Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Tal an der Ostseite Jerusalems
Band XI,1 (1921) S. 112114
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2) Das ist in der LXX (Κεδρων) und bei griechischen und lateinischen Schriftstellern der Name für jenes bekannte Tal an der Ostseite von Jerusalem. Im hebräischen Alten Testament lautet der Name נחל קדרוןnaḥal ḳidron, z. B. 2. Sam. 15, 23. 1. Kön. 2. 37 u. ö., oder bloß נחלnaḥal Neh. 2, 15. 2. Chron. 33, 14; vgl. 1. Makk. 12, 37 ὁ χειμάρρος (ohne Κεδρων). Josephus spricht von ὁ χειμάρρος Κ. ant. VIII 1, 5 (vgl. Ev. Joh. 18, 1 ὁ χειμάρρος τῶν Κ.) oder ἡ φάραγξ Κ. ant. IX 7, 3; bell. Iud. V 6, 1. Statt von dem ,Bach‘ K. spricht man richtiger von dem ‚Tal‘ K. – das bedeutet auch naḥal – oder von der ‚Schlucht‘ K.; vgl. φάραγξ bei Josephus. Die Bezeichnung χειμάρρος bezieht sich auf den Regenbach, der noch im Zeitalter Jesu zur Winterzeit durch die Sohle des Tales floß, jetzt ist er immer trocken (Bädeker-Benzinger Palästina und Syrien⁷ 74). Im Laufe der Jahrtausende hat sich die Sohle des Tales durch Schutt verschoben und erhöht. So lag sie einst [113] bei der Südostecke des Tempelbergs 11½ m tiefer und hat sich um 9 m nach Osten verschoben (Bädeker a. a. O. 28). Bei Gethsemane liegt sie jetzt 45 m, beim Hiobsbrunnen 106 m unter dem Tempelberg. Das Kidrontal beginnt schon ½ Stunde nordwestlich von Jerusalem bei den sog. Richtergräbern. In seinem oberen Lauf heißt es jetzt Wâdi‘l-Dschoz ,Nußtal‘. Es trennt die Hochebene, auf der Jerusalem liegt, von dem Skopus. Alsdann geht es an der Ostseite Jerusalems entlang zwischen dem Tempelberg und dem Ölberg und heißt auf dieser Strecke, wegen der hier lokalisierten Marienlegenden, im Munde der heutigen Christen Wâdi sitti Marjam ‚Tal der Frau Maria‘. Der untere Teil läuft zwischen dem parallelgehenden Tyropoeontal im Westen und dem Dorf Silwan und dem ‚Berg des Ärgernisses‘ im Osten. Südlich von dem Dorf Silwan trifft es mit dem von Westen herkommenden Hinnomtal zusammen und geht dann als Wâdi ʾn-nār ,Feuertal‘ oder Wâdi‘l-rāhib ,Mönchstal‘ vielfach gewunden in südöstlicher Richtung durch die schauerliche Einöde der Wüste Juda nach dem Toten Meere zu, in das es südlich von Ras el-Feschcha (Bädeker a. a. O. 123) mündet. Der Name Kidron bedeutet ‚schmutzig, trübe‘ und ist etwa von der düstren Gegend oder dem trüben Regenwasser bzw. von der Unreinheit des Tales gewählt. Im Gegensatz zu dem heiligen Tempelberg nämlich gilt das Kidrontal als unreine Gegend. Das hängt mit gewissen alttestamentlichen Geschichten zusammen. Das Kidrontal gilt als dämonisches Tal. Der König Asa brachte hierhin ein von seiner Mutter aufgestelltes Götzenbild und verbrannte es 1. Kön. 15, 13. 2. Chron. 15, 16. Ähnliches wird von Hiskia (ca. 700) 2. Chron. 29, 16. 30, 14 und Josia (620) 2. Kön. 23, 4ff. berichtet. Hier lagen auch die Gräber der gewöhnlichen Leute, 2. Kön. 23, 6. Noch heute befinden sich auf der Ostseite des Kidrontales zahlreiche Gräber, auf der Westseite an der Ostmauer des Ḥarams liegen die Gräber der Moslems. Gegenüber der Südostseite des Ḥarams liegen hier die sog. Gräber Josafats, Absaloms, des heiligen Jakob und Zacharias.

Etwa in der Mitte des Wâdi ‘n-Nâr liegt das Kloster Mar Saba, † 531 mit dem leeren Grab des Heiligen als Hauptheiligtum des Klosters (Bädeker a. a. O. 125).

Gegenüber dem nördlichen Teil des Dorfes Silwan liegt auf der Westseite des Kidrontales auf dem Ostabhang des Tempelberges die berühmte Marienquelle, früher der Gichon (גיחון‎) genannt, eine heilige Quelle, bekannt u. a. durch die hier vorgenommene Salbung Salomos zum König (1. Kön. 1, 33ff.). Da wo sich das Kidrontal mit dem Hinnomtal verbindet und fruchtbares Land vorhanden ist, lag der königliche Garten, Jer. 39, 4. Von hier aus machte Zedekia bei der Belagerung Jerusalems durch die Chaldäer 586 einen vergeblichen Fluchtversuch nach der Araba, d. i. der Jordansniederung. In der Nähe ist auch der heutige Hiobsbrunnen, d. i. die frühere heilige Quelle Rogel (רגל‎) (Jos. 15, 7. 18, 16. Joseph. ant. VII 14, 4), dabei der sog. Schlangenstein Zoḥelet זחלת‎, wo der verhängnisvolle Konvent Adonias (1. Kön. 1, 5ff.) stattfand.

Eine ganz besondere Bedeutung hat aber das [114] Kidrontal dadurch erhalten, daß hierher nach jüdischer, christlicher und muslimischer Legende der Akt des Weltgerichtes verlegt wird. Man hat nämlich früh das Tal Josafat, wohin nach Joel 4, 2 die Völker zum Gericht versammelt werden, mit dem Kidrontal identifiziert. Diese christliche Überlieferung findet sich bei dem Pilger von Bordeaux (ca. 333), geht aber auf ältere jüdische Vorbilder zurück. Nun kann zwar das Tal Josafat, das ein עמק‎ ʿemek, kein naḥal נחל‎ heißt (so wenig wie das Tal (ʿemek) des ,Königs‘ oder Schaweh Gen. 14, 17), unmittelbar mit dem Kidrontal gleichgesetzt werden – ‚Tal Josafat‘ ist überhaupt bei Joel kein eigentlicher geographischer Begriff, sondern bedeutet ‚Gerichtstal‘ – immerhin aber erwähnt die, wohl unter persischem Einfluß stehende, jüdische Eschatologie seit Hes. 38f. Sach. 9, 14ff. 12, 1ff. Dan. 11, 45 das Weltgericht vor Jerusalem, und so lautet denn die heutige Sage, daß dereinst beim Weltgericht sich im Tal Josafat‚ d. i. im Kidrontal die Menschen versammeln werden, das dann weit auseinander treten wird (vgl. die Spaltung des Ölberges beim Endgericht in der kleinen Apokalypse Sach. 14, 1ff.). Ein dünnes Drahtseil ist dann vom Tempelberg nach dem Ölberg gespannt, an der einen Seite sitzt Jesus, auf der anderen Muhammed. Alle Menschen müssen darüber, die Frommen tun es ohne Gefahr, von Engeln behütet, die Bösen aber fallen in die Hölle. Hier spielt die bekannte altpersische Brückensage herein (Bädeker-Benzinger Palästina⁷ 57). In Anbetracht des im Kidrontal stattfinden sollenden Weltgerichtes ‚begraben die Muslimen ihre Toten am Ostabhang des Tempelberges, die Juden die ihrigen am Westabhang des Ölberges‘ (Bädeker-Benzinger a. a. O. 74).

[Beer. ]