RE:Custodia 2
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Das Institut d. Untersuchungshaft | |||
Band IV,2 (1901) S. 1897–1899 | |||
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2) Das Institut der Untersuchungshaft, custodia delatae criminationis bei Constantius Cod. Theod. IX 1, 7, ist dem römischen Strafprocess von Hause aus fremd, Mommsen St.-R. I 153. In dem in der Coercition enthaltenen Verhaftungsrecht ist aber dem mit der Sache befassten Magistrat die Möglichkeit gegeben, eine Untersuchungshaft herbeizuführen. Hierüber und über die Abwendung der Incarceration durch Bürgenstellung s. o. Art. Carcer.
Erfolgt eine Verhaftung nicht, so bleibt der Angeklagte auf freiem Fuss; dies ist auch noch in der Kaiserzeit möglich (Ulp. Dig. XLVIII 3, 1: persona committitur sibi), kam aber wohl selten vor, vgl. Iust. Cod. Iust. IX 4, 6, 3.
Ein Mittelding zwischen carceralis custodia (custodia publica Callistr. Dig. IV 6, 9) und Belassung in vollständiger Freiheit ist schon in republicanischer Zeit die sog. libera custodia; sie besteht darin, dass der Angeklagte nicht in den carcer abgeführt, sondern einem höheren Magistrat oder sonst einer angesehenen Persönlichkeit, die solchen Vertrauens würdig erscheint, übergeben [1898] wird. Sie bewacht den Angeklagten in ihrem Hause und behandelt ihn, soweit es die Umstände erlauben, mit möglichster Schonung, Liv. XXXIX 14. Sall. Catil. 47. Cic. in Catil. III 14. Tac. ann. III 22. VI 3. 23. Cass. Dio LVIII 3, 5. 18, 4. Verwandt damit ist die Unterbringung von Gefangenen zu gelinder Haft bei Städten, Liv. XXIV 45, die aber gewöhnlich nicht als Untersuchungshaft, sondern als Strafhaft erscheint, Liv. XXXIX 19. Cic. in Catil. IV 7. Sall. Catil. 51, 43. 52, 14. Tac. hist. I 88.
In der Kaiserzeit verschwindet diese libera custodia; sie macht neuen Formen der Untersuchungshaft Platz; Ulpian Dig. XLVIII 3. 1 eröffnet dem Magistrat für die Behandlung der Untersuchungsgefangenen vier Wege: de custodia reorum proconsul aestimare solet, utrum 1) in carcerem recipienda sit persona, 2) an militi tradenda, 3) vel fideiussoribus committenda, 4) vel etiam sibi. Dabei soll der Magistrat die Schwere des vorgeworfenen Verbrechens, Stand und Vermögen des Angeklagten und den Grad der Wahrscheinlichkeit der Schuld berücksichtigen. Neu sind die Formen 2 und 3.
Die militaris custodia ist eine Schöpfung der Kaiserzeit; sie darf nicht verwechselt werden mit der carceralis custodia, bei welcher (s. Art. Carcer) Soldaten als Wachepersonal vorkommen können; auf letztere beziehen sich die fälschlich meist auf erstere bezogenen Fälle bei Senec. epist. I 5, 7; de tranq. anim. 10, 3. Act. apost. 12, 6. Joseph. ant. XVIII 203f. Die militaris custodia besteht darin, dass der Angeklagte einem oder mehreren, in der Regel zwei Soldaten zur Bewachung übergeben wird; diese haben dafür einzustehen, dass der Angeklagte jeden Augenblick dem Gericht abgeliefert werden kann; vernachlässigen sie ihre Pflicht und gelingt es dem Verhafteten zu entweichen, so trifft sie schwere Strafe; Rekruten sollen für diesen Dienst nicht verwendet werden, Callistr. Dig. XLVIII 3, 12. Modest. Dig. XLVIII 3, 14. Paul. V 31, 1. Die custodia militaris gilt als eine verhältnissmässig gelinde Haft, sie ist erheblich leichter als die Kerkerhaft und – im Gegensatz zu dieser – aperta et libera et in usum hominum instituta, Constantin. Cod. Iust. X 19, 2. 