden Unterhaltung eine bestimmte Richtung zu geben. Der Hochwürdigste fragte ihn nämlich: „Was ist nach Deiner Meinung Ursache, daß ein und dasselbe Wesen, vor dem sich die ganze christliche und mohamedanische Welt beugt, und welches von Beiden als der Allmächtige und der Allgütige angebetet wird, über die Christen seine volle Güte und Langmuth ausgießt, und von dem Muselmanne nur die strenge Erfüllung des Gesetzes verlangt, indem er die Sünder mit den Strafen der Ewigkeit bedroht, aber keine Hoffnung auf die Wirkungen der Buße zuläßt?“.

Diese dem Anscheine nach etwas schwierige dogmatische Frage löste Schamyl schnell und einfach, wozu vorzüglich Gramoffs Übertragung derselben in das bekanntlich sehr wortarme kumükische Idiom das Ihrige beitrug. Gramoff übersetzte den Gedanken des Erzbischofs in folgender Weise: „Warum haben wir und Ihr einen und denselben Gott, und warum ist er für die Christen so gütig und für die Mohamedaner so streng?“

„Deshalb,“ antwortete Schamyl, „weil Euer Issá (Erlöser) selbst so gütig war, der unsrige dagegen so streng; zudem ist Euer Volk gut, das unsrige hingegen ist bösartig – es sind Räuber (Charamsadàlar), und darum muß auch Gott strenger mit uns verfahren: für jede Sünde gilt es den Kopf.“

Bei diesen Worten lächelte Schamyl und deutete mit der Hand auf den Hals. Auch wir konnten uns bei dieser naiven Antwort des Lächelns nicht enthalten.

Schamyl’s neue Bekannten wurden gar bald gewahr, welch’ ein gutes, gefühlvolles Herz unter so viel rauhem Aeußern schlug. In jedem Hause, wohin er auch kam, hatte er sich noch nicht gesetzt, als sich auch schon die Kinder um ihn drängten und auf seinen Knieen saßen. Schamyl liebkoste sie mit einer solchen Zärtlichkeit, mit so viel kindlicher Gutmüthigkeit, daß auch nicht der geringste Zweifel über die Aufrichtigkeit seiner Gefühle stattfinden konnte. Ebenso viele Gutmüthigkeit zeigte er beim Anblick der geflügelten Gefangenen, für welche die Kalugenser, wie es scheint, eine besondere Vorliebe haben, denn sie unterhalten dieselben schaarenweise und zwar in besonderen, sehr hübschen netzumspannten Käfigen, die gewöhnlich ein oder mehrere Bäumchen im Salon umhüllen. Schamyl blieb häufig vor denselben stehen, betrachtete die Zeisige, die Hänflinge und Kanarienvögel, freute sich ihres Gezwitschers und lockte sie mit den Fingern – eine Idylle eigenthümlicher Art! Schamyl, der drohende Repräsentant des Muridismus und aller Schrecken des Bergkrieges, mit Kindern und kleinen Vögeln spielend! – Wie lassen sich diese Gegensätze vereinigen? Wie läßt sich die Möglichkeit träumen, daß derselbe Mann, der jetzt mit kleinen Kindern wie ein zärtlicher Großvater tändelt und mit den Vögelchen spielt, wie ein junges Mädchen, das eben erst die Schulbänke verlassen hat, daß derselbe Mann so viele Wesen seiner Art des Lebens beraubte, ohne irgend einen Grund als die Anfälle ungezügelter Laune, angeborner Blutgier und seines räuberischen Instinctes?

Unter allen den Eigenthümlichkeiten, die ich bis jetzt an Schamyl bemerkte, ist eine einzige bis zur Schwäche entwickelt, nämlich seine ungewöhnliche Vorliebe für die Bettlerzunft, für die er, wie es scheint, eine wahre Leidenschaft hegt. Jedes Zusammentreffen mit einem Bettler hat für Schamyl einen besondern Reiz; er betrachtet es als eine besondere Gunst des Himmels und beeilt sich, ihm Alles zu geben, was er in Chadshio’s Beutel vorräthig findet, und das beläuft sich zuweilen bis auf zehn Silberrubel und mehr. Einst, als wir zu Fuß umherwanderten, begegneten wir einem ärmlich gekleideten Bauerknaben, der gar nicht daran dachte, um ein Almosen zu bitten, sondern nur beim Anblick von Schamyl’s großer Mütze seine eigene ehrerbietig abzog. Schamyl hielt dies für eine Bitte um Almosen, und warf einen ausdrucksvollen Blick auf Chadshio, erhielt aber von diesem zur Antwort, daß er kein Geld mehr bei sich habe. Es war drollig zugleich und rührend, in diesem Augenblicke Schamyl zu sehen; er befand sich in der äußersten Verlegenheit, näherte sich gleichsam beschämt dem Knaben und blickte ihn mit einem Ausdrucke an, als müsse er ihn eines Vergehens wegen um Verzeihung bitten. Endlich streichelte er ihm die Wangen und sprach: „Ich bitte Dich, verlange jetzt Nichts von mir; ich habe jetzt selbst weniger als Du; aber komm zu mir in meine Wohnung, da will ich mit Dir theilen …“

