Schützenfestliche Charaktere und Typen

Textdaten
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Autor: Z.
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Titel: Schützenfestliche Charaktere und Typen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 562–564
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Schützenfestliche Charaktere und Typen.
Flüchtige Erinnerungen vom Eidgenössischen Freischießen in St. Gallen.


Es war am letzten Tage des eidgenössischen Schützenfestes zu St. Gallen. Ich saß nach beendetem Mittagsmahle in der Festhütte und hielt Siesta. Mein Tischnachbar, ein stämmiger Züricher, hatte mir fleißig zugetrunken, indem er, dem allgemeinen Zuge folgend, dem Festwein alle Ehre zukommen ließ. Begeisterte Hochs wollten kein Ende nehmen: die Weine, die auf den Altar des Vaterlandes niedergelegt wurden, fielen wie Tropfen auf heiße Steine, denn die Hitze war eine beunruhigende. Dazu kamen die geistigen Genüsse, einestheils im Anschauen des Festtroubles, anderntheils im Anhören der mitunter etwas langen Toaste und Vorträge der Musikcapelle – genug! meine fröhliche, weinselige Stimmung machte einer gewiß entschuldbaren Abgespanntheit Platz.

Mein Nachbar mußte mein verstecktes Gähnen bemerkt haben, denn er wandte sich zu mir mit den Worten: „Wenn es Ihnen angenehm ist, so machen wir einen Gang durch die Halle und ihre Anhängsel. Draußen ist die Luft nicht so drückend wie hier, wo die Temperatur die des menschlichen Blutes erreicht hat. Spazieren wir nach dem schattigen Schießstande, wo es recht einladend knallt! Dort werden Ihre Lebensgeister wach rumort.“

Ich war es zufrieden, und wir gingen nach der Schießhütte. Man gewöhnt sich bald an das ohrenbetäubende Knallen und zuckt nach einiger Zeit kaum mehr mit den Lidern, wenn ein Schuß fällt. Die Breite des langen Holzbaues wird durch eine Barriere in zwei Theile getrennt. Die den Scheiben zugekehrte Gangseite ist für die Schützen; es befinden sich dort die Schießstände, in welchen sich Büchsenmacher und Schützen tummeln. Die zweite Abtheilung ist der neugierigen Zuschauermenge eingeräumt, und hier schlenderte ich mit meinem Tischnachbar die Planken entlang.

„Beobachten wir die Schützen bei ihrer Arbeit!“ sagte mein Begleiter. „Sehen wir uns die schützenfestlichen Charaktere und Typen im Schießstande an – ich wette, daß es sich der Mühe verlohnt und uns manche originelle Gestalt begegnet. Sehen Sie jenen kleinen schmächtigen Burschen mit dem schwarzen Krauskopf?“

„Sie meinen in Nr. 722?“

„Ja, es stehen vier Schützen im Stande. Sie schießen der Reihe nach. Jetzt kommt der Kleine daran; er scheint ein Student zu sein, vielleicht ein Schüler des Polytechnikums. Paff! da kracht er los. Was traf er? Strecken wir die Hälse, wie es Alle thun, die uns umstehen. Ein Fehlschuß.“

Der Student legte seinen Stutzen auf den Brettertisch und machte einem andern Schützen Platz. Nach kurzer Zeit kam wieder die Reihe an ihn. Er schoß abermals fehl.

„Den jungen Mann ‚verließ das Glück‘, wie Max im Freischütz singt. Und doch besitzt er gegen siebenzig Nummern,“ sagte ich zu meinem Begleiter.

„Freilich,“ war die Antwort, „aber er brauchte dazu mehr als fünfhundert Schüsse, wie mir vorhin der Büchsenmacher mittheilte. Ist er fleißig, so kann er’s in weitern fünfhundert bis zu hundert Nummern bringen, dann erhält er einen silbernen Becher –“

„Im Werthe von fünfzig Gulden. Das ist ein theurer Becher.“

„Was thut’s? Der Papa hat Geld; dafür kommt der Name des Söhnleins in alle schweizer Blätter und Blättchen. Der Pokal wird ihn das Dreifache seines Werthes kosten, wenn nicht mehr. Beim ‚Becherverschwellen‘, wo der Becher meist mit Champagner zu seinem nassen Zwecke geweiht wird, rollen die Napoleons mit märchenhafter Eile davon. Doch gehen wir weiter, und wenden wir uns vom Anfänger zum ausgelernten Schützen. Halt, dort haben wir ihn! Standnummer 110! Ich meine jenes alte Männchen mit der verschnupften Physiognomie, dem kleinen Käppchen auf den noch schwarzen Haaren und dem grauen Lüstrerock mit Messingknöpfen. Es ist ein Schütze vom alten Schlage und aus jener Zeit, da noch der Standstutzen mit seinem haarscharfen Visire und Vergrößerungsglase florirte. Es ist gut, daß jene für praktische Bedürfnisse ganz unbrauchbare Waffe durch den zeitgemäßen Feldstutzen und das Infanteriegewehr ersetzt wurde. Das Männchen ist ein alter Standschütze und, der Sprache nach zu urtheilen, ein Appenzeller aus dem glaubenseinheitlichen Inner-Rhoden. Sehen Sie nur, wie er die vom Büchser gemiethete Waffe von allen Seiten betrachtet! Der Feldstutzen ist ihm eine ungewohnte Waffe, und er scheint ihr nicht recht zu trauen. Wie er ihn bedächtig auf dem linken Arme wiegt, um die Schwere zu prüfen! Und immer spielt jenes boshafte Lächeln um seinen Mund, als sagte er: ‚Wartet nur, Ihr jungen Herren! Ich will Euch zeigen, was Trumpf ist.‘ Er will beweisen, daß das alte Schützenwesen am Stande trotz seiner possenhaften Schießkunstgriffe nicht verdiente, einfach beseitigt zu werden.“

„Sehen Sie, er überläßt das Geschäft des Ladens nicht dem Büchsenmeister, sondern besorgt es selbst.“

„Weil er es für das Wichtigste hält,“ meinte mein Begleiter und schüttelte sich vor Lachen.

„Was murmelt er im Laden vor sich hin?“

„Alle Wetter! Er segnet die Kugel. Jetzt setzt er den Stutzen in die Schulter – er murmelt weiter – nun verstehe ich Einzelnes. … Ah, er betet ein Paternoster.“

„Ei, mir war schon ganz wolfschlüchtig zu Muthe. Kaspar ruft:

‚Schütze, der im Dunkeln wacht –
Samiel! – Samiel! – Hab’ Acht! –
Steh’ mir bei in dieser Nacht,
Bis der Zauber ist vollbracht! –
Salbe mir so Kraut, als Blei,
Segn’ es – sieben – neun und drei,
Daß die Kugel tüchtig sei!‘“

Der Alte hatte unterdessen das Gewehr angesetzt und beugte sich etwas nach vorn, das rechte Auge unbeweglich über das Visir nach dem Ziele gerichtet. Links und rechts knallten die Stutzen, aber das Männlein rührte sich nicht. Da krachte der Schuß – athemlose Pause. Er hat das Schwarze getroffen, aber am äußersten Rande. Der Büchsenmeister gratulirte ihm; er aber legt unzufrieden den Stutzen hin und verschwindet in der Menge.

„Guter Alter,“ sagte mein Begleiter, „Deine Zeit ist vorbei; aber sie ist schön gewesen. Drum gieb Dich zufrieden und freue Dich an der Kunst der Jungen, welche ohne die Standschützen jetzt kein solches Fest hätten und nicht so trefflich schießen könnten. Und nun zu einem modernen Meisterschützen!“

Als wir uns durch das Gedränge Bahn brechen wollten, kam uns ein Schütze in die Quere, der statt seiner Gewinnstnummern ein großes Plakat am Hute trug. Mein Mentor, der ihn zu kennen schien, hielt ihn an, und ich las folgendes Herzensplakat: „Dieser Schütze wünscht auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege noch vor Ende des Festes eine junge Lebensgefährtin zu finden. Schönheit und Tugend werden Reichthum vorgezogen (??). Anonymität unstatthaft. Discretion garantirt.“

Ich fragte den Heirathslustigen, ob er mit den Resultaten seines Herzens ebenso zufrieden sei, wie mit denjenigen seiner Schützenkunst. Letzteres beantworten der Spaßvogel, indem er auf ein großes Becherfutteral wies, das er unter dem Arme trug; zum ersten Punkte dagegen lachte er pfiffig, blinzelte schelmisch mit einem Auge und gab mir einen freundlichen Rippenstoß.

Ein Meisterschütze war bald gefunden. Wo viele Zuschauer sind, muß der Schütze gut sein, heißt die Regel. Unser Mann war ein baumhoher Aargauer, dem noch drei Schüsse zur hundertsten [563] Nummer fehlten. Wohlgemerkt: drei Schüsse, denn bei ihm ist Schuß und Nummer gleichbedeutend. Er hatte sich von den zwei Collegen, welche abwechselnd mit ihm in die gleiche Scheibe schossen, die Gefälligkeit erbeten, die noch fehlenden drei Nummern nach einander herauszuschießen, ohne abzusetzen. Wir kamen eben zu seinem Stand, wie er das Patronenlager seines Vetterli-Repetirers mit drei Patronen beschwerte. Dann faßte er den Hebel an, hob und senkte ihn flink, – die Feder war gespannt, die Waffe schußbereit.

„Das ist ein Scharfschütz’,“ raunte mir ein Knabe zu, „und der macht es, wie ’s im Exercir-Reglement steht.“

Der Aargauer näherte sich der Brüstung und warf einen flüchtigen Blick auf die Scheibe. Hierauf setzte er das Gewehr in die Schulter ein, nachdem er dasselbe durch kurzes stoßartiges Ausstrecken des linken Armes in horizontale Lage gebracht hatte. Dann senkte er den Kopf ungezwungen gegen den Kolben und richtete das Auge nach dem Ziele. Deutlich sah ich, wie er darauf den Abzug mit dem zweiten Gelenk des Zeigefingers berührte – die Mündung ruhig erhob, bis das Korn in die Visirlinie fiel – der Zeigefinger machte eine drehende, kaum bemerkbare Bewegung nach links und drückte ab – Paff! – Er blieb in derselben Stellung eine, zwei Secunden; das Auge unverwandt auf’s Ziel geheftet, schien den Lauf der Kugel zu verfolgen. Getroffen! Der Schuß stak tief im Schwarzen. Die Scheibe versank und machte der neuen Platz. Der Aargauer erfaßte den Hebel am Schloßblatt wieder – klipp, klapp – die leere Patronenhülse flog aus dem Magazin nach rückwärts, das Gewehr war geladen – paff! – entladen. – Im Schwarzen, Nummer Zwei! Klipp, klapp – paff! – Die letzte Nummer ist herausgeschossen, das Hundert voll, der Becher gewonnen!

Jetzt sah sich der glückliche Schütze von allen Seiten umringt, und Bekannte und Unbekannte beeilten sich, ihm mit derbem Handschlag zu gratuliren. Ein vielstimmiges „Hoch!“ ertönte. Der Büchsenmacher konnte sich vor Freude kaum fassen und schrie:

„Hoch der Canton Aargau! Das ist doch der flotteste Canton. Wären Sie nur früher gekommen, aber am letzten Tag, das ist nüt (nichts).“

Er versichert, in „lumpigen“ zwei Stunden habe sein Aargauer seinem Stande die Ehre angethan und hundert Nummern „useklöpft“ (herausgeknallt).

Unterdessen hatte sich die Zuschauermenge immer vergrößert, da faßte der Büchsenmeister den siegreichen Aargauer beim Arme und machte sich und ihm Bahn. Unter Jauchzern und Jodlern ging’s zum Gabentempel, und die Menge folgte den Beiden.

„Kommen Sie! Wie gehen auch zum Verschwellen,“ sagte mein Begleiter zu mir. „Sie lernen da das herrliche Schweizer Nationalfest von einer seiner volksthümlichsten Seiten kennen und sehen, ‚wie leicht sich’s leben läßt‘ in des Wortes eigenster Bedeutung.“

Der Zug war am Gabentempel angekommen und hatte vor der Freitreppe Halt gemacht. Der Bechergewinner erstieg diese, und der Pokal ward ihm von Comitémitgliedern überreicht, deren Präsident einen riesigen Becher in der Hand hielt. Der Aargauer ward beglückwünscht; die Pokale kreisten, und die Menge ließ den „glücklichen Schütz us em Aargäu“ hochleben.

Unterdessen hatte sich eine Musikbande eingefunden, welche eben beginnen wollte, die schweizerische Nationalhymne: „Rufst du, mein Vaterland“ – zu spielen, doch der durstige Büchsenmacher, dem die ganze Procedur des Becherholens im Vergleich zum Verschwellen viel zu lange dauerte, herrschte ein „Nüt da! ’s wird nüd blasen!“ Der Aargauer aber, gerade im Begriffe, sich seines Bechers durch fleißiges An-den-Mund-führen zu freuen, wurde von vier wuchtigen Fäusten ergriffen, und im Nu sah er sich hoch oben auf dem Sitz zweier Schultern. Wie er auf diese Weise allem Volke sichtbar wurde, donnerte ein lang anhaltender Beifallsjubel zu ihm empor, der erst durch die Klänge eines Marsches unterbrochen ward, den die Musikbande doch für gut fand zu intoniren. So ging’s zur Festhütte: die Musiker voraus, hinter ihnen der Aargauer auf luftigem Sitz, und dann einige fünfzig Männer, rottenweise einhermarschirend, die ich so naiv war, für sehr intime Freunde und Bekannte des Bechergewinners zu halten.

„Der glückliche Schütze kennt keine zehn Mann seines stattlichen Gefolges,“ belehrte mich mein Begleiter. „Aber Alle, Alle werden beim Verschwellen mittrinken, Alle! Sehen Sie,“ fuhr er fort, indem er auf einen kleinen Mann zeigte, welcher jauchzend dem Musikcorps voraustänzelte, „sehen Sie jenen Riesen Goliath, der so übermächtige Sprünge macht und dazu jodelt, daß es eine Freude ist?“

„Gewiß ein Verwandter oder wenigstens ein sehr guter Freund oder Schulcamerad des Verschwellers, denn das Männchen scheint am gewonnenen Becher mehr Freude zu empfinden, als sein Besitzer.“

„Weit gefehlt! Der Knirps sieht den glücklichen Treffer heute zum ersten Mal und kommt vielleicht sein Lebtag nimmer mit ihm zusammen. Es ist ein Parasit, – aber einer von den weniger gefährlichen.“

„Sie sprachen von Gefährlichkeit?“ fragte ich erstaunt und überzeugte mich von der Anwesenheit meiner Börse.

„Ja wohl, aber nicht wie Sie meinen. Er wird durch seinen Durst, dessen vollkommenste Stillung ihm gar nichts kosten soll, dafür sorgen, daß nicht nur die Silberlinge, sondern auch die Goldfüchse des Verschwellers rasenden Reißaus nehmen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen vorerst zwei Parasiten untergeordneteren Ranges zeige. Jene zwei untersetzten Burschen, welche den Schützen auf ihren Schultern tragen, meine ich. Sie würden den Namen desselben nicht einmal wissen, wäre er nicht vorhin am Gabentempel ausgerufen worden. Sie machen sich ein Gewerbe aus dem enthusiastischen Ergreifen und Tragen der Verschweller; dafür dürfen sie nachher den Becher einweihen helfen. Ich habe übrigens Beide im Verdacht, Dienstmänner von Profession, aber in vorübergehendem Civil zu sein.“

„Jeder Arbeit ihren Lohn! Sie verdienen ihn, denn bei dieser Hitze einen solchen rhodischen Coloß zu tragen, der zudem eine Karlsbader- oder Bantingcur benöthigt, ist eine Herculesarbeit. Wie macht sich aber der Vortänzer nützlich, den wir vorhin beobachtet?“

„Durch Erweckung einer fröhlichen Stimmung beim Verschwellen. Er ist der privilegirte Witzbold. Freilich muthen Einen hier und da seine Scherze wie alte Bekannte an aus verschollenen Nummern der ‚Fliegenden Blätter‘ oder des ‚Postheiri‘, des Schweizer Kladderadatsch, aber sie finden dennoch ein sehr empfängliches Publicum. Auch passen auf viele seiner Witze die Epitheta von Schulrath Wantrup ‚Reinlich und zweifelsohne‘ unter keiner Bedingung, und sie sind daher blos für intimere Kreise berechnet. Zudem wollen böse Zungen behaupten, seine Späße kehrten stereotyp bei jeder Verschwellung wieder, so daß ein mehrfacher Bechergewinner das Vergnügen habe, dieselben Scherze mehrfach anzuhören. Sei dem wie ihm wolle, es ist Pflicht jedes Zuhörers, sie stets auf’s Neue nicht nur zu belächeln, sondern auch mit stürmischer Heiterkeit zu begleiten.“

„Und ein Gefährlicher im Superlativ?“ fragte ich.

„Ist jener stämmige junge Mann mit dem Knotenstocke. Nicht genug, daß er, ohne den Aargauer zu kennen, mit ihm Verschwellen geht, nein, er ruft auch noch seine eigenen und, wie es scheint, ungemein zahlreichen Freunde, die er in Sicht bekommt. Jeden, der seiner Einladung zum Mitverschwellen Folge leistet, ergreift er jubelnd am Arme. Sehen Sie, schon hat er ein volles Dutzend recrutirt, Bursche mit einem Heidendurste und einer merkwürdig weiten Kehle, und nun marschiren Alle in Reih’ und Glied auf. Wehe dem Sieger! Und doch kann man all’ diesen unverschämten, aber gutmüthigen und kreuzfidelen Parasiten nicht böse sein, denn

Es ist nur einmal all’ zwei Jahr,
Nur einmal Schützenfest.“

Unterdessen war der Zug in der Festhütte angekommen. Der Aargauer wurde auf den Tisch gesetzt. Schaarenweise eilten die Kellner mit vorschriftsmäßiger Serviette im Knopfloche hin und her, ab und zu. Ein Beifallssturm raste zur Begrüßung des Bechergewinners durch die geräumige Halle, und die Menge, welche bisher zechend an ihren Plätzen gesessen hatte, eilte über Tische und Bänke, um den Verschweller in der Nähe zu sehen. Ganze Körbe mit Flaschen wurden hergebracht. Jetzt ging die Becherverschwellung an, indem zu den schrillen Tönen der Kindermords-Mazurka aus „Troubadour“ Becher, Humpen und [564] Gläser gefüllt und mit brausendem Hoch auf das Vaterland und den glücklichen Schützen pflichtschuldigst bis auf die Nagelprobe geleert wurden. Sodann ging der gewonnene Pokal von Mund zu Mund. Der Hauptparasit stimmte schließlich einen zur Situation nicht ganz passenden Cantus – „Wer hat dich, du schöner Wald“ – an, und seine auf eigene Gefahr – aber nicht Rechnung! – eingeladenen Freunde secundirten nach Kräften. Der kleine Vortänzer war mittlerweile auf einen Tisch gestiegen, von welchem herab er allerlei kleine Spaße machte. Bald gab er Räthsel auf, bald hielt er einen Sermon in allen möglichen Dialekten des Schweizerlandes, bald copirte er einen verstimmten Leierkasten oder eine Dudelsackpfeife, bald tanzte er einen Hopser, bald krähte er wie ein Hahn. Als aber der Pokal an ihn kam, setzte er ihn an, leerte ihn, ließ wieder füllen, trank wieder bis auf die Neige und so „mit Grazie in infinitum.“ Der sieggekrönte Schütze sieht jedoch der Unendlichkeit dieses parasitischen Durstes mit gemischten Gefühlen zu, und

Die Augen gingen ihm über,
So oft trank Der daraus.

„Dort ist Mani, der Berner Mutz, das Wappenthier von Bern“ sagte mein Cicerone, als wir weiter gingen. Ein zottiger Bär, die Hellebarde in den Tatzen, humpelte hin und her. Bald verlor er sich in dem Menschenstrome, der von dem Schießstande her in die Halle strömte, denn eben kündigten Kanonenschüsse an, daß das eidgenössische Fest sein Ende erreicht habe. Mani marschirte bald gravitätisch an uns wieder vorbei.

„Bei dem schönen Geschlechte ist der Berner Bär übel angeschrieben,“ versetzte mein Begleiter. „Sehen Sie denn nicht, wie sich die Damen vor ihm verbergen? Sie fürchten, er möchte mit ihnen den ‚Niedlichen‘ oder den ‚angenehmen Schwerenöther‘ – wie man am Rheine sagt – spielen, und sie lieben seine offenkundigen Galanterien nicht sonderlich, mag auch noch so ein hübscher Kerl in seinem Pelze stecken.“

Er hatte kaum ausgesprochen, als der Berner Mutz ein ahnungsloses Bauernmädchen in kleidsamer Schwyzertracht erwischte und in bärenhaft täppischer Weise unter vergnügtem Brummen umarmte. Das arme Ding suchte mit feuerrothen Wangen sich seinen Liebkosungen zu entziehen, „jüngferlich kreischend“, wie es in Voß’ „Louise“ heißt.

Dann humpelte der schlimme Mutz weiter und verschwand in der Menschenmenge, um jedoch gleich darauf wieder sichtbar zu werden – auf der Rednerbühne! Der freche Geselle wird doch keine Rede halten wollen? Doch nein! er führte blos zum rauschenden Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“ den dazu gehörigen Bärentanz aus. Homerisches Gelächter ertönte von allen Seiten, als man ihn bemerkte, denn der Petz ist der Liebling aller Festbesucher, wegen seines prächtigen Humors, den er selbst bei dreißig Grad Réaumur im Schatten und in seiner schweren Haut nicht verliert. Und als die Musik schwieg, da hielt auch das heraldische Thier von Bern im Tanzen inne und zeigte mahnend mit plumper Tatze auf das an der Tribüne befindliche weiße Schweizerkreuz im rothen Feld. Das beweist, daß hinter dem zottigen Felle ein vaterländisch fühlendes Herz schlägt, denn es soll ein In hoc signo vinces! (in diesem Zeichen wirst Du siegen!) sein, eine Mahnung an alle Schweizer, sich an’s Vaterland anzuschließen, und allezeit das Banner politischer und religiöser Freiheit aufrecht zu halten.

Eben verhallte der letzte Kanonenschuß. Das eidgenössische Freischießen zu St. Gallen war zu Ende, eine erhebende Feier, ein wirkliches Volksfest in einem glücklichen Lande.

Z.