1; es ist denkbar, dass der Gefangene trotz der Haft seinen Geschäften nachgeht (rei suae superesse), Ulp. Dig. IV 6, 10; der Apostel Paulus bezieht mit dem Soldaten, der ihn bewacht, in Rom eine Mietwohnung (Act. apost. 28, 30: ἐν ἰδίῳ μισθώματι); ähnlich wohl Liban. de vit. ips. I 46ff. Reisk.; vgl. ausserdem Tac. ann. III 22. XIII 15. Act. apost. 28, 16. Ulp. Dig. XLVIII 3, 3. 22, 7 pr. (bei Relegation, während bei der schwereren Deportation Kerkerhaft eintritt, ebd. 6, 1). Paul. Dig. XLIX 1, 25. Macer Dig. XLIX 16, 13, 5. Symm. epist. X 49. August. in Johann. c. XI tract. XLIX § 9 (tradere optionibus). Mit der custodia militaris nahe verwandt, aber nicht identisch ist die Überweisung des Angeklagten an einen bestimmten Officialen (apparitori custodiendum dare), Amm. Marc. XXVIII 1, 47. Pont. vit. Cypr. 15; sie wird von Augustin. in Johann. a. a. O. von der militaris custodia getrennt und als besonders leicht bezeichnet (humanum et mite officium atque civile).[1899]
Auch das von Ulpian erwähnte fideiussoribus committere ist wohl eine neue Form der Untersuchungshaft, gewissermassen eine Verbindung von Gestellungsbürgschaft und libera custodia, der Angeklagte kommt in das Haus des Bürgen; committere fideiussoribus Ulp. Dig. XLVIII 3, 1. 3, 3 = tradere vadibus Symm. epist. X 23, 10. Hieher wohl die Fälle Tac. ann. V 8. Suet. Vit. 2. Sidon. Apoll. ep. I 7, 4. Nov. Val. 31, 1 (custodia privata); vgl. auch Ulp. Dig. IV 6, 28, 1. Marcian. Dig. XLVIII 21, 3, 7. Der Bürge, der den Angeklagten nicht stellt (exhibere), verfällt in Geld- oder extraordinäre Strafe, Ulp. Dig. XLVIII 3, 4. Die Pandekten setzen Stipulationsbürgschaft voraus, es findet sich aber auch cautio iuratoria, Mitteis Hermes XXXII 659.
Von custodia reorum kann schliesslich auch noch in anderem Sinn gesprochen werden. Über die Strafhaft s. Art. Carcer. Daneben findet sich militärische Bewachung der Gefangenen auf dem Transport vom Verhaftungsort zur Gerichtsstätte, z. B. Liban. de vit. ips. I p. 46ff. Reisk. Zos. IV 14. Symm. epist. II 44. X 36. Grat. Valent. u. Theod. Cod. Iust. IX 3, 2, 2 u. ö.; ebenso militärische Beaufsichtigung des Strafvollzugs, Transport der Verurteilten an den Strafort, Senec. de tranq. an. 14, 7. Tac. ann. I 6. VI 19. Cass. Dio LV 20, 5. Petron. sat. 111. 112. Zos. V 47. Euseb. hist. eccl. VI 40, 4. 6. Nachweise aus den Märtyrerakten (von Harnack) bei Hirschfeld S.-Ber. Akad. Berl. 1891, 876, 155.
Custodia bezeichnet übrigens nicht nur die Bewachung und den Bewachenden, sondern ebenso auch den Bewachten, Verhafteten, namentlich in der Verbindung custodias audire, Senec. ep. X 1, 18. VIII 1, 23. Suet. Calig. 27; Dom. 14. Plin. ep. X 30. Ulp. Dig. I 16, 6 pr. II 12, 9. Paul. Dig. XLVIII 18, 18, 10. Mod. Dig. XLVIII 1, 12. Tertull. apol. 44.
Litteratur: Geib Gesch. d. röm. Crim.-Proz. 117ff. 287ff. 361ff. Rudorff Römische Rechtsgeschichte II 434ff. Naudet Mémoir. de l’inst. d. France. IV (1844) 817ff. VI (1850) 854ff. Sontag Entlassg. g. Caut. v. röm. Strafverf. 1865. Zumpt Crim.-Recht d. röm. Rep. I 2, 165–167: Crim.-Proz. d. röm. Rep. 165–168. Le Blant Les actes des martyrs, Mém. de l’inst. XXX 2 (1883), 104. 105. Krauss Im Kerker vor und nach Christus (1895) 73. 74.