Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Gennadius von Massilia, christl. Schriftsteller, 5. Jh. n. Chr.
Band VII,1 (1910) S. 11711173 (IA)
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2) Gennadius von Massilia, theologischer Schriftsteller um 475. Um 545 berichtet Cassiodorius in c. 17 der Instit. divin. liter., er habe mit Hieronymus Tractat de viris illustribus in einem Bande vereinigt das Werk des Gennadius Massiliensis, qui de scriptoribus legis divinae quos studiose perquisiverat, certissimus iudicavit. Das Werk ist denn auch meist in engster Verbindung mit Hieronymus in unzähligen Handschriften auf uns gekommen, und ihm verdanken wir einen guten Teil unserer Kenntnis von der patristischen Literatur des (4. und) 5. Jhdts. Der Verfasser, der durch seine Gesamtbildung und Vertrautheit mit der griechischen Sprache zu solchem Unternehmen berufen war, hat sich die Aufgabe gestellt, den berühmten Katalog christlicher Schriftsteller von Hieronymus 1. zu ergänzen und 2. von 392 bis auf seine Gegenwart – die nirgends über 496 herabzureichen scheint – fortzuführen. Dabei ist die chronologische Anordnung beinahe selbstverständlich, ebenso der schmucklose Stil eines Lexikons: es darf nur auf Vollständigkeit und Zuverlässigkeit ankommen. Und angesichts der Schwierigkeiten solcher Arbeit, zumal wo nicht wie für Hieronymus ein Eusebius das gelehrte Material meist bequem darbot, muß man dem G. dankbare Anerkennung zu teil werden lassen: er hat Fehler begangen, aber weit Besseres als Hieronymus geleistet. Er spricht nur über Bücher, die er gelesen oder über die er sichere Instruktionen von anderen empfangen hat; er bemüht sich sogar, unparteiisch zu urteilen. Häretiker sind aus dem Verzeichnis nicht etwa angeschlossen. Auffallend dürftig lautet der Bericht c. 39 über Augustin und wenn man sich daneben an die enthusiastische [1172] Würdigung des Faustus von Riez c. 86 und die kritische Stimmung gegenüber Prosper c. 85 erinnert, so bleibt kein Zweifel, daß der Verfasser der sog. semipelagianischen Gruppe gallischer Theologen zugehört, die die Lehren des Pelagius zwar verwarfen, aber sich auch die prädestinatianische Dogmatik nicht gefallen lassen wollten. Leider ist dies Hauptwerk des G. in der Überlieferung arg verunstaltet worden, vornehmlich durch Zusätze an den verschiedensten Stellen. Auf Grund eines reichen Materials hat E. C. Richardson (in Texte u. Untersuchungen z. Gesch. d. altchristl. Lit. XIV 1, 1896) den Grundtext und die Interpolationen zu sondern versucht; zweifellos unecht ist der ‚Prologus‘, der eine Dublette zu Hieronymus de vir. ill. 135 darstellt, und c. 87 über Caesarius von Arles. Da aber mancherlei Spuren auf eine nachträgliche Überarbeitung durch den Autor selber weisen, und die Differenzen zwischen den Handschriften zum Teil daher rühren können, daß sie verschiedene Ausgaben des Gennadianischen Buchs fortpflanzen, so ist für andere Kapitel (im ganzen sind es bei Richardson 101) die Entscheidung vorläufig auszusetzen. Das ist am bedauerlichsten bei dem Schlußkapitel, dessen Gegenstand (wie bei Hieronymus c. 135 die Schriftstellerei des Hieronymus) G. – ego Gennadius .. scripsi … – selber ist. Denn der presbyter Massiliae, den spätere Verehrer zum episcopus avancieren ließen, wird nur durch jenes Kapitel gewährleistet. Der Katalog seiner Schriften dort umfaßt: 8 Bände adversus omnes haereses, 5 Bände adversus Nestorium, 10 Bände adversus Eutychen, 3 Bände adversus Pelagium, Traktate über die 1000 Jahre, über die Apokalypse des Johannes, endlich außer ‚diesem