Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Heldin mit dem Beinamen Larentina, zu Ehren der Totengöttin
Band I,1 (1893) S. 131 (IA)–134 (IA)
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Acca. 1) Acca, mit dem Beinamen Larentina (so die fast. Praen. CIL I p. 319. Varro de 1. L. VI 23. Tertull. ad nat. II 10. Lact. I 20, 2. August, c. d. VI 7) oder Larentia (Laurentia ist nur eine durch die Erinnerung an die heilige Laurentia veranlasste Corruptel der mittelalterlichen Überlieferung bei Dion. Hal. I 84. 87. Cass. Dio fr. 3, 12 Melb. Minuc. Fel. 25, 8 und sonst in einzelnen Hss.) ist die Heldin einer an das zu Ehren der Totengöttin Larenta oder Larunda (s. d.) am 23. December gefeierte altrömische Fest der Larentalia anknüpfenden aetiologischen Sage, welche in der von Varro (auf ihn gehen zurück Macr. S. I 10, 12ff. Plut. Rom. 5; Qu. R. 35. Tertull. ad nat. II 10. August, c. d. VI 7) überlieferten Form folgendermassen lautet. Unter der Regierung des Königs Ancus fordert der Tempeldiener des Hercules in der müssigen Langeweile eines Feiertages den Gott auf, mit ihm ein Spielchen [132] zu machen unter der Bedingung, dass der Verlierer dem Gewinner eine gute Mahlzeit ausrichten und ein hübsches Mädchen zuführen solle. Das Spiel geht vor sich, indem der Küster mit der einen Hand für sich, mit der andern für die Gegenpartei würfelt. Das Glück begünstigt den Gott und getreu der Abmachung richtet ihm der Verlierer auf dem Altar eine Mahlzeit an und schliesst die damals am meisten gefeierte Hetaere Roms, A. L., auch Fabula zubenannt (Plut. Q. R. 35. Lact. I 20, 5, letztere Stelle richtig emendiert von Reifferscheid Analecta Horatiana, Breslau 1870, 4, der aber darin einen Götternamen finden will, während ihn Mommsen Röm. Forsch. II 6, 16 mit Recht als scherzhaften Nebennamen, etwa ‚Schwatzmaul‘, auffasst), in den Tempel ein. Die Speisen werden von einer aus dem Altar hervorbrechenden Flamme verzehrt, das Mädchen aber träumt, der Gott wohne ihr bei und verspreche ihr, dass sie durch den Mann, der ihr am nächsten Morgen zuerst begegne, den Lohn für die Nacht erhalten werde. Es begiebt sich, wie Hercules vorausgesagt: beim Verlassen des Tempels trifft sie einen reichen Jüngling (nach anderer Version ist es ein bejahrter Hagestolz), Namens Tarutius, der von ihrer Schönheit gefesselt sie heiratet und später als Erbin eines grossen Besitzes hinterlässt. Diesen vermacht sie testamentarisch der römischen Gemeinde, welche aus Dankbarkeit ein alljährlich am 23. December an ihrem Grabe im Velabrum durch die Pontifices und den Flamen Quirinalis darzubringendes Totenopfer anordnet. In ihren Grundzügen ist diese Geschichte viel älter als Varro; jedenfalls kannte bereits Cato (bei Macr. S. I 10, 16 = Cato fr. 16 Peter) das Vermächtnis der A. L. an das römische Volk; allerdings heisst bei ihm die Erblasserin meretricio quaestu locupletata, so dass es mindestens fraglich ist, ob die ihm vorliegende Version die Ehe mit Tarutius und das Herculesabenteuer enthielt. Dafür wusste er aber die von A. L. dem römischen Volke hinterlassenen Grundstücke einzeln namhaft zu machen, agrum Turacem, Semurium, Lutirium (var. Lintirium) et Solinium, Namen, die weder textlich sicher stehen noch local zu identificieren sind (weit auseinandergehende und durchweg willkürliche Versuche zur Emendation und Localisierung bei O. Gilbert Gesch. u. Topogr. d. Stadt Rom III 110f. Ε. Βaehrens Jahrb. f. Philol. CXXXI 1885, 781ff. Zielinski Quaestiones comicae, Petropoli 1887, 105f.); einzig und allein die Vermutung, dass statt Turacem vielmehr Taracem zu lesen sei und dieser ager Tarax sowohl mit Tarutius als namentlich mit der ebenfalls als Urheberin einer Landschenkung an die römische Gemeinde genannten angeblichen Vestalin Gaia Taracia (s. d.) zusammenhänge, hat grosse Wahrscheinlichkeit für sich, nur dass man daraus nicht (wie es z. B. Schwegler R. G. II 46, Zielinski a. O. 87ff. u. a. thun) die Identität von A. L. und Gaia Taracia folgern darf, sondern mit Mommsen (Röm. Forsch. II 7, 18) „zwei aus einem und demselben Namen eines Gemeindegrundstückes unabhängig von einander entwickelte Besitztitel-Anekdoten“ zu erkennen hat.

In der jüngern Annalistik, insbesondere bei [133] Licinius Macer (Macr. I 10, 17), aber auch bei Valerius Antias (Gell. VII 7, 5ff.; vgl. Zielinski a. O. 85f. gegen Mommsen a. O. II 14, 32) erfährt die Erzählung insofern eine tiefgehende Umgestaltung, als A. L. in die römische Gründungssage verflochten und zur Gemahlin des Faustulus und Nährmutter des Romulus und Remus wird; sie ist früher eine öffentliche Dirne, nach vulgärer Bezeichnung eine lupa, gewesen und aus einem Missverständnisse dieses Namens sollte die ältere Sageform von der Ernährung des Zwillingspaares durch eine Wölfin entstanden sein. Nach dem Tode des Faustulus heiratet A. L. den Tarutius und setzt bei ihrem Tode ihren Pflegesohn Romulus zum Erben ihres Vermögens ein. Noch reicher ausgebaut wird diese Version in einer Fassung, als deren Gewährsmann uns erst der unter Tiberius lebende Jurist Masurius Sabinus bekannt ist (Gell. VII 7, 6; vgl. Plin. n. h. XVIII 6): nach ihr nimmt A. L., die Gattin des Faustulus, nach dem Tode eines ihrer 12 Söhne den Romulus an Stelle des Verstorbenen an und gründet mit ihnen das Collegium der 12 fratres Arvales.

Die beiden Hauptauffassungen der A. L., einerseits als Dirne und Geliebte des Hercules, andererseits als Pflegemutter des Romulus (letzteres die landläufige: vgl. Dion. Hal. I 84. 87. Liv. I 4, 7. Ovid. fast. III 55ff. Plut. Rom. 4. Cass. Dio fr. 3, 12 Melb. Ps. Aur. Vict. orig. 20. 21; de vir. ill. 1. Serv. Aen. I 273) werden von Verrius Flaccus (fast. Praen. z. 23. Dec.; vgl. Tert. ad nat. II 10) einfach neben einander registriert, während andere zwei verschiedene von den Römern göttlich verehrte Personen des Namens A. L. zu trennen versuchten, indem sie der Geliebten des Hercules das Decemberfest, der Ziehmutter des Romulus eine angeblich in den April fallende Festfeier zuwiesen (Plut. Q. R. 35; Rom. 4. 5), deren Annahme jedoch offenbar nur auf einem, dem Gewährsmanne des Plutarch (Iuba) zur Last fallenden Missverständnisse beruht; Mommsen (Röm. Forsch. II 13, 30) bezieht das unter Aufnahme einer Conjectur von v. Wilamowitz auf das Fest der Venus Verticordia am 1. April (CIL I p. 390), welches für die Dirne des Hercules sehr wohl passe; da man jedoch A. L. sehr oft mit Flora zusammenstellte und von letzterer ebenfalls erzählte, dass sie ein durch ars meretricia erworbenes Vermögen dem römischen Volke vermacht habe und darum durch das Fest der Floralia (28. April) gefeiert werde (Lact. I 20, 6), so hat wohl eher das letztgenannte Fest den Anknüpfungspunkt geboten.

