Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Als Aufbewahrungsorte für Urkunden u. amtl. Aufzeichnungen
Band II,1 (1895) S. 553 (IA)–564 (IA)
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Archive als Aufbewahrungsorte für Urkunden und amtliche Aufzeichnungen, an die ein öffentliches Interesse sich knüpft, gab es frühzeitig, sobald der Gebrauch der Schriftzeichen allgemeiner wurde, bei den orientalischen Völkern, den Griechen und Römern. Der Sitz und Versammlungsort der Behörden war der Aufsicht und der Benutzung wegen für sie die gegebene Stätte. Daher kommt auch der Name (ἀρχεῖον, s. d., archium, archivum von ἀρχή, die Behörde). Schon Herodot IV 62, 1 gebraucht ἀρχήϊον vom Amtslocal der skythischen ἀρχαί. Diese allgemeine Bedeutung (lateinisch entspricht curia u. dergl.) bleibt mit dem Worte ἀρχεῖον in der guten Zeit des Altertums stets verknüpft (auch Xen. Kyr. VIII 5. 17 gehört hierher); die Benutzung des ἀρχεῖον für archivalische Zwecke ergiebt sich nur je aus dem Zusammenhang. Z. B. Demosth. X 53 stellt die ἀρχεία mit βουλευτήρια zusammen als Platz der Verhandlungen, und noch bei Lukian ver. hist. I 29 (ἀρχεία δὲ αὐτοῖς [den Bewohnern der fabelhaften Stadt] ἐν μέσῃ τῇ πόλει πεποίηται, ἔνθα ὁ ἄρχων αὐτῶν … κάθηται) bedeutet ἀρχεῖον Amtsgebäude und ebenso Poll. VI 35 (ἀρχεῖόν τι Ἀθήνησι παρασίτιον καλούμενον). Die spätere Graecität beginnt das Wort mit der uns geläufigen Beschränkung des Sinnes zu gebrauchen (Jos. c. Ap. Ι 143 ἐν τοῖς ἀρχείοις τῶν Φοινίκων. Euseb. h. e. V 18 τὸ τῆς Ἀσίας δημόσιον ἀρχεῖον. CIG 1543 u. s. sehr oft). Die Lexikographen erklären dem entsprechend: Hesych. ἀρχία (l. ἀρχῖα). ἔνθα οἱ δημόσιοι χάρται … [ἀπόκεινται] ἢ χαρτοφυλάκια; ähnlich Suid. s. ἀρχεῖα und Bekker an. I 449, 8; vgl. Suid. und Phot. s. μητραγύρτης. Im Etym. M. 453, 31 θόλος τόπος τις ἐν τοῖς ἀρχείοις) steht dagegen ἀρχεῖον in der älteren Bedeutung (vgl. C. Curtius D. Metroon in Athen als Staatsarchiv, 1868, 5f.); ἀρχῖον steht CIG 3923 und 3931 (aus Hierapolis). 4212 (aus Telmussi). Die Form ἀρχαῖον, welche Suidas aus Xen. hist. η’ [!] anführt, beruht wohl auf Verwechselung oder einer falschen Lesart; die Stelle des Suidas ist aus Excerpten zusammengesetzt und liegt uns offenbar in gekürzter Gestalt vor. Sonst findet die Lesart sich noch aus gleicher Quelle bei Bekker a. O. Mit Ergänzung von ἀρχεῖον hiess das Archiv auch τὸ δημόσιον (Demosth. XVIII 142. CIG 123. 3137 Z. 52. 86. 108 u. s.), auch (?) τὸ κοινόν (s. Curtius a. a. O. Anm. 140. 155). Aus älterer Zeit nicht nachgewiesen sind die von den Lexikographen gebrauchten umschreibenden Ausdrücke γραμματοφυλάκιον und χαρτοφυλάκιον (bezw. -φυλακεῖον). Λογιστήριον hiess das A. [554] nach Corp. gloss. lat. II 194, 40 vom Amtslocal der λογισταί wegen der dort offenbar aufbewahrten Rechnungen. Nach Etym. M. 412, 31 hiess in Delphi das γραμματοφυλάκιον: ζύγαστρον (Truhe). Der Ausdruck wird zugleich als rhetorisch bezeichnet; vermutlich gebrauchte ein Redner gelegentlich von einer delphischen Urkundensammlung diesen Ausdruck. Im Lateinischen ist der gewöhnliche Name für A. tabularium (auch tabularia bei Non. 208, 27) von tabulae, weil die Urkunden (tabulae publicae) von früh an durch lange Zeit regelmässig auf Holztafeln geschrieben waren. Zu unterscheiden von dem tabularium, das als Staatsarchiv öffentlichen Charakter hatte, ist das tablinum, ein Teil des römischen Privathauses beim Atrium, der dem Besitzer zur Aufbewahrung der privaten, in ältester Zeit bei Amtspersonen auch der öffentlichen Aufzeichnungen diente (Fest. p. 256. Plin. n. h. XXXV 7 tabulina (apud maiores) codicibus inplebantur et monimentis rerum in magistratu gestarum; vergl. Vitr. VI 4 und 8). Dagegen gebraucht Paulus Dig. ΧΧΧII 1, 92 tabularia von den A. der Privatpersonen. Nach dem Zusammenhang erhält auch scrinia die Bedeutung von A. (oft im Cod. Iust.; z. Β. XII 19).

Das Bedürfnis nach einer geordneten Aufbewahrung und festen Stätte der Urkunden, d. h. schriftlichen Aufzeichnungen den Staat, die Verwaltung oder rechtliche Verhältnisse betreffenden Inhaltes, machte innerhalb des einzelnen Staatswesens und im internationalen Verkehr früh sich geltend. Dem goldenen Zeitalter spricht Vergil Georg. II 502 die A. ab (nec ferrea iura insanumque forum aut populi tabularia vidit) und bezeichnet sie damit als feste Beigabe der menschlichen Kultur. Übrigens sind von den in A. niedergelegten Urkunden in vielen Fällen wohl zu unterscheiden die gleichen Texte, die behufs ihrer allgemeinen Bekanntmachung auf Tafeln von Stein, Metall, Holz oder ähnlichem dauernden Stoff aufgezeichnet und an öffentlichem, leicht zugänglichen, unter dem Schutz einer Gottheit befindlichen Orte aufgestellt wurden. Im A. befanden sich entweder die Concepte und Originale (αὐτόγραφα), nach denen die Veröffentlichung erfolgte, oder amtlich gefertigte Ab- bezw. Reinschriften (ἀντίγραφα, wofür CIG 3281. 3282. 3357 ἐκσφράγισμα steht). Man darf daher keineswegs aus Nachrichten über den Ort, wo der Text irgend einer amtlichen Mitteilung inschriftlich für das Publicum verzeichnet war, auf die Anwesenheit eines A.s an jener Stelle schliessen.

Die ältesten schriftlichen Aufzeichnungen, und zwar nach dem Zusammenhang solche von öffentlichem Interesse, werden von Josephus (c. Ap. Ι 28) den Ägyptiern und Chaldaeern in Babylonien zugeschrieben, ferner unter den mit den Griechen in Verkehr stehenden Völkern den Phöniziern (ἐχρήσαντο γράμμασιν εἴς τε τὰς περὶ τοῦ βίον οἰκονομίας καὶ πρὸς τὴν τῶν κοινῶν ἔργων παράδοσιν); Ι 143 erwähnt er direct ihre A. Die umfangreichen Keilinschriften auf freibeweglichen, häufig ringsum beschriebenen Backsteinen, welche 1845ff. durch Layard in den Trümmerstätten von Niniveh und Babul ausgegraben wurden, werden, insofern sie officielle Berichte über die Grossthaten und die Landesverwaltung der assyrischen Könige enthalten, mit Recht als alter Bestand von Staatsarchiven [555] oder Bibliotheken jenes Reiches angesehen. Keilinschriftliche Thontafeln mit Briefen asiatischer Könige und Vasallen haben sich alte Reste eines uralten ägyptischen A.s zu Tell-el-Amarna gefunden (s. Hugo Winckler Ztschr. f. ägypt. Spr. XXVII 1889, 42ff. nebst Nachtrag von A. Erman ebd. 62ff.). Alabastertäfelchen mit dem Namen Amenophis III., die bei den Tafeln waren, dienten vermutlich als A.-Etiketten (s. Erman[WS 1] a. a. O.). Angeblich wurden sie in einem irdenen Gefäss gefunden; Erman vermutet ihre ursprüngliche Aufbewahrung in hölzernen Kasten. Inhalt eines A.s waren auch die βασιλικαὶ διφθέραι der Perser, aus welchen Ktesias nach Diod. II 32 seine Kenntnis der persischen Geschichte schöpfte (οὗτος οὖν φησιν ἐκ τῶν βασιλικῶν διφθερῶν, ἐν αἷς οἱ Πέρσαι τὰς παλαιὰς πράξεις κατά τινα νόμον εἶχον συντεταγμένας, πολυπραγμονῆσαι τὰ καθ’ ἕκαστον κτλ.); vgl. frg. 18 Did. (βασιλικαὶ ἀναγραφαί). Bei den Griechen wurde zwar, entsprechend dem Aufkommen der bürgerlichen Elemente in den Gemeindeverfassungen, gewiss sehr früh, wenn auch noch nicht regelmässig, für die öffentliche Aufstellung von Verträgen, Gesetzen, Widmungen, Siegerlisten und anderen Verzeichnissen, Orakelsprüchen und sonstigen allgemein interessierenden Texten, selbst litterarischen wie von Hesiods ἐ. κ. ἡ. gesorgt; die Anlage eigentlicher A. aber ist für die ältere Zeit der griechischen Geschichte nicht nachweisbar, ja höchst unwahrscheinlich. Es fehlte dafür noch an einer umfassenden staatlichen Organisation und Centralisation. Bei den vielen Verfassungsänderungen der einzelnen Staaten und Städte wurden gewiss häufig bestehende Gesetze durch neue ersetzt; dass dann die öffentlich aufgestellten Texte der ersteren gewöhnlich eine sichere und geordnete Aufbewahrung gefunden hätten, ist nicht anzunehmen. Josephus widmet diesem Mangel ein ganzes Kapitel (c. Ap. Ι 20ff.), wobei er übrigens die Unterlassung jeder schriftlichen Aufzeichnung über wichtige Abmachungen und Thatsachen mit verantwortlich macht, und bezeichnet jenen als den Hauptgrund der grossen Unsicherheit und der vielen Widersprüche in den Nachrichten über die älteste Geschichte der Griechen (… τὸ γὰρ ἐξ ἀρχῆς μὴ σπουδασθῆναι παρὰ τοῖς Ἕλλησι δημοσίας γίνεσθαι περὶ τῶν ἑκάστοτε πραττομένων ἀναγραφὰς τοῦτο μάλιστα δὴ καὶ τὴν πλάνην καὶ τὴν ἐξουσίαν τοῦ ψεύδεσθαι τοῖς μετὰ ταῦτα βουληθεῖσι περὶ τῶν παλαιῶν τι γράφειν παρέσχεν· οὐ γὰρ μόνον παρὰ τοῖς ἄλλοις Ἕλλησιν ἠμελήθη τὰ περὶ τὰς ἀναγραφάς, ἀλλ’ οὐδὲ παρὰ τοῖς Ἀθηναίοις … οὐδὲν τοιοῦτον εὑρίσκεται γενόμενον, ἀλλὰ τῶν δημοσίων γραμμάτων ἀρχαιοτάτους εἶναί φασι τοὺς ὑπὸ Δράκοντος αὐτοῖς περὶ τῶν φονικῶν γραφέντας νόμους ὀλίγῳ πρότερον τῆς Πεισιστράτου τυρρανίδος ἀνθρώπου γεγονότος κτλ.). Später wurde das anders, und besonders in Athen war während der Blütezeit und lange darüber hinaus die Aufbewahrung der öffentlichen Urkunden (τὰ δημόσια oder κοινὰ γράμματα) aufs beste geregelt (Aeschin. III 75 καλὸν ἡ τῶν δημοσίων γραμμάτων φυλακή). Ähnlich gewiss in anderen griechischen Städten, so dass Cicero de leg. III 46 in dieser Hinsicht den Griechen grössere Sorgfalt zuschreibt als den Römern seiner Zeit (Graeci hoc diligentius, apud quos νομοφύλακες creabantur). Durch [556] Solon wahrscheinlich wurde die Aufsicht über die Staatsurkunden dem Areopag übertragen, dem die Obhut über die Gesetze zufiel, nach Plut. Sol. 19 (τὴν δὲ ἄνω βουλὴν ἐπίσκοπον πάντων καὶ φύλακα τῶν νόμων ἐκάθισεν). Sie hat sich aber wohl auf die correcte Abfassung und geeignete Aufstellung der Gesetzestafeln und ähnlicher Inschriften beschränkt. Später (um 460 v. Chr.) übertrug man auf Antrag des Ephialtes bei Gelegenheit des demokratischen Umschwungs in der ganzen Staatsverwaltung jene Aufsicht einer Behörde von sieben νομοφύλακες und sorgte für leichtere Zugänglichkeit der Staatsurkunden (Poll. VIII 128. Harpokr. s. κύρβεις und ὁ κάτωθεν νόμος: τοὺς νόμους καὶ τοὺς κύρβεις ἄνωθεν ἐκ τῆς ἀκροπόλεως εἰς τὸ βουλευτήριον καὶ τὴν ἀγορὰν μετέστησεν Ἐφιάλτης), indem sie nach den Mittelpunkten des öffentlichen Lebens gebracht wurden. Cicero de leg. a. O. bringt damit die Fürsorge für die Erhaltung der öffentlichen Urkunden überhaupt in Verbindung. Erst später schritt man zur Anlage und Einrichtung eines Staatsarchivs im Metroon (an der Rückseite der Agora, anstossend an das Buleuterion). Wenn ein jeder Bürger am öffentlichen Leben und am Fortbau der bestehenden Einrichtungen thätigen Anteil nehmen wollte, musste ihm auch die volle Kenntnis dessen, was im Staate bisher darin geschehen war (Plin. ep. II 19, 8 nam ut illis [graecis] erat moris leges quas ut contrarias prioribus legibus arguebant, aliarum collatione convincere etc.), gesichert werden. Nach v. Wilamowitz (Phil. Untersuch. I 205f.) wurde nicht vor der zweiten Hälfte des 4. Jhdts. das Metroon als A. benutzt; vorher fand also auch keine Centralisierung der Acten statt, die vielmehr in den Amtslocalen der einzelnen Behörden aufbewahrt wurden (s. C. Curtius 15f.), die der βουλὴ und des δῆμος im Buleuterion. Jedenfalls wurde später das Metroon die Hauptsammeistätte für alle öffentlichen Urkunden (αὐτόγραφα und ἀντίγραφα), so dass an seinen Namen sich durch lange Zeit in Athen völlig der Begriff des Staatsarchivs knüpfte. Das Heiligtum der Grossen Mutter (μήτηρ τῶν θεῶν) wählte man, nach C. Curtius 6ff., weil von ihr als der nährenden Erdgöttin die materielle, damit aber auch die religiös-politische Wohlfahrt und Erhaltung des Staates abhing, nach v. Wilamowitz a. O., weil das A. des Buleuterion einer Erweiterung bedurfte. In ihm fanden alle von den obersten Behörden ausgehenden Urkunden Aufnahme (s. Lykurg bei Suid. u. Harp. s. μητρῷον: τοὺς νόμους ἔθεντο γράψαντες ἐν τῷ μητρῴῳ[WS 2]. Phot. s. μητρῷον: … ἐν ᾧ ἦν γράμματα δημόσια καὶ οἱ νόμοι. Hypoth. II 4 zu Dem. XVIII εἰς τὸ μητρῷον …, ἔνθα ἐστὶν ὅλα τὰ δημόσια γράμματα; ähnlich Iulian. or. V 159 Β). Zu den δημόσια γράμματα gehörten Gesetze und Volksbeschlüsse (ψηφίσματα) nebst den Protokollen des Rates und der Volksversammlung; Gerichtsacten (C. Curtius 19), aber wahrscheinlich nur die aus Strafprocessen wegen ihres öffentlichen Charakters; die Rechnungen über Einnahmen und Ausgaben des Staates, nachdem erstere bei den Apodekten, letztere bei den Euthynen und Logisten volle Erledigung erfahren hatten (C. Curtius 19f.), zugleich mit den Inventarverzeichnissen; endlich die Namenslisten der Epheben. Wenn auch das Staatsexemplar der Dramen der [557] drei grossen Tragiker mit dem officiell festgestellten Texte höchst wahrscheinlich im Metroon aufbewahrt wurde (Ps.-Plut. Vit. dec. or. 841 F), da ja der Staatsschreiber nach ihm die Schauspielerexemplare controllieren sollte, so war dies eben auf Antrag des Redners Lykurgos zur Staatssache gemacht worden. Ausnahmsweise und vermutlich nur aus bestimmten Gründen nahm man auch Privaturkunden dort in Verwahrung (nach Diog. Laert. X 16 das Testament Epikurs).

Welchen Wert die Athener dem Inhalt des Metroon beimessen, geht aus dem Gesetz hervor (Hyp. II 4 zu Dem. XVIII): μηδέποτε ψευδῆ γράμματα εἰς τὸ μητρῷον εἰςάγειν, und auf Vernichtung eines Gesetzes im Metroon stand nach Lyk. Leocr. 66 ebenso Todesstrafe wie auf Vorlage eines untergeschobenen Gesetzes bei öffentlichen Verhandlungen nach Dem. XXVI 24. Alkibiades freilich soll nach einer aus Chamaileon bei Athen. IX 407 c berichteten Anekdote im Metroon (ὅπου τῶν δικῶν ἦσαν αἱ γραφαί) den Text einer Klageschrift verwischt haben (s. darüber v. Wilamowitz a. O.). Die oberste, gewiss mehr repräsentative Aufsicht über das Metroon und den Schlüssel zu ihm hatte der Vorsitzende Prytane (πρύτανις ἐπιστάτης) nach Poll. VIII 96; die wirkliche Leitung führte wohl der γραμματεὺς (τῆς βουλῆς), ein Ehrenamt, das ursprünglich mit der Prytanie wechselte und später jährlich wurde. Daneben traten mit wechselndem Namen andere Schreiber auf (γραμματεὺς ὁ κατὰ πρυτάνειαν, ἀναγραφεύς, γραμματεὺς τῆς βουλῆς καὶ τοῦ δήμου oder τοῦ δήμου denen mit der Führung der Protokolle in den Versammlungen offenbar auch ein Einfluss auf die Leitung des Metroon anvertraut war. Unter dem γραμματεύς stand der ὑπογραμματεύς (Kanzlist). Über die einzelnen Abteilungen des A.s scheinen ausserdem diejenigen Amtspersonen, zu deren Ressort der Inhalt jener gehörte, eine gewisse Aufsicht geübt zu haben nach der schon berührten Erzählung von Alkibiades bei Athen, a. a. O. (… ἀγανακτοῦντες δὲ ὅ τε γραμματεὺς καὶ ὁ ἄρχων τὰς ἡσυχίας ἦγον δι’ Ἀλκιβιάδην; offenbar sind der dem betreuenden Gerichtshof Vorsitzende Archon und der zugehörige Secretär gemeint). Die eigentlichen archivalischen Αrbeiten, das Einordnen und Verzeichnen, Heraussuchen und Ausleihen der Urkunden verrichteten Staatssclaven (δημόσιοι). Aus dem Metroon liessen Behörden zu dienstlichem Gebrauche bei Verhandlungen Urkunden holen; Privatpersonen durften für gleiche Zwecke Abschriften nehmen (C. Curtius 21), was seitens der berufsmässigen Redner oft geschah. Aber auch für historische Zwecke wurde das A. viel benutzt; dies müssen wir annehmen z. Β. von Philochoros, Polemon, Krateros (3. Jhdt.), dessen συναγωγὴ ψηφισμάτων Poll. VIII 126 und andere erwähnen (C. Curtius 22f.). Mag auch das Metroon in den wechselvollen Zeiten nach Untergang der Selbständigkeit Athens manche Verluste durch gewaltsame Eingriffe der Machthaber erlitten haben, wie Poseidonios bei Athen. V 214 c von Apellikon (1. Jhdt. v. Chr.) berichtet, dass er τὰ ἐκ τοῦ μητρῴου τῶν παλαιῶν αὐτόγραφα ψηφίσματα entwendete, so blieb sein Inhalt doch lange Zeit ein sehr reicher, und noch im 2. Jhdt. n. Chr. sah Favorinus dort die Erwiderung (ἀντωμοσία) des Sokrates auf die Schrift seiner Ankläger. Die [558] nicht zu den Staatsurkunden, sondern zum besonderen Bereich einer einzelnen Behörde gehörigen Schriftstücke wurden im Amtslocale dieser aufbewahrt (vgl. C. Curtius 15f.); z. Β. die Gemeindelisten (ληξιαρχικὰ γραμματεῖα) mit den Namen der mündig gewordenen Athener. Manche Kategorien solcher Urkunden kamen vermutlich nach ihrer geschäftlichen Behandlung noch in das Metroon (s. o.). Bei anderen wurden wohl von Anfang an je zwei Abschriften (ἀντίγραφα) angefertigt, eine fürs Staatsarchiv und eine für die nächstvorgesetzte Behörde. Wenn in der Bauinschrift des J. 407 v. Chr. (CIA I 324) zwei χάρται als gekauft erwähnt sind, ἐς ἃ τὰ ἀντίγραφα ἐνεγράφσαμεν, so mag die eine Abschrift für das Buleuterion (oder Metroon), die andere für die Logisten bestimmt gewesen sein, welche im Logisterion ihrer Sitz hatten. Auf zwei Exemplare der Rechenschaftsberichte weisen auch die Inschriften CIA II 444. 446 (von ca. 200 und 150 v. Chr.) hin: (gleichlautend) καὶ περὶ ἁπάντων ὧν ὠικονόμηκεν ἀπενήνοχεν λόγους εἰς τὸ μητρῶιον καὶ πρὸς τοὺς λογιστὰς καὶ τὰς εὐθύνας ἔδωκεν. Ob aus diesen Specialarchiven, wie wir vermuten dürfen, gewisse Arten der Urkunden nach einiger Zeit ausgeschieden und vernichtet wurden, welche Arten es waren und nach welcher Zeit, ist ungewiss. Über attisches Urkundenwesen vgl. W. Hartel Sitz.-Ber. Akad. Wien XC 1878, 543ff. XCI 101ff. XCΙΙ 87ff.

Ausserhalb Athens gab es anscheinend schon in früher Zeit Anfänge von Α., z. Β. ein Orakel-A. der Priester in Delphi, aus welchem einzelne Nachrichten über alte Orakel stammen, wie auch später vollständige A., vermutlich nach dem Muster der athenischen. So in Magnesia am Sipylos nach CIG 3137 (244 v. Chr.); in Smyrna 3264. 3266. 3281. 3282 u. s. oft; in Hierapytna auf Kreta (2556), