RE:Clavus 1
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Brauch, alljährlich einen Nagel in die Wand eines Heiligtums einzuschlagen | |||
Band IV,1 (1900) S. 2–4 | |||
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Clavus. 1) Clavus annalis. Der Brauch, in die Wände der Heiligtümer alljährlich einen Nagel einzuschlagen, woraus sich die Anzahl der Jahre berechnen liess (Fest. ep. p. 56 = I p. 39 Thewr.), war schon bei den Etruskern in Übung (Müller-Deecke Die Etrusker II 307ff.); im Tempel der Nortia zu Volsinii fand ein Zeitgenosse des Livius, der Antiquar L. Cincius (Liv. VII 3, 7) solche Jahresnägel vor. Sacral und chronologisch besonders bedeutsam ist der clavus annalis des capitolinischen Heiligtums. Nach der Hauptstelle bei Liv. VII 3, 5ff., der hier wohl auf Cincius (vgl. § 7) zurückgeht, war bei der Dedication des Iuppitertempels die ehedem durch eine Erztafel an der rechten Wand der cella Iovis festgehaltene sacrale Anordnung (lex) getroffen worden, ut qui praetor maximus sit, idibus Septembribus (d. i. am Dedicationstage des Tempels) clavum pangat, und zwar an der Wand der Minervacapelle, quia numerus Minervae inventum sit. Der Wortlaut der Stelle zeigt, was Mommsen bestritten hat, eine alljährliche Vornahme der Nagelschlagung. Demgemäss vollzog sie bei der Dedication im ersten Jahre der Republik (245 = 509) der Consul Horatius, und so auch fernerhin einer der Consuln, nach Einführung der Dictatur (also seit J. 253 = 501) der Dictator, falls ein solcher im Amte war, so z. B. wie schon die im J. 423 = 331 vorliegenden Annalen zu berichten wussten, mit besonders wunderbarem Erfolge in secessionibus quondam plebis (Liv. VIII 18, 12). Späterhin kam zwar nicht, wie man vielfach aus Livius herauslesen wollte, die jährliche Ceremonie der Nagelschlagung als solche, wohl aber nach Soltaus (Röm. Chron. 392) richtiger Deutung, bei welcher die von Unger [3] vorgeschlagene Änderung intermisso dein tempore für das überlieferte intermisso deinde more überflüssig erscheint, die Gewohnheit, einen Dictator als praetor maximus damit zu beauftragen, in Vergessenheit. Erst bei einer Pest im J. 391 = 363 erinnerte man sich daran, dass einmal eine Seuche – das Jahr derselben wird nicht angegeben – infolge der Nagelschlagung durch einen Dictator erlosch; um also hinsichtlich des praetor maximus ja nichts zu versehen, wurde damals wieder ein Dictator und zwar ausschliesslich zur Vornahme dieser Ceremonie ernannt. Ausser Livius bezeugen auch die capitolinischen Fasten (CIL I² p. 20) zum J. 391 = 363 diesen dictator und den ihm beigegebenen mag(ister) eq(uitum), beide clavi fig(endi) caussa bestellt. Mommsen stellt St.-R. II³ 156f., 7 diese Function mit den zur Ausrichtung ausserordentlicher Festlichkeiten ernannten Dictatoren zusammen (vgl. auch Madvig Verf. und Verw. I 485f.). Auch weiterhin wurde diese Dictatur als Abwehr gegen Pestilenz und innere Unruhen von Zeit zu Zeit erneuert, so im J. 423 = 331 (Liv. VIII 18, 12f.; vgl. Val. Max. II 5, 3. Oros. III 10, 1ff. August. de civ. dei III 17, 2), vielleicht auch im J. 441 = 313 (Liv. IX 28, 6; nach den Fasten und anderen Berichten war dies allerdings eine Dictatur rei gerundae causa) und auch sonst häufig (Liv. IX 34, 12 zum J. 444 = 313), alles Fälle, wo Mommsen ohne ersichtlichen Grund die Glaubwürdigkeit der Überlieferung bestreitet (R. Chron.² 176 A. 342; St.-R. a. a. O. A. 5). Endlich verzeichnen – und dies ist der Angelpunkt der Mommsen-schen Hypothese – im J. 491 = 263, also genau hundert Jahre nach der Dictatur clavi figendi des Jahres 391 = 363, die capitolinischen Fasten (CIL I² p. 22) wiederum einen dictator und einen mag(ister) eq(uitum) clavi fig(endi) caussa. Es hindert nichts, anzunehmen, dass die Sitte des jährlichen Nagelschlags durch den jeweiligen höchsten Magistrat (Consul) noch zur Zeit des Livius selbst in Übung war, wie ja auch das Praesens in VII 3, 5 (lex vetusta est u. s. w.) nahelegt. Im J. 752 = 2 verlieh Augustus dem neuen Tempel des Mars Ultor unter anderen Privilegien des capitolinischen Heiligtums auch das des Nagelschlags, welcher hier jedoch nur am Schlusse des Lustrums von den abtretenden Censoren vorgenommen werden sollte (Dio LV 10, 4 ἧλόν τε αὐτῷ ὑπὸ τῶν τιμητευσάντων προσπήγνυσθαι), eine Anordnung, die wohl schon durch das Abkommen des Census seit Vespasian unpraktisch wurde.
