Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Grammatiker aus Alexandria, 2. Jhdt. n. Chr.
Band XVII,1 (1936) S. 274277
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27) Grammatiker aus Alexandreia (Suidas), Sohn eines sonst unbekannten Hermeias (Suid., Steph. Byz. s. Ἄθλιβις. Ἀλεξάνδρειαι, Τίβυρις), zur Zeit des Kaisers Hadrian (in Alexandreia) lehrend (Suidas, erschlossen aus der unter Nr. 8 genannten Schrift). Weil sich seine Hauptschriften mit der Interpunktion befassen, führt er bei späteren Grammatikern den Beinamen ὁ Στιγματίας (Eustath. 20, 12, Zusatz zu Suidas).

Von seinen Schriften sind bekannt (Suid. erwähnt am Schluß καὶ ἄλλα):

  1. Περὶ στιγμῆς τῆς παρ’ Ὁμήρῳ καὶ τῆς ἐξ αὐτῶν διαφορᾶς ἐν τῇ διανοίᾳ (Suidas). Daß wir von diesem Werk eine ziemlich genaue Vorstellung haben, verdanken wir dem in der Schlußschrift des Venetus A. der Ilias bezeugten Umstand, daß der Urheber des Viermännerkommentars neben Aristonikos, Didymos und Herodianos auch τινὰ ἐκ τῶν Νικάνορος περὶ στιγμῆς, also einen Auszug daraus, in seine Kompilation aufgenommen hat. Namentlich angeführt wird N. in den Iliasscholien (nieht nur denen des Ven. A) 26mal, doeh hat Friedländer ihm auf Grund einer sorgfältigen Beobachtung seiner Lehre und einer Terminologie zahlreiche andere Scholien zuweisen können, und Carnuth ist ihm darin für die Odysseescholien gefolgt; Berichtigungen geben Schmidt und Wackernagel.
  2. Περὶ στιγμῆς τῆς καθόλου, βιβλία ςʹ und Ἐπιτομὴ τούτων, βιβλίον αʹ (Suidas). Von dieser systematischen Darstellung der Interpunktionslehre ist uns ein knapper Auszug in den byzantinischen Kommentaren zu § 4 (περὶ στιγμῆς) der Ars grammatica des Thrakers Dionysios erhalten (Scholia in Dion. Thrac. Artem gramm. rec. Hilgard 1901, 26, 4-28, 8; kune Hinweise 24, 15 - 18. 25, 14-17. 177, 32. 312, 32-35). Daß die Καθόλου στιγμή jünger ist als die Ἰλιακή, schließt Wackernagel 437 daraus, daß sie in dieser keine Erwähnung gefunden hat; wie wir später sehen werden, trägt auch die Lehre selbst deutliche Spuren davon, daß sie aus der Homererklärung hervorgegangen ist. Der Titel ist vielleicht durch die Καθόλου προσῳδία Herodians veranlaßt, die ihr nach Wacekernagel 437 zeitlich voraufgegangen ist.
  3. Περὶ στιγμῆς τῆς παρὰ Καλλίμαχῳ (Suidas). Die erhaltenen Scholien zeigen keine Einwirkung dieser Schrift.
  4. Κωμῳδούμενα (Suidaa). Ob diese Schrift tatsächlich die in den attischen Komödien behandelten Fabeln zum Gegenstand gehabt hat (so zuletzt Steinhausen Κωμῳδούμενοι, Diss. Bonn 1910, 50), muß dahingestellt bleiben.
  5. Περὶ ναυστάθμου (Suidas), d. h. über das Schiffslager der Griechen vor Troia. Diese Schrift wird von N. selbet in der Ἰλιακὴ στιγμή zweimal zitiert (Schol. A XII 258. XVIII 68) und vielleicht öfter stillschweigend ausgesichrieben (Wackernagel 438), muß also früher als jene abgefaßt sein.
  6. Περὶ τοῦ ὦναξ (Suidas), ein Schriftchen, das vielleicht nicht nur die Gesetze der Krasis, sondern die von den Grammatikern gern behandelte Erscheinung der Synaloiphe in allen ihren Arten darstellte.
  7. Περὶ Ἀλεξανδρείας (Steph. Byz. s. Ἀλεξάνδρειαι, S. 72, 10 M. = frg. 1). Auch in diesem Werk, das mindestens 2 Bücher umfaßt haben muß (Steph. zitiert das erste), verleugnete N. sein vorwiegend grammatisches Interesse nicht, indem er die zahlreiehen Abwandlungen des zum Namen seiner Vaterstadt gehörigen Ethnikons aufzählte und kritisch besprach.
  8. Πρὸς Ἀδριανόν (Steph. Byz. s. Ἄθλιβις = frg. 2). Da das Werk angeführt wird, um die Schreibung der unterägyptischen Stadt Ἄθριβις mit ρ zu belegen, weist man ihm wohl mit Recht auch frg. S (Steph. Byz. s. Τίβυρις) zu, in dem die ungewöhnliche Form Τίβουρα mit dem Ethnikon Τιβουρῖνος auf N. gestützt wird. Auch dieses geographische Werk, dessen Titel wir nicht kennen, war also grammatisch ausgerichtet.