Nicht selten geschah es, daß ich oder Andere dem Schamyl über diese unzeitige Freigebigkeit Vorstellungen machten, zumal da der Spender seiner Wohlthaten, Chadshio, aus Unvorsichtigkeit diese oft solchen Menschen zuwandte, die derselben ganz unwürdig waren. Auf dergleichen Vorstellungen erwiderte Schamyl gewöhnlich:

„Was geht das mich an, wozu der Arme mein Geld verwendet?“

„Man kann aber unmöglich so viel geben.“

„Also wie viel denn?“

„Einen, zwei, drei, meinetwegen fünf Kopeken.“

Schamyl wollte wissen, wie viel das bedeute und was man dafür kaufen könnte. Als man es ihm erklärt hatte, lachte er.

„Wenn wir dem Armen etwas geben,“ sagte er, „so geschieht dies doch, um ihm zu helfen?“

„Freilich.“

„Was kann ihm aber ein Kopeke nützen?“

„Wenn Du ihm gibst, und ein Zweiter und Dritter, so erhält der Arme so viel, als er zu seinem täglichen Brode braucht.“

„Was gehen mich die Uebrigen an? Von mir verlangt der Arme Hülfe, ich also muß ihm beistehen. Gebe ich ihm zu wenig, so ist es so gut, als spottete ich seiner, und in unsern Schriften steht geschrieben, daß man des Armen nicht spotten, sondern ihm beistehen müsse. Steht das in euren Schriften nicht auch?“

Ich gestehe, daß ich gegen Schamyl’s Logik nicht viel einzuwenden fand. – Bei unserm Besuche beim Archimandriten, welcher Rector des Seminars war, wo wir auch die Bibliothek des Seminars in Augenschein nahmen, wurde Schamyl ein neues Testament in arabischer Sprache (Indshil) gewahr. Er bat, ihm dasselbe auf einige Zeit zu leihen, verschloß sich in seine Zimmer und vertiefte sich in das Lesen desselben, indem er sich zugleich mit einem Haufen von Büchern seines Glaubens umgab. Nach einigen Tagen hatte er das neue Testament durchgelesen und sagte: „Kop jachschi! Dies Buch enthält viel Gutes, Vieles, was ihr nicht erfüllet. Es stehet darin geschrieben, wir sollen unser Almosen mit der rechten Hand geben, sodaß die linke nichts davon wisse. Das habe ich nicht gewußt; das finde ich sehr gut und recht. Tschoch jachschi! Walla jachschi!“ fügte er zum Schluß hinzu.

Bald darauf erfuhr ich, daß Chadshio gewöhnlich nach dem Mittagsmahle in der Nähe unserer Wohnung spazieren ging und dort die Personen, die seiner Meinung nach Arme sein mußten, anhielt, um ihnen Almosen auszutheilen. In der Folge gestand er mir, daß in den drei oder vier Tagen, die er dazu benutzt hätte, es sehr häufig geschehen wäre, daß seine Bettler zu seiner großen Verwunderung nicht nur das Almosen ausgeschlagen, sondern auch noch, anstatt ihm zu danken, über ihn gelacht hätten. Dem wohlthätigen Muriden war es auch nicht selten widerfahren, daß seine Armen nach Empfang des Geldes sich kein Gewissen daraus gemacht hatten, dasselbe vor seinen Augen in den Kabak zu tragen. Eine dieser Scenen half mir, den Muriden und Schamyl von ihrer unüberlegten Wohlthätigkeit zu heilen.

Sehr anziehend waren die Auftritte zwischen Schamyl und den [411] russischen Soldaten, die sich bei ihm in Gefangenschaft befunden hatten und von denen Einige in Kaluga in Garnison standen. Alle baten mich um die Gunst, sie dem Schamyl, „ihrem ehemaligen Wirthe“, vorzustellen. Ich erfüllte ihren Wunsch um so lieber, als auch Schamyl, der von der Anwesenheit dieser Soldaten in Kaluga gehört hatte, sie zu sehen wünschte. Er befragte einen Jeden weitläufig, wo er in der Gefangenschaft gelebt, wie sein Herr geheißen, dem er zugefallen sei, ob man ihn gut genährt habe. Dabei zeigte es sich, daß, je näher die Gefangenen der Festung Dargo gewesen, desto leichter auch ihre Arbeiten gewesen waren, desto menschlicher waren ihre Herren mit ihnen umgegangen, und desto reichlicher hatte man sie genährt. Einer dieser Soldaten hatte sich im Hause des bekannten Naibs Talchika befunden, des Schwiegervaters des verstorbenen Dshemaleddin. In Folge dieser Verwandtschaft brachte man Schamyl’s kleine Kinder häufig zum Besuch zu den Kindern Talchika’s, der in Talchik-otàr, nicht weit von Weden, lebte. Außer seinen gewöhnlichen Verpflichtungen mußte der gefangene Soldat Schamyl’s Kinder gewöhnlich wieder nach Hause bringen. Unterwegs liebkoste er sie und pflegte sie wie eine Wärterin, wofür sie ihn wiederum sehr lieb gewannen. Als Schamyl diesen Umstand aus dem Munde seines ehemaligen Gefangenen vernahm, schien er sehr bewegt, behandelte ihn überaus wohlwollend, beschenkte ihn, nach seiner Gewohnheit, reichlich und forderte ihn auf, wenn seine (Schamyl’s) Familie angekommen wäre, ihn zu besuchen und wieder mit seinen Kindern zu spielen.

Noch interessanter war aber ein Auftritt mit einem andern Soldaten von der 21. Artillerie-Brigade. Dieser war bei Kurkchulü in Gefangenschaft gerathen, hatte sich erst in Daghestan befunden, war dann bei einem Fluchtversuche einem andern flüchtigen Soldaten begegnet, der ihn, aus Unbekanntschaft mit unseren Grenzen, statt nach dem russischen Lager, geradezu nach Weden geführt hatte, von wo aus er in der Folge wieder entfloh. Mit Hülfe seiner Landsleute, die als Deserteure in Weden lebten, gelang es ihm, nicht den Gefangenen, sondern den Flüchtlingen zugezählt zu werden, welche völlig frei waren und große Vorrechte vor den übrigen Gefangenen, selbst vor den Eingeborenen genossen; die Handwerker, die eine ganze Compagnie bildeten, lebten sogar sehr anständig. Dieser Compagnie wurde unser Gefangener zugetheilt, und dadurch hatte er oft Gelegenheit, Schamyl persönlich zu sehen, da dieser ihren Arbeiten große Aufmerksamkeit schenkte und sie reichlich belohnte.

Kaum erblickte dieser Soldat Schamyl, als er auf ihn zueilte, seine Hand ergriff und sie küßte. Dies setzte mich in Verwunderung, da keiner von den übrigen Soldaten dieses gethan hatte. Selbst Schamyl, der doch an dieses Zeichen der Ehrerbietung von seinen Muselmännern gewöhnt war, schien darüber verwundert. Indem er den Soldaten befragte, erfuhr er unter Anderem, daß der Soldat zuerst seinem Herrn in Daghestan und dann auch ihm in Weden entflohen war.

„Warum hast Du mich denn verlassen?“ fragte er ihn; „es ging Dir doch gut in Weden?“

Der Soldat antwortete mit einer Redensart, die soviel bedeutete: „Zu Gaste sei es angenehm, zu Hause aber noch besser, und ein Eid sei keine Kleinigkeit.“

„So muß ein guter Mensch sein,“ sagte Schamyl und benahm sich gegen ihn noch freundlicher, als gegen die übrigen Soldaten.

„Sage mir doch,“ fragte ich den Soldaten beim Weggehen, „warum hast Du dem Schamyl die Hand geküßt, er ist Dein Herr nicht mehr? In den Bergen mag es wohl so Gebrauch gewesen sein, aber wozu hier noch?“

„Nun, Ihro Wohlgeboren,“[1] antwortete der ehemalige Gefangene, „man hat uns nie gezwungen, dem „Schmsl“ die Hand zu küssen; ich habe es aber von ganzem Herzen gethan.“

„Wie so, von ganzem Herzen?“

„Je nun, Ihro Wohlgeboren, weil der Mann es verdient. Nur den Gefangenen ging es gut, welche in seiner Nähe lebten, oder da, wo er durchreiste. Er erlaubte unsern Herren nicht, uns zu mißhandeln, und bei der geringsten Klage nahm er den Gefangenen zu sich, und es traf sich wohl, daß er den harten Herrn noch strafte. Das habe ich selbst oft gesehen.“

„Also war er gütig gegen die Gefangenen?“

„Sehr gütig, Ihro Wohlgeboren, mit einem Worte – herzensgut! Schade, daß er nicht an Christum glaubt, aber ’s ist doch ein braver Mann!“




  1. Die gewöhnliche Anrede der russischen Soldaten, ihren Vorgesetzten gegenüber