Textdaten
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Autor: Wilhelm Jordan
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Titel: Epische Briefe II
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 564–566
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[564]
Epische Briefe.


Von Wilhelm Jordan.
II.


Am Schluß meines ersten Briefes versprach ich, Sie einzuführen in die Werkstatt des Epos.

Wo haben wir dieselbe zu suchen? Wo wächst und bricht der Marmor, aus welchem die epische Kunst ihre Gebilde meißelt? Wo können wir sie bei der Arbeit belauschen und sehn, mit welchen Mitteln, unter welchen Bedingungen, nach welchen Regeln sie schafft und zu welcher Verwendung sie bestrebt ist ihr Kunstwerk geeignet zu machen?

Beginnen wir mit der letzten dieser Fragen.

Jedes Kunstwerk hat die Bestimmung, durch die Sinne erfreulich zu wirken auf das Menschengemüth, genossen zu werden mit den Augen, den Ohren oder mit beiden zugleich; denn den Leistungen des Kochs und des Parfumeurs wird außer ihnen selbst Niemand geneigt sein, schon den Rang von Kunstwerken zuzugestehen. Auch die Leistungen vermittelst der Sprache sind Kunstleistungen, wenn ihre Anordnung die richtige und schöne Entfaltung einer Grundidee ist und die Rede, Erzählung oder Schrift in der Einbildungskraft des Hörers oder Lesers eine harmonische und anschauliche Gesammtvorstellung hervorbringt.

Diese Sprachkunst wird zur Poesie, wenn die Laute, welche Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen und Anschauungen mittheilen, zugleich Musik machen, und diese Musik eine ähnliche Stimmung weckt, wie der mitgetheilte Inhalt. Diese Musik der Sprachkunst kommt zu Stande durch die Anordnung der Laute nach Regeln des Wohlklanges, durch Assonanz, Reim oder Stabreim, durch melodische Führung der Vocalisation und anmuthende Vertheilung ihrer Klangfarben.

Poesie ist also darstellende Sprachmusik.

Sie hat drei Gattungen, zwei unselbstständige, welche ihre Bestimmung nur in Verbindung mit anderen Künsten erfüllen können, und eine selbstständige und deshalb höchste, weil in ihr die Sprachkunst und ihre unzertrennliche Zwillingsschwester, die Sprechkunst, die sinnliche Verwirklichung des Kunstwerkes allein und ganz besorgen können.

Die erste dieser Gattungen ist die lyrische Poesie. Ihr echtes Kunstwerk ist das Lied, von dem der Poet als solcher nur einen Haupttheil, den Text, erzeugt. Um in seine volle Kunstexistenz zu treten, bedarf es noch des Componisten, der eine Weise dazu setzt, und des Sängers, der es mit dieser ausführt. Was die Lyrik sonst noch an sogenannten Gedichten hervorbringt, sind sammt und sonders Zwitter- und Bastardgebilde, welche an die Kunst mehr oder minder streifen, ohne ihre Bedingungen jemals rein zu erfüllen.

Die zweite Gattung ist die dramatische, in welcher die Dichtung nur durch eine ganze Reihe helfender Künste und Handwerksverrichtungen ihrer Bestimmung gemäß ausgeführt werden kann; nämlich durch die Darstellungskunst des Schauspielers, Costümkunde und Schneiderarbeit, durch den Decorationsmaler, den Maschinisten, den Lichtordner u. a. m. Ihr durchaus falscher, obwohl so ziemlich in allen Literaturgeschichten und Poetiken besiegelter Anspruch, die höchste der poetischen Gattungen zu sein, wird uns in einem späteren Briefe beschäftigen.

Die dritte und allein selbstständige Gattung, welche die beiden vorigen insofern einschließt, als auch sie sowohl Empfindungen und Stimmungen mitzutheilen, als auch Handlungen darzustellen hat, ist die epische.

Auch sie kann sich förderlich unterstützen lassen durch eine bescheiden begleitende, streckenweit ganz verstummende, und nur an geeigneten Stellen eingreifende Musik. Sie scheint das in früheren Zeiten immer gethan zu haben. Aber solche Musik ist ihr nicht unentbehrlich.

Nicht verzichten aber, ohne ihre wahre Kunstwirkung einzubüßen, darf sie darauf, daß ihre eigene Musik zur Ausführung komme. Nicht blos ihre nachträgliche Wirkung, auch schon ihr eigenes rechtes Zustandekommen, das ihrer Darstellung wie das ihrer Musik, würde sie damit verhindern. Denn das Geheimniß, wie diese Darstellung beschaffen sein muß, ist schlechterdings auf keine andere Weise zu erfahren, als durch viele Proben, und die Regeln, nach denen die Noten ihrer Sprachmusik durch Tact, Rhythmus, Anlaut, Anklang, Gleichlaut, Vocalisation und Tonfarben gesetzt werden müssen, sind auch nicht anders zu gewinnen, als durch den oft wiederholten Versuch, sie da klingen zu lassen, wo sie gehört zu werden bestimmt sind.

Nehmen Sie einem Architekten Bauplatz, Stein, Mörtel, [565] Holz, Maurer und Zimmerleute. Verdammen Sie ihn, immer nur zeichnen und seine Risse höchstens etwa lithographiren, aber sie niemals ausführen zu dürfen. Enthoben der Rücksicht auf Raum und Stoff, auf das Gesetz der Schwere und die Bedürfnisse des Lebens, müßte er sich verirren in theoretische Spielereien und zuletzt den Sinn verlieren für das Natürliche und Schöne. Oder verweigern Sie einem Componisten Orchester und Sänger und gestatten ihm einzig den Druck seiner Partituren. In der dauernden Unmöglichkeit, seine Tonschöpfungen verwirklicht zu hören, müßte er auch bei hoher Begabung mindestens starke Einbuße leiden an maßvoller Klarheit – wovon ja selbst das Riesengenie eines Beethoven nicht ganz verschont blieb, als ihm Taubheit die Selbstkritik der ausgeführten Composition versagt hatte.

In solcher widernatürlichen Lage hat sich die deutsche Poesie geraume Zeit wirklich befunden. Denn abgesehen von gesungenen Liedern, deren denn auch ein schöner Blüthenflor gediehen ist, und von etwa anderthalb oder zwei Dutzend solcher Dramen, die noch zur Poesie gerechnet werden dürfen, wurden ihre Schöpfungen fast niemals ausgeführt. Was konnte sie, dennoch unermüdlich weiterschaffend in dieser Absperrung von den Bedingungen ihres Lebens, anderes erzeugen, als blasse Studirstubengedichte, denen die Ausführbarkeit fehlt, die sich, so wie sie sind, mit äußerst seltenen Ausnahmen durchaus nicht eignen, mit Wohlklang vorgetragen zu werden und dabei zu spannen, zu unterhalten und zu erbauen; Gebilde, vergleichbar jenen Kellerpflanzen, die sich in langen Fäden nach dem Dämmerschein am Fenster hinrecken, den eingeborenen Maßen und Formen entgeilen, statt der Blätter nur Stummel treiben und schließlich auch im besten Boden rettungslos verwelken, wenn der erschöpfte Wurzelknollen mit dem gelben Gefilz endlich an Luft und Sonne gebracht wird.

Was für den Baumeister Stein und Holz, für den Bildhauer Erz und Marmor, für den Maler Leinwand und Farbe, für den Componisten Stimmen und Instrumentalton, das ist für den Poeten, den Künstler in darstellender Sprachmusik, nicht etwa Papier und Druckerschwärze, sondern das gehörte Wort. Nur durch lauten Vortrag kommt sein Werk zur vollen Existenz; ohne ihn verzichtet es auf das wesentliche Merkmal jedes Kunstwerkes, Verwirklichung für die Sinne. Gedichte zu machen blos um sie drucken zu lassen, ist bestenfalls eine Spielerei mit Kunstformen, keine Ausübung wahrer Kunst. Augenpoesie zum Gesehenwerden ist ein ähnlicher Widersinn wie ein Mittagessen, das bestimmt wäre nicht zum Gegessenwerden mit dem Munde, sondern lediglich zum Gerochenwerden mit der Nase.

Also gesetzt auch, ich meinte mit jener Werkstatt des Epos nur etwa, beispielsweise, meine Arbeitsstätte: auch dann würde ich nicht mein Studirzimmer mit seiner Bibliothek bezeichnen dürfen als den Ort, an welchem die für das Epos charakteristische Hauptarbeit gethan werde. Denn das zu werden, was sie geworden ist, hat meine Dichtung erst in mehreren Hundert über die Hälfte des Erdumfangs vertheilten Sälen und unter Beobachtung ihrer Wirkung auf Hunderttausende von Zuhörern gelernt.

An einem andern Orte habe ich angedeutet, wie ich das dunkel und unvollkommen geahnte Gesetz des Stiles und Baues des Epos erst allmählich wieder entdeckt habe in der Ausübung des Rhapsodenberufes.*[1] Von den ersten achtzehn Gesängen meiner Sigfridsage, mit denen ich meine Reisevorträge begann, ließen die Erfahrungen eines Lustrums keine Zeile unverwandelt, und weniger noch, als vom ersten Text, ist von seiner ersten Anordnung übrig geblieben. Nur durch die lebendige Wechselwirkung zwischen dem vortragenden Poeten und seinen Hörern kann das Epos seine richtige Gestalt gewinnen. Die Eigenschaften zur rechten Wirkung auf die Nation vermag es nur zu schöpfen aus ihrer Mitarbeit.

Wie die Erfüllung der Gesetze der Form nur von dieser Mitarbeit, so kann der Dichter des Epos dessen Stoff einzig und allein empfangen von der Vorarbeit längst vergangener Geschlechter seiner Nation und ihrer Ahnenvölker.

Weit weniger als ein anderer Dichter ist der des Epos ein schaffendes Einzelwesen.

Zwar überkommt auch der Dramatiker von seinen Vorgängern ein Kunstgesetz, von der zeitlichen Einrichtung der Bühne das Maß, die Anordnung und Vorführungsweise seiner Gebilde, von der Sitte und herrschenden Empfindung seiner Epoche die Farbe der Leidenschaften, die Natur der Kämpfe, mit deren Darstellung er hoffen darf, die Gemüther zu ergreifen. Im Uebrigen aber genießt er große Freiheit in der Wahl seiner Stoffe; ja, er darf dieselben unter Umständen sogar frei erfinden. Eine überlieferte, erlebte oder ersonnene Handlung senkt er als wohlgewähltes Samenkorn in das fruchtbare Beet seines Talentes und erzieht daraus eine selbstständige Blüthenpflanze.

Der Dichter des Epos kann nur selbst ein Knospenauge sein an dem Blüthenschafte, den der Baum seines Volkes, vergleichbar jener gefabelten hundertjährigen Aloë, nach langen Epochen treibt, wenn das Weltenjahr dieses Volkes wieder einmal in seinen Frühling eintritt. Auf diesem Schafte entfaltet sich zu Blüthen nichts Anderes, als der Saft und Stoff, den die uralten Wurzeln seit Jahrtausenden emporsaugen. Auch sind es nothwendig Blüthen von gleicher Form und Färbung, wie sie nach dem eingeborenen Gesetze des Baumes schon einmal geprangt haben in einem längst vergangenen Frühlinge.

Jenes Beet des Dramatikers kann eine Menge verschiedener Blumen, dieser Baum des Epos nur eine Blüthendolde tragen. Geeignet für das Drama sind unzählige Stoffe; für das Epos durchaus nur ein einziger. Dramatische Dichter können sich, wie die Geschichte der Poesie beweist, in jeder Culturnation zu hoher Leistungsfähigkeit entfalten. Zum Dichter des Epos hingegen kann sich auch der höchstbegabte Poet niemals ausbilden, wenn sein Volk nicht eines der wenigen epischen Völker ist. Italienern, Spaniern, Franzosen z. B. wird, wie bisher, das wahre Epos immerdar versagt bleiben.

Aber selbst innerhalb eines epischen Volkes kann das Epos nur zu Stande kommen unter überaus seltener Schicksalsgunst, deren Herbeiführung auch der gewaltigsten Einzelkraft gerade so unmöglich ist, wie etwa dem Menschengeschlechte überhaupt eine Aenderung in den Bewegungen des Sonnensystems. Es gehört dazu die in einem Lebensalter zusammentreffende Erfüllung einer ganzen Reihe von Vorbedingungen, wie sie bisher kaum je einmal im Laufe eines Jahrtausends eingetreten ist.

Und welches sind die Bedingungen des Aufblühens dieser Tausendjahrblume?

Erstlich, wie gesagt, muß das Volk ein episches Volk sein; das heißt, es muß sich befinden im erblichen Besitze uralter Sagen. Dieser Besitz darf nicht aufgehört haben, ein lebendiger zu sein. Es genügt nicht, daß solche Sage in Schriften und Büchern vorhanden geblieben. Sie muß sich auch von Geschlecht zu Geschlecht in mündlicher Ueberlieferung und Fortbildung erhalten haben. Das Volk muß beständig auch die Haupterlebnisse seiner weiteren Geschichte verschmolzen haben mit den Gestalten, Bildern und Mären seines alten Sagenschatzes. Endlich muß unter diesen Sagen eine seit Urzeiten allbeherrschend in der Mitte stehen und, wenn auch nicht gerade im klaren Bewußtsein, so doch im Herzen des Volkes den verborgenen Einheits- und Ausstrahlungspunkt aller anderen bilden, indem sie, als die reichste und beliebteste, vor Allen dazu gedient hat, ihren Gestalten, als heiligen Erbgefäßen der Poesie, alle höchsten und tiefsten Vorstellungen der Nation von Mannesherrlichkeit und Niedertracht, von Frauentugend und Frauenfrevel einzuverleiben und in ihren Begebenheiten das Walten einer göttlichen Ordnung erscheinen zu lassen.

Nur in solchem Volke und nur aus einer solchen Sage kann ein Epos werden. Ja, ich denke so groß von der zeugenden Kraft eines solchen Volkes und so klein vom individuellen Talente und seiner Unentbehrlichkeit, daß ich sage: in solchem Volke muß aus einer solchen Sage unfehlbar ein Epos werden, sobald die Epoche noch zwei andere Bedingungen erfüllt. Denn dann ist allemal auch die Fülle der Talente so groß, daß eines derselben unausbleiblich auf den rechten Weg gedrängt wird, auf dem es leisten lernt, was eintrittsreif geworden ist. Ich meine, beispielsweise, daß die Nibelungensage auch ohne mich kein Jahrzehnt mehr als jetzt gebraucht haben würde, einen Poeten in die Rhapsodenlaufbahn zu drängen, um durch ihn auf diesem einzig möglichen Wege zum Epos zu werden. Denn jene beiden anderen Bedingungen waren eben im Begriffe, sich zu erfüllen.

Zweitens nämlich kann das Epos nur erblühen, wenn die Nation sich befindet in einem Hauptknotenpunkte ihrer Entfaltung [566] zur führenden Weltmacht. Das Hoffnungslicht, welches die Heldenschatten der Vergangenheit bestrahlen muß, wenn sie wieder zu lebendigen Gestalten werden sollen, kann der Poet nur hernehmen vom Morgenrothe eines neuen Heldenalters, und

Gedeihen verleiht zu dauerndem Leben
Dem Heldengesang nur die Sonne des Sieges.

Drittens aber ist auch die Epoche solchen Machtaufschwunges eines epischen Volkes nur in einem Falle vollkommen und fertig ausgerüstet, um die vom einzelnen Poeten zum Kunstepos zu gestaltende Kernsage zum echten Nationalepos werden zu lassen: wenn sich gleichzeitig mit den staatlichen Siegen auch der Sieg einer neuen und höheren Gestalt der Religion über eine alte unzureichend gewordene im Bewußtsein des Volkes zu vollziehen im Begriffe ist.

Niemals erfinden kann, aber vorfinden und deutlicher als alle Anderen erkennen und voller zusammenfassen muß der Dichter des Epos diese neue Religion; nicht um sie zu predigen, was er gar nicht darf, sondern lediglich um seine Gestalten und deren Thaten mit ihr zu durchleuchten und in den Schicksalen der Helden das Walten ihres höheren Sittengesetzes zur Anschauung zu bringen.

Durch diese Leistung erst sind die Epen Homer’s zur nicht blos künstlerischen, sondern auch nationalen und weltgeschichtlichen Großthat geworden. Die frühere griechische Religion erkennen wir aus den hesiodischen Dichtungen, welche zwar mit den homerischen höchstens gleichzeitig, ihrer letzten Fassung nach wahrscheinlich viel später entstanden sind, aber offenbar beruhen auf der vorhomerischen und zum Theil gewiß priesterlichen Tradition. Diese alte Religion ist in den homerischen Epen gänzlich verwandelt. Bei Hesiod sind die Götter, wenn auch menschlich symbolisirt, noch die schieren Naturgewalten; bei Homer aber sind sie, in den echtesten Stellen der Ilias beginnend, in der Odyssee in schattenloser Vollendung, die Träger der sittlichen Mächte des Menschengemüthes.

Von so unvergänglicher Wirkung ist seine Großthat deshalb, weil bei ihm diese Verwandlung der alten Religion in vielen Stücken schon angekommen ist bei Vorstellungen, wie sie auch die verklärteste Gestalt des Ewigen aller Religion niemals reiner aussprechen wird.

Und wohl dem Volke, dem seine Religion nicht in Dogmen von zünftigen Priestern, sondern von solch einem Dichter in Vorbildern geboten wird! Keinen geringen Theil ihrer Herrlichkeit verdankten die Hellenen ihrem Homer. Wären sie nur in einem Hauptstücke weniger weit zurückgeblieben hinter der Größe ihres Poeten! Verführt von der größeren, jugendlich genialen Frische und Farbenpracht der Ilias, wußten sie die Odyssee, das im Einzelnen minder bestechende, aber weit vollendetere und edlere Kunstwerk, niemals verdientermaßen zu würdigen. Denn in das höchste Ideal ihres Dichters, in das homerische Musterbild der durch ihre Tüchtigkeit, Gattentreue und weise Mäßigung über alle Anfechtungen triumphirenden Familie, sind sie niemals hineingewachsen. Auch ward es Hauptursache der frühen Zerrüttung und Verderbniß ihres Volkslebens, daß sie, über Kleinasien angesteckt von semitischem Wollustcultus, bald kein Verständniß mehr hatten für die homerische Frauenwürde. Weil sie es versäumten, seine Andromache, Nausikaa, zumal Penelope, aus Poesie in Fleisch und Blut zu übersetzen, sind sie zu Grunde gegangen an ihren Laïs, Phrynen und Aspasien.

Daß die Erfüllung jener Vorbedingungen des Epos im Zeitalter Homer’s wirklich zusammengetroffen, das ist uns auch in der Zeitenferne noch erkennbar geblieben. Sein Volk war ein eminent episches; denn es hatte die arische Ursage zu reichster Fülle erweitert und genoß sie schon seit geraumer Zeit in den Liedern, welche die Sänger bei Festen und Schmausereien vorzutragen pflegten. Auch hatte sich ein Haupttheil dieser Sage in bereits nationaler Färbung krystallisirt um die Trümmerstätte einer zwei bis drei Jahrhunderte zuvor zerstörten Stadt, nahe der wahrscheinlichen Heimath des Dichters.

Eine Vereinigung griechischer Stämme hatte, oder sollte mindestens dieses damals schon sagenhafte Troja erobert haben. In der Epoche des Dichters aber war auch in Wirklichkeit der Westen der kleinasiatischen Halbinsel von einem solchen Bunde der Stämme des Mutterlandes siegreich erobert und colonisirt worden zu einer Menge blühender Gemeinwesen, in denen sich das Hellenenthum zum ersten Male verheißungsvoll auch nach außen entfaltete. Daß auch die Erfüllung jener dritten Bedingung, die Verwandlung der Religion, eine Arbeit seines Volkes gewesen, welche er nur zusammenzufassen und zum poetischen Ausdrucke zu bringen hatte, das ist uns freilich nicht mehr nachweisbar, aber darum nicht minder gewiß. Denn große Poeten mit ihrer Spiegelnatur eignen sich nicht, mit einsam ergrübelter Ueberzeugung der ganzen andersdenkenden Welt den Krieg zu erklären als Religionsstifter, und ebenso unverträglich mit ihren Gaben ist der Bekehrungseifer der Apostel. Nur als die Sammler der Erscheinungen zu treuen Bildern geben sie durch diese Zeugniß, daß sich eine neue Phase vollzogen hatte im Glauben ihres Volkes.

Die Werkstatt also, in der die Völker werden, ist auch die wahre Werkstatt des Epos.

Es bleibt gar wenig, ja, genau betrachtet, nichts übrig, was vom Zustandekommen des Epos der einzelne Poet sein Verdienst nennen darf. Denn auch die letzte Fertigstellung, die allerdings nicht geschehen kann ohne den einzelnen Künstler, ist nicht sein Verdienst, sondern sein Glück: das unschätzbar hohe Glück, in der Epoche zweier großen Weltbegebenheiten ein Sohn des Volkes zu sein, das dieselben vollbringt und sie, als episches Volk, in großer Vorzeitsage schon deutlich geahnt und sich vorgezeichnet hatte; das Glück endlich, durch die sogenannten Zufälligkeiten seines Lebenslaufes hinein gedrängt, in Wahrheit durch heilige Führung hinein befohlen zu sein in den Beruf, in welchem er lernen mußte, der Mund zu werden, durch den diese Sage auf’s Neue reden will in der Sprache der Zeitgenossen, um die Ahnungen der Vorfahren erfüllt zu zeigen in einer glorreichen Gegenwart.




  1. * Siehe meine Schrift über „das Kunstgesetz Homer’s und die Rhapsodik.“