Die Ceremonie des clavus annalis ist zunächst eine sacrale Handlung; eine etwaige Bedeutung für die Chronologie kann ihr nur mittelbar zukommen. Gesucht erscheint Prellers Deutung, wonach der clavus annalis auf das Unerschütterliche der Beschlüsse Iuppiters oder auf die lichte Jahresordnung der Idus hinweist u. ä. Vielmehr beruht dieses piaculum (Liv. VIII 18, 12), als dessen Zweck in der Überlieferung die Abwehr von Krankheit und Unruhen klar hervortritt, wie die defixiones überhaupt (Preller-Jordan Röm. Myth. I³ 260. Marquardt-Wissowa St.-V. III² 106f.), auf dem uralten Volksglauben, der durch Einschlagen von Nägeln daemonische Einflüsse abzuwenden und anderswo zu fixieren vermeinte. [4]
Die Bedeutung des Jahresnagels, der ja in der That nach Festus und Livius in einem primitiven Zeitalter zur Jahreszählung verwendet werden mochte, für die römische Chronologie ist seit Mommsens Ausführungen Röm. Chron.² 176ff. überschätzt worden. Mommsen, dessen Ansicht sich – allerdings mit zum Teil noch weitergehenden Modificationen – auch Matzat und Seeck angeeignet haben, verwirft in der Überlieferung alles, was auf eine alljährliche Wiederkehr des Nageleinschlags hinweist, als ein Missverständnis der Antiquare in augustischer Zeit; er lässt ferner nur die Einschlagungen der Jahre 391 = 363 und 491 = 263 (in den capitolinischen Fasten) als gut bezeugt gelten und nimmt ausserdem vor diesen eine angeblich zur Zeit der grossen Pest des Jahres 291 = 463 erfolgte Nagelschlagung an, welche letztere indessen in der Überlieferung gar keinen Anhaltspunkt, wohl aber, wie Unger dargelegt hat, mancherlei Widerspruch findet. Aus dieser Hypothese, welche in dem capitolinischen clavus einen Saecularnagel sieht, ergeben sich dann für Mommsen tiefeinschneidende Folgerungen, insbesondere die, dass die 200 Amtsjahre von 291–491 vollen 200 Kalenderjahren gleichkommen, während Anzeichen bedeutender Verkürzungen vorhanden sind. Soviel nur scheint mit Soltau Röm. Chron. 391, der mit Recht an der alljährlichen Nagelschlagung festhält, zuzugeben, dass die Dictatur clavi figendi causa im J. 491 = 263 wohl durch die auch im sacralen Bereiche bedeutsame Erwägung veranlasst wurde, dass seit der ersten Einsetzung im J. 391 = 363 gerade ein saeculum verflossen war; es ist demnach wahrscheinlich, dass zwischen 391 und 491 in der That 100 Amtsjahre lagen.
Litteratur: Mommsen Röm. Chron.² 176ff. G. F. Unger Philologus XXXII 531–540. Lange Jahresber. II 1873, 864f. Huschke Das alte röm. Jahr 71. 73. Preller-Jordan Röm. Myth. I³ 258f. H. Matzat Röm. Chron. I 236ff. 251ff., vgl. II 30. 116. 214. O. Seeek Die Kalendertafel des Pontifices 163f. 167f. Soltau Die römischen Amtsjahre 49ff.; Röm. Chronologie 391f. Daremberg-Saglio Dict. I 1241.