Werk‘ (scil. de vir. ill.) noch einen an den Papst Gelasius (492–496) gesandten Brief de fide mea. Von alledem besitzen wir aber fast nichts; ein von Jungmann und Caspari gleichzeitig 1880/81 veröffentlichtes Glaubensbekenntnis, das die zwei Münchener Hss. dem G. zuschreiben (C. P. Caspari Kirchenhist. Anecdota 1883, 301–304), ist mittelalterlichen Ursprungs, und günstigsten Falls darf man mit Caspari (a. a. O. p. XIX–XXIII) vermuten, daß von der großen Streitschrift des G. gegen alle Haeresien ein mehr positiv gehaltener Schlußabschnitt vorliege in dem früher unter Augustins Namen gedruckten, bald als unecht erkannten und unserem G. zugewiesenen Büchlein de ecclesiasticis dogmatibus (F. Öhler Corpus haereseologicum I 1856, 335–355 oder Migne Patr. lat. LVIII). Zwar müssen auch hier (mit Öhler) viele Abschnitte als spätere Zutaten entfernt werden, was aber übrig bleibt, ist das Werk eines Semipelagianers von der Art des G., und die Haltung stimmt sehr wohl zu der des besser bezeugten Werks de vir. ill. Eine Debatte über die Möglichkeit, ein paar Nachträge zu Augustins de haeresibus liber (Öhler a. a. O. 224f.) auf G. zurückzuführen, verlohnt sich nicht; sie wäre nie angeregt worden, wenn unter jenen Nachträgen sich nicht Kapitel über ‚Nestorianer‘ und ‚Eutychianer‘ befänden, gegen die G. ja laut Katalog 101 Polemik geführt hat. Aber will man diese paar Zeilen mit jenen 5 und 10 Büchern in Verbindung bringen?

[1173] Es könnte danach jemand geneigt sein, das ganze Kap. 101 als Erfindung eines Späteren zu verwerfen und folgerichtig auch den Presbyter G. fallen zu lassen. Indes würde man einem gelehrten Theologen, wie es der Verfasser der beiden beschriebenen Werke ist, bei den damaligen Verhältnissen die Würde eines Presbyters fast ohne Bezeugung zutrauen; die Absicht, über gewisse Ketzereien an anderer Stelle sich ausführlicher zu äußern, hat er auch in c. 36 und 54 de vir. ill. ausgesprochen; und daß er die eutychianische Ketzerei nicht weniger als die des Nestorius haßte, beweist er c. 73, wonach er den Libellus des Monophysiten Timotheus noscendi gratia, aber mit ausdrücklicher Mahnung zur Vorsicht versehen, lateinisch herausgegeben hat: auch die übrigen Themen, die nach c. 101 von ihm behandelt worden waren, passen zu der in seiner Zeit ihm gestellten Aufgabe. Der Typus spezifisch mönchischer Frömmigkeit, den wir bei jenen gallischen Semipelagianern erwarten, kommt in der Tatsache zum Vorschein, daß laut c. 11 G. drei Hauptwerke des Euagrius Ponticus teils zum ersten Mal ins Lateinische übersetzt, teils eine ältere Übersetzung davon revidiert und vervollständigt hat.

G. ist nach dem allen ein echter Fortsetzer des Werks von Männern wie Hieronymus und Rufinus gewesen, ihnen gleich auch in der Sorge um die Orthodoxie, nur nicht so wie jene vom Glück begünstigt. Dringend not tut eine abschließende Rezension seiner beiden Hauptschriften, bei der wir vielleicht mit der Aussonderung von Interpolationen noch auf ganz festen Boden kommen. Mir ist es nicht unwahrscheinlich, daß das Schlußkapitel de vir. ill. im wesentlichen doch eigene Aufzeichnungen des G. enthält. Er hat vorher von seinen litterarischen Produkten so unbefangen gesprochen, daß man überrascht sein müßte, wenn er, zumal angesichts des von Hieronymus ihm gegebenen Vorbilds, sich unter den Viri illustres übergangen hätte. Vgl. die historische Einleitung (S. XV) zu Bernoullis Ausgabe von Hieronymus und Gennadius de vir. 1895; B. Czapla G. als Litterarhistoriker 1898; H. v. Schubert Der sogenannte Praedestinatus, Leipzig 1903.