Die Geschichte der Überlieferung ist durch Mommsen (Die echte und die falsche Acca Larentia, Festgaben f. Homeyer, Berlin 1871, 91ff. = Röm. Forsch. II 1ff.) in allen wesentlichen Punkten endgültig festgestellt worden und jeder Versuch, die Grundlagen der Sage zu ermitteln, muss von seinen Ergebnissen ausgehen. Völlig unhaltbar ist die weit verbreitete Auffassung (z. B. K. O. Müller-Deecke Etrusker II 105ff. Schwegler R. G. I 431ff. Preuner Hestia-Vesta 382ff. Preller Röm. Myth. II 26ff.) der A. L. als der „Larenmutter“ (acca wird verglichen mit sanskr. akkâ = „Mutter“), [134] die schon durch die Prosodie widerlegt wird: Lārentia und Lārentalia misst Ovid (fast. III 55. 57), und dass das nicht, wie Zielinski a. O. 112 annehmen möchte, eine durch Verszwang veranlasste Willkürlichkeit ist, zeigt der Umstand, dass auch die mit der Göttin der Larentalia identische Larunda langes a hat (Auson. XXVII 7, 9 Sch. nec genius domuum Lārunda progenitus lar). Insbesondere haben die Vertreter dieser Auffassung den ganz jungen Zug der Sage, der A. L. zu dem Collegium der Arvalbrüder in Beziehung setzt, und die Erzählung von der Ackerschenkung in der Weise ausgedeutet, dass sie A. L. als eine Göttin der römischen Stadtflur ansahen (E. Hoffmann Die Arvalbrüder, Breslau 1858, 15ff. vgl. Roscher im Myth. Lexic. I 5). E. Baehrens (Jahrb. f. Philol. CXXXI 777ff.) hat sogar, unter Bevorzugung der schlechten Variante Laurentia oder Laurentina, aus A. L. eine göttliche Verkörperung der alten Latinerstadt Laurentum und ihrer Beziehungen zu griechischen Seefahrern (Hercules) und zu Rom gemacht. Eine andere Deutung erkennt in der geschlechtlichen Beziehung zwischen Hercules und Acca nur eine Modification des Mythus von der Ehe des Hercules = Genius Iovis und der Iuno, an deren Stelle die Erd- und Unterweltsgöttin A. L. getreten sei (Studemund Verhandl. d. Würzburger Philol. Versamml. 1868, 126, 3. R. Peter in Roschers Myth. Lexic. I 2295). Dem gegenüber muss scharf betont werden, dass wir durchaus keine Berechtigung haben, A. L. für eine Göttin zu halten. Das Fest, zu dessen Erklärung die Erzählungen da sind, heisst Larentalia (Larentinalia ist erst spätere Anlehnung an Acca Larentina; Zeugnisse bei Mommsen a. O. II 2, 2), die Göttin mithin Larenta; Larentina oder Larentia ist ein davon gebildetes Adiectiv und Beiwort zu Acca. Dies aber ist keinesfalls Eigenname einer Göttin, sondern entweder altertümlicher Frauenvorname oder die weibliche Form des Geschlechtsnamens Accaus (Mommsen a. O. II 2). Dazu kommt, dass der burlesken Erzählung von ihrem Abenteuer mit Hercules alle Kennzeichen eines ἱερὸς λόγος abgehen. Daher hat die von Zielinski (quaest. com. 113ff.) geistreich ausgeführte, wenn auch mit vielen ganz unhaltbaren Constructionen verquickte Vermutung sehr viel für sich, dass die ganze Erzählung aus einer unteritalischen Phlyakenposse stamme und Acca römische Umsetzung des griechischen Ἀκκώ sei, welchen Namen eine Person der dorischen Komödie führt (Zielinski a. O. 44ff.). Der Process der Übertragung im einzelnen und insbesondere die Gründe, welche dazu führten, die Acca des Schwankes als Acca Larentina aetiologisch mit Larenta und den Larentalia zu verknüpfen, bleiben allerdings auch so im Dunkeln und werden es wohl stets bleiben.