Die Interpunktionslehre, von der allein wir eine ausreichende Kenntnis besitzen, wurde durch N. zu einer Feinheit entwickelt, die sie weder vor ihm noch nach ihm jemals wieder erreicht hat. Während Dionysios Thrax sich mit zwei Zeichen für die Redepausen begnügt hatte - der τελεία στιγμή und der ὑποστιγμή (die in den Hss. überlieferte μέση στιγμή ist byzantinische Zutat; vgl. besonders Laum 412) -, erfand N. deren acht. 1. Die τελεία στιγμή, ein Punkt hinter der Mitte des letzten Buchstabens, wird gesetzt, um zwei asyndetisch aufeinander folgende Sätze zu trennen. 2. Die ὑποτελεία, ein wenig tiefer als die τελεία stehend, scheidet Sätze, die durch δέ oder eine ähnliche Konjunktion (γάρ, ἀλλά, αὐτάρ) miteinander verknüpft sind. 3. Die πρώτη ἄνω, ein Punkt über dem letzten Buchstaben, trennt die Sätze dann, wenn sie durch μέν - δέ, ἤ - ἤ, οὐκ - ἀλλά aufeinander bezogen sind. 4. Die δευτέρα ἄνω, derselbe Punkt von einer nach links offenen διπλῆ umschlossen, tritt ein, wenn zwei Sätze durch ein καί zusammengehalten werden. 5. Die τρίτη ἄνω, von der δευτέρα dadurch unterschieden, daß sich die διπλῆ nach rechts öffnet, zeigt die noch engere Verbindung durch ein τέ an. 6. Die ὑποστιγμὴ ἐνυπόκριτος, ein Punkt unter dem letzten Buchstaben, aber etwas zur Seite hinausgerückt, steht in ὀρθαὶ περίοδοι zwischen πρότασις und ἀνταπόδοσις, die etwa durch ὄφρα - τόφρα, ἦμος - τῆμος, ὅτε - τότε, ἕως - τέως, ὅπου aufeinander bezogen sind. 7. Die ὑποστιγμὴ ἀνυπόκριτος, derselbe Punkt bis unter den letzten Strich des letzten Buchstabens verschoben, tritt ein, wenn zwischen πρότασις und ἀπόδοσις andere Sätze (parenthetisch) eingeschoben sind, wo dann die ἐνυπόκριτος ihren Platz nur unmittelbar vor dem Nachsatz einnehmen darf. 8. Durch die Form des ὀξὺς τόνος von allen vorangehenden Zeichen unterschieden ist die ὑποδιαστολή, die gleichfalls unter den letzten Strich des letzten Buchstabens tritt, aber Vorder- und Nachsatz nur dann trennt, wenn die περίοδος eine ἀνεστραμμένη ist, d. h. wenn die ἀπόδοσις der πρότασις vorangeht. In den Homerscholien wird dieses Zeichen nicht ὑποδιαστολή, sondern βραχεῖα διαστολή oder διαστολή schlechthin genannt, und L a u m 413ff. hat glaubhaft nachgewiesen, daß erst der byzantinische Scholiast diese Bezeichnung durch jene ersetzt hat.

