Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Römische Vestalin
Band VII,1 (1910) S. 480483
Bildergalerie im Original
Register VII,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|VII,1|480|483|Gaia Taracia|[[REAutor]]|RE:Gaia Taracia}}        

Gaia Taracia. Gaia Taracia war nach Plin. n. h. XXXIV 25 und Gell. VII (VI) 7 eine Vestalin, der von Staats wegen außerordentliche Ehrungen bereitet wurden als Dank dafür, daß sie der römischen Gemeinde den Campus Tiberinus, bei Gellius mit dem Campus Martius gleichgesetzt, zum Geschenk gemacht hatte. Zu diesen Ehrungen gehörte nach Plinius die Errichtung einer Bildsäule, und zwar an einer Stelle, die sie sich selbst auswählen durfte. Gellius spricht nicht von diesem Standbild, führt aber als amplissimi honores, die der G. T. auf Grund einer Lex Horatia noch zu ihren Lebzeiten erwiesen worden seien, an: 1. das Recht, Zeugnis vor Gericht abzulegen, 2. das Recht, ein Testament zu machen, 3. das Recht, mit Beginn des 40. Lebensjahres die Priesterinnenwürde niederzulegen und sich zu verheiraten. Die Quelle des Gellius, der die Geschichte in antiguis annalibus gefunden haben will, ist vermutlich Valerius Antias, der in demselben Kapitel als Gewährsmann für die Geschichte von der Acca Larentia angeführt wird (Peter Quellen des Plutarch 47. Münzer De gente Valeria 10). Sehr wahrscheinlich ist Antias auch für Plinius die Quelle, der sich ebenfalls auf annales beruft, obgleich in dem sonst ausführlicheren Auszug des Gellius die Statue nicht erwähnt wird. Große Übereinstimmungen mit Gellius weist der Bericht des Plutarch Poplic. 8 auf. Hier wird die bekannte Sage von der Entstehung der Tiberinsel durch die in den Fluß geworfenen Getreidemengen des Campus Martius erzählt. Dann heißt es: Ἔνιοι δὲ τοῦτω συμπεσεῖν ἱστοροῦσιν οὐχ ὅτε Ταρκυνίου καθιερώθη τὸ πεδίον, ἀλλὰ χρόνοις ὕστερον ἄλλο χωρίον ὁμοροῦν ἐκείνῳ Ταρκυνίας ἀνείσης. Ἡ δὲ Ταρκυνία παρθένος ἦν ἱέρεια, μία τῶν Ἑστιάδων ἔσχε δὲ τιμὰς ἀντὶ τούτου μεγάλας, ἐν αἷς ἦν καὶ τὸ μαρτυρίαν αὐτῆς δέχεσθαι μόνης γυναικῶν (vgl. Gell. a. a. O.: qua lege ei plurimi honores fiunt, inter quos ius quoque testimonii dicendi tribuitur testabilisque una omnium feminarum ut sit datur) τὸ δ’ἐξεῖναι γαμεῖσθαι ψηφισαμένων οὐ προσεδέξατο. Dieses Zeugnis stimmt nicht nur sachlich, sondern zum Teil sogar wörtlich mit Gellius überein, so daß beide ohne Zweifel aus einer gemeinsamen Quelle geschöpft haben, als welche wir nach dem oben den Valerias Antias annehmen müssen. Dies ist um so wahrscheinlicher, [481] als Antias auch sonst im Poplicola von Plutarch ausgiebig benutzt wurde (s. Peter Quellen d. Plut. 45f.). Es ist daher wohl für den Namen an beiden Stellen Taracia einzusetzen (so zuerst Lewis Untersuchungen über die Glaubwürdigkeit usw. II 9, übers. von Liebrecht). Die Verschreibung Ταρκυνία aus Ταρρακία oder Ταρακία ist sehr erklärlich, da in den vorhergehenden Kapiteln fortdauernd der Name Ταρκύνιος auftritt. Die Erzählung von der Schenkung des Marsfeldes durch eine Vestalin weicht ab von der gangbaren römischen Überlieferung, nach welcher das Marsfeld als früherer Besitz der Tarquinier eingezogen und dem Mars geweiht wurde. Daß es sich nicht etwa um eine geschichtliche Tatsache, sondern um eine Stadtsage handelt, geht schon aus der noch zu behandelnden Ähnlichkeit und der Verbindung der G. T. mit der sagenhaften Acca Larentia hervor. Von den oben angeführten Ehrungen hat die Aufstellung der Ehrensäule noch die meiste Wahrscheinlichkeit, insofern als eine solche vielleicht den Anknüpfungspunkt der ganzen Sage hergab. Vollkommen unglaublich sind dagegen die Angaben bei Gellius über die Lex Horatia. Die Vorrechte nämlich, die in derselben angeblich der G. T. als besondere Ehrengabe eingeräumt wurden, standen neben mehreren anderen Sonderrechten allen Vestalinnen zu. So das Recht, ein Testament zu machen (Gell. I 12, 9. 18. Cic. de rep. III 10. Plut. Numa 10, 7), ferner das Recht, selbständig als Zeugin aufzutreten. Es ist dies eines der Vorrechte, welche sich für die Vestalinnen aus ihrer von den ältesten Zeiten an gewährten Befreiung von der sonst bei Frauen nötigen tutela ergab (Plut. Numa 10, 4. Gai. Inst. I 145). Endlich waren alle Vestalinnen nur auf 30 Jahre für ihr Amt verpflichtet, konnten dasselbe also, da sie es im Alter von 6–10 Jahren antraten (Gell. I 12, 1), im 36. bis 40. Jahre aufgeben, um sich zu verheiraten oder anderweit ins weltliche Leben zurückzutreten (Plut. Numa 10). Die angebliche Lex Horatia ist demnach als eine plumpe Fälschung des Antias anzusehen; für die Annahme Gilberts (Topogr. d. Stadt Rom II 112f.), die Lex sei in der Tat wenn nicht das ,Organisationsstatut der Vestalinnen überhaupt, so doch eine unter dem ersten Consul vorgenommene Neuordnung des Vestalinnendienstes‘, in welche dann von den Pontifices der Name der G. T. eingeschwärzt sei, fehlt jeder Anhalt.

Die Sage von der Schenkung der G. T. ist ein Seitenstück zu der Erzählung von der Acca Larentia oder Larentina (s. den Art. Acca), welche das römische Volk angeblich zum Erben ihres Landbesitzes eingesetzt hatte und zum Dank dafür alljährlich am 23. Dezember durch Parentalien geehrt wurde. Unter den Namen der vier Acker, welche sie der Gemeinde vermachte, findet sich (Cato bei Macrob. I 10, 16) die Akkusativform Turacem. Es handelt sich also um eine Flurbezeichnung ager Turax oder Turacis. Zu diesem Anklang an den Namen der G. T kommt noch ein zweiter: Der Sage nach hieß der Gatte der Acca Tarutius (Aug. de civ. dei VI 7, 2), Tarrutilis (Flut. qu. 15. 35), Tarutilius oder Tarutilus (CIL I p. 319). Daß die beiden Sagen aus einer und derselben Wurzel entsprungen sind, [482] läßt sich bei der sprachlichen Verwandtschaft der Namen wohl kaum ablehnen. Die Namen Tarutius, Tarutilus und Taratius sind nämlich, wie W. Schulze Zur Gesch. lat. Eigennamen (Abh. Gött. Ges. N. F. V 5, 1904) überzeugend nachweist, aus derselben Urform abgeleitete Spielarten eines und desselben Eigennamens, der aus dem Etruskischen (vgl. Tarna, Tarcna) übernommen war, s. Schulze 241. 373, 390, und zwar war es möglich, aus derselben Wurzel sowohl Taratius oder Taracius als auch Tarutius abzuleiten, ebenso wie auf etrusk. capru einerseits Caprutius andrerseits Caprasius zurückgehen (Schulze 411). Die Form Turax oder Tarax bietet ein treffendes Gegenstück zu Farrax neben Farracius, Farranius, Farrasius und Venox oder Vennox neben Venucius (Schulze 410). Daß in diesem Fall Turax sowohl Ortsname wie Personenname ist, ist eine Übereinstimmung, die im etruskischen Gebrauch häufig beobachtet wird (s. Schulze 547f.). Ist so eine Verwandtschaft der Acca- und der Taraciasage unabweislich, so wird andrerseits die Sachlage nur verdunkelt, wenn man Acca Larentia und G. T. für eine und dieselbe Sagengestalt erklärt, wie dies Gilbert a. a. O., Zielinski Quaest. comic. 87 und Schwegler R. G. II 46 tun. Identifikationen sagenhafter Persönlichkeiten sind nur angängig, wenn dieselben in wesentlichen Zügen übereinstimmen. Von einer solchen Übereinstimmung kann aber zwischen der Vestalin Gaia und der Ziehmutter des Romulus oder der alten Dirne Acca keine Rede sein, weshalb denn auch die angeführten Versuche nur mit den gewagtesten Hypothesen arbeiten. Auf die einzige mögliche Lösung hat Mommsen (Die echte und die falsche Acca Larentia, Röm. Forsch. II 7f.), wenn auch unter Vorbehalt hingewiesen. Er geht nicht von den beiden Sagenpersonen, sondern von dem ager Turax aus und sieht in den beiden Sagen ‚zwei aus einem und demselben Namen eines Gemeindegrundstückes unabhängig von einander entwickelte Besitztitelanekdoten‘. Diese Erklärung mit voller Sicherheit hinzustellen, hinderte Mommsen die Namensform Turax, die nur bei Macrob. a. a. O. überliefert ist und daher nicht kontrolliert werden kann. Wissowa (s. d. Art. Acca) schlägt unter Aufnahme der Mommsenschen Vermutung vor, bei Macrobius Taracem zu lesen. Freilich bleibt eine weitere Schwierigkeit bestehen, insofern als man nunmehr den ager Tarax mit dem Campus Tiberinus gleichsetzen oder mindestens den einen für einen Teil des anderen annehmen müßte. Über die Lage der vier von Cato genannten Äcker ist nichts bekannt, Gilberts Annahme, der ager Turax habe auf dem rechten Tiberufer gelegen, entbehrt jeder Begründung. Eher könnte vielleicht für die Lage auf dem linken Ufer in der Nachbarschaft des Marsfeldes der Ausdruck des Plutarch ἄλλο χωρίον ὁμοροῦν ἐκείνῳ sprechen. Andrerseits ist die Gleichung campus Tiberinus = campus Martius nur bei Gellius überliefert, Plinius hat nur campum Tiberinum, und daß das Marsfeld auch diese Bezeichnung gehabt habe, ist sonst nicht festzustellen. Eine unbedingt sichere Entscheidung kann mithin nicht getroffen werden, wenn auch Mommsens Vermutung einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit hat.

[483] Die Schreibung des Namens schwankt in den Hss. zwischen Taracia (so auch bei Fest. 224), Tarracia, Taratia. Einer von diesen Formen unbedingt den Vorzug zu geben, ist nicht möglich, da Taracius und Tarracius anderweit inschriftlich als Namen bezeugt sind (Schulze 373) und die Ableitung Tarratius durch zahlreiche Parallelen (vgl. z. B. die Tabelle bei Schulze 390f.) hinreichend gesichert ist. Daß der Name etruskischen Ursprungs ist, kann nach Schulze Ausführungen nicht mehr zweifelhaft sein; wir haben darin einen weiteren Beleg für die Bedeutung des etruskischen Elementes in der Stadtsage (auch der Name Acca Larentia wird von Schulze 84 auf etruskischen Ursprung zurückgeführt). Dagegen sind die etymologischen Zusammenhänge, die Hartung Rel. d. Röm. I 314 und Zielinski a. O. zwischen den Namen Taracius, Tarquinius Tarentum, Tyrus usw. annehmen, durchaus unsicher und abzulehnen. Der Individualname Gaia wird bei Gellius, wie üblich, an erster Stelle, bei Plinius nach dem Gentilicium angeführt. Die erste Anordnung ist sicher die ältere, wie andere Doppelnamen der römischen Sage, z. B. Acca Larentia und Gaia Caecilia zeigen (s. Mommsen Röm. Forsch. I 32). Die Sitte der Frauen, den Familiennamen, der allein ja für sie genügte, voran und das ursprüngliche Praenomen hinterher zu setzen, beginnt erst mit der Kaiserzeit, s. Mommsen a. a. O. 33.

Welche Bewandtnis es mit dem von Plinius und Gellius überlieferten Namen Fufetia hat, ist bei dem Mangel sonstiger Zeugnisse schwer auszumachen. Auch diesem Namen liegt möglicherweise eine etruskische Wurzel zugrunde (Schulze 90. 239). Der Wortlaut bei Plinius Taracia Gaia sive Fufetia läßt vermuten, daß neben der Namensform G. T. auch die Doppelform Taracia Fufetia überliefert war. Daß solche aus zwei Gentilnamen bestehenden Personennamen gerade bei den Etruskern vorkamen, ist bekannt (s. Schulze 321 und die dort angegebene Literatur).