Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Bedeutendste Stadt d. röm. Britanniens, heute London
Band XIII,2 (1927) S. 13961399
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Londinium (oppidum Londiniense, Eumen. Paneg; Lundinium oder Lundinum, Ammian. Marc.; Λινδόνιον, Steph. Byz. usw.)‚ die bedeutendste Stadt des römischen Britanniens, das heutige London. Der Name ist zweifellos keltisch‚ die übliche Herleitung (von Llyn din) aber philologisch undenkbar. Eine von d’Arbois de Jubainville vorgeschlagene Erklärung („Burg des Londinos“) ist auch von Holder angenommen worden, und scheint wohl richtig zu sein, obgleich Londinos als Personenname sonst nie vorkommt. Viele Überbleibsel der römischen Stadt sind im Laufe der Jahrhunderte zufällig ans Licht gekommen – Gräber, Münzen, Inschriften, massenhafte Scherben, Mosaike, Fundamente, sowie beträchtliche Reste der Umgebungsmauer. Die Menge der Funde ist zwar ungeheuer. Doch, da keine systematische Ausgrabungen stattgefunden haben, und da die Notizen öfters dürftig und ungenügend sind, bietet die Deutung der Fundtatsachen ungemeine Schwierigkeiten. Von der älteren Literatur bleiben die Schriften C. R. Smiths noch immer wertvoll, vor allem seine Illustrations of Roman London (1859). Neuerlich sind gelegentliche Entdeckungen von P. Norman und F. W. Reader sorgfältig beschrieben worden; ihre Further Discoveries relating to Roman London, 1906–1912 (Archaeologia LXIII, 257-344) sind für die Umgebungsmauer besonders wichtig. Die erste zusammenfassende Darstellung wurde 1909 von R. A. Smith, F. W. Reader und H. B. Walters in Romano-British London (Vict. Hist. London I 1–146) unternommen. Dieses reich illustrierte Werk mit seinem alphabetischen Fundverzeichnis wird dem künftigen Forscher ganz unentbehrlich sein, obwohl einige der vorgetragenen Anschauungen keineswegs unantastbar sind. Eine knappe aber musterhafte Übersicht des Materials gibt Haverfields vortrefflicher Aufsatz Roman London in Journ. Rom. Studies I (1911) 141–l72.

Ptolemaios (II 3, 12) rechnet Λονδίνιον nebst Δαρούερνον (Canterbury) und Ῥουτουπίαι (Richborough) zu dem Gebiet der Κάντιοι. Darnach wäre die Wiege der späteren Großstadt möglicherweise [1397] auf dem südlichen Ufer der Themse im jetzigen Southwark zu suchen, und ebendaselbst sind vereinzelte Sigillatascherben entdeckt worden die einer vorclaudischen Zeit zuzugehören scheinen (Haverfield 146). Aber das geschichtliche L. lag sicherlich auf dem nördlichen Flußufer, ungefähr mit dem modernen Stadtquartier, der City zusammenfallend. Ob der keltische Name ursprünglich an einer keltischen Ansiedelung haftete, weiß niemand; zuverlässige Zeugnisse fehlen. Doch ist es nicht ohne Bedeutung, daß Iulius Caesar L. nirgends erwähnt; wenn es also eine urkeltische Ansiedelung gab, war sie vermutlich klein und belanglos. Die wirklichen Anfänge der Stadt sind in die erste Hälfte des 1. Jhdts. zu setzen, als unter dem Einfluß eines romanisierten Galliens der friedliche Verkehr mit dem Festlande sich stetig entwickelte. Die geographische Lage war für einen großen Handelsplatz außerordentlich günstig (Haverfield 143). Die Seeverbindungen waren durch einen schiffbaren Fluß und einen vorzüglichen Hafen gesichert, während die von der Küste ins Binnenland führenden Straßen gerade hier den allerbesten Knoten- und Ausgangspunkt fanden (s. Itin. Ant. passim).

L. blühte daher sehr rasch empor. 18 Jahre nach der claudischen Expedition war es cognomento quidem coloniae non insigne sed copia mercatorum et commeatuum maxime celebre (Tac. ann. XIV 33). Beim großen Aufstand des J. 61 muß der römische Feldherr Suetonius Paullinus die augenscheinlich noch nicht befestigte Stadt den Scharen der Boudicca preisgeben (circumspecta infrequentia militis . . .. unius oppidi damno servare universa statuit, Tac. a. a. O.). Ein gleiches Schicksal traf das unweit liegende municipium Verulamium. Alle beide (duo praecipua oppida, Suet. Nero 39), sowie Camulodunum, wurden mit Feuer und Schwert vertilgt, wobei 70 000 Römer und Provinziale umgekommen sein sollen. Trotz der Vollständigkeit dieses fürchterlichen Unglücks blieb L. nicht in Trümmern liegen, als der Sturm vorbei war und die römische Herrschaft in Britannien sich wieder hergestellt hatte. Im Gegenteil scheint es sich recht bald erholt zu haben, denn unter der vorhandenen Keramik befinden sich manche Bruchstücke, die sicherlich den letzten Dezennien des 1. Jhdts. zuzuschreiben sind (Haverfield 15l).

Obwohl niemals eine Vollbürgergemeinde, bewahrte L. seine hervorragende Stellung als Hauptemporium der Insel und spielte eine gebührende Rolle unter den Städten des Reiches bis zum Ende der römischen Okkupation. Schließlich, man weiß nicht genau wann, aber vielleicht 368/9 (s. u.), erhielt es den Namen Augusta (Ammian. Marc. XXVII 8, 7 und XXVIII 3, 1), woher die Form Londinium Augusti beim Geogr. Rav. V 31. p. 429, 12. Ziegel mit P P BR LON usw. (CII VII 1235) beziehen sich nach Mommsen auf publicani provinciae Britanniae, und scheinen also L. als Zentrum des Finanzwesens anzudeuten. Vgl. den in Not. dig. occ. (X1 37) erwähnten praepositus thesaurorum Augustensium in Britannis. Eine Münzstätte wurde an Ort und Stelle zur Zeit des Carausius (Num. Chron. 1907, 46), wenn nicht auch früher, geöffnet. Diocletian und [1398] seine Kollegen münzten da (Num. Chron. 1867, 58), und zur constantinischen Zeit prägte man eifrig (Maurice Num. Constantinienne II 1-64). Dann hörte die Prägung auf, um sich unter Valentinian I. und Valens (A. J. Evans Num. Chron. 1915, 482ff.), sowie unter Magnus Maximus (Num. Chron. 1867, 61 u. 329), zu erneuern. Eine plündernde Frankenschar vom Heere des Allectus hatte L. im J. 296 mit abermaliger Vernichtung bedroht, wurde aber durch die Truppen des Constantius rechtzeitig niedergernacht (Eumen. Paneg. Const. 17). Im J. 314 erblicken wir einen Bischof von L. neben zwei Kollegen (von York und Lincoln) auf dem ersten Konzil von Arles. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde die Stadt zweimal (360 u. 368/9) zum Hauptquartier von hohen kaiserlichen Offizieren (worunter der große Theodosius), die von Gallien herübergesandt wurden, um die Verteidigung der Provinz gegen Picten und Scoten auf der einen Seite, sowie gegen sächsische Seeräuber auf der anderen, einzurichten (Ammian. Marc. XX 1. XXVII 8. XXVIII 3). Weitere historische Angaben sind nicht vorhanden. Aber ohne Zweifel ging es schnell abwärts, als die Römer die Insel verließen. Allem Anscheine nach lag die Gegend eine beträchtliche Zeit so gut wie verödet. Erst mit der Wiederherstellung der normalen Verkehrsverhältnisse wurde nochmals ein L.

Was die Lage der antiken Stadt betrifft, ist es jetzt unbestreitbar, daß L. sich in die Länge zwischen dem Tower und Ludgate Hill und in die Breite zwischen der Themse und London Wall, dessen Name bezeichnend ist, erstreckte. S. Norman und Reader mit einer Karte (Plate LXIV), die auch bei (Haverfield (Fig. 29) und in Vict. Hist. (Plan C) zu finden ist. Der Lauf der Mauer, der heutzutage größtenteils festgesetzt ist, gibt dem Stadtgebiet einen Flächeninhalt von etwa. 130 bzw. 133,5 ha. Von dem Netz der vermutlich rechtwinkelig sich kreuzenden Straßen ist leider gar nichts bekannt. Auch die Zeit der Umwallung ist unbestimmt. Reader (Vict. Hist. 79) schreibt sie spätestens der Mitte des 2. Jhdts. zu, während R. A. Smith (ebd. 5 und 43) das Ende des 3. vorzieht. (Haverfield 158, der selbst an den Anfang des 3. zu denken geneigt ist, betont die Ungewißheit der ganzen Sache. Alle sind darüber einig, daß die Mauer mindestens 6 m hoch und 2,5 m breit war, und daß sie später (vielleicht zur Zeit Valentinians I.) mit Bastionen versehen wurde. Sie scheint von einem kleinen Graben (3 m ✕ 1‚5 m) umzogen worden zu sein. Spuren eines größeren, vielleicht mit den Bastionen gleichzeitigen Grabens sind auch hie und da an den Tag gebracht worden (Norman und Reader 278).

Neuerdings ist ein höchst merkwürdiges Denkmal von L. ans Licht getreten. Ein im Sept. 1922 zu Beaurain bei Arras gefundener Schatz enthielt u. a. ein zu Trier gemünztes Goldmedaillon des Constantius Chlorus (42 mm 53,10 g also zehnfachen Aureus), das ohne Zweifel zum Andenken an die Londoner Ereignisse des J. 296 geprägt wurde. Das Bild der Rückseite kann als Beweis dafür gelten, daß die Umwallung schon vor dem Ende des 3. Jhts. stattgefunden hat. Der bewaffnete Kaiser. der als REDDITOR [1399] LVCIS AETERNAE bezeichnet ist, reitet nämlich rechts gegen das Tor einer ummauerten Stadt hin; vor dem Tor kniet links eine LON(dinium) darstellende Figur, beide Hände austreckend, als ob sie den Retter willkommen heißen will; auf einem Fluß unten ist ein Schiff mit Soldaten sichtbar. Vgl. Babelon und Duquénoy in Aréthuse 1924. 45ff.