An dem Interpunktionsystem N.s fällt besonders auf, daß nicht weniger als fünf Fälle der Koordination unterschieden werden, während die viel feiner differenzierte Periodenbildung auf zwei Fälle - Voranstellung und Nachstellung der ἀπόδοσις - beschränkt bleibt. Zur Erklärung genügt es nicht, auf die unentwickelte Satzlehre der Alten zu verweisen (Steinthal 349), sondren man wird annehmen musesen, daß N. sein System eben an dem Dichter entwickelt hat, auf den er es vornehmlich angewendet wissen wollte, und daß er aus den Bedürfnissen der Homererklärung heraus zu seinen Aufstellungen gekommen ist (Friedländer 6). Im übrigen müssen wir uns gegenwärtig halten, daß das Exzerpt des Dionysiosscholiasten äußerst knapp gehalten ist und z. B. bei der βραχεῖα διαστολή die Verwendung dieses Zeichens zur Trennung benachbarter Worte, deren Verbindung einen verkehrten Sinn ergeben würde (πρὸς τὸ σαφέστερον), gar nicht erwähnt, obgleich N. selbst sie häufig gerade so verwendet. Wie die Scholien in diesem Punkte eine wertvolle Ergänzung zu den Angaben des Exzerptes liefern, so lehren sie uns auch, daß N. nicht selten in das Nachbargebiet der Prosodie übergegriffen hat, wie umgekehrt Herodianos an den Fragen der Wort- und Satztrennung nicht ganz hat vorübergehen können (Laum 156-159). Daß die Interpunktionen N.s nicht nur eine Anleitung zum grammatischen Verständnis des Textes geben, sondern zugleich dem Vorleser, der ein Satzgefüge in Scriptio continua nicht im voraus übersehen konnte, Hilfe für den Vortrag leisten wollten, erfahren wir gleichfalls aus den Scholien. Wir können ihnen entnehmen, daß die τελεία dem Vorleser eine Pause in der Länge von 4 χρόνοι, die ὑποτελεία eine solche von 3 χρόνοι, die πρώτη ἄνω eine solche von 2 χρόνοι vorschrieb, während er sich bei allen anderen Zeichen mit einem kurzen Einhalten (1 χρόνος) begnügen sollte (Friedländer 119ff.). Die Interpunktionsvorschriften N.s sind so künstlich, daß es uns nicht überraschen kann, wenn wir keinen Texten begegnen, in denen sie angewandt wären (Flock De Graecornm interpunctionibus, Diss. Greifsw. 1908, 18).

Literatur: Gräfenhan Gesch. d. klass. Philol. im Alterth. III 1846, 94f. FHG III 632f. Friedländer Nicanoris Περὶ Ἰλιακῆς στιγμῆς rell. em. 1851 (Hauptwerk). K. E. A. Schmidt Beiträge z. Gesch. d. Grammatik 1859, 521ff. Carnuth Nicanoris Περὶ Ὀδυσσειακῆς στιγμῆς rell. em. 1875. Wackernagel Rh. Mus. XXXI 432ff. Steinthal Gesch. d. Sprachwiss. II² 1891, 351f. Laum Das alexandr. Akzentuationssystem 1928 (Stud. z. Gesch. und Kult. d. Altert. Erg.-Bd. IV), 136. 156ff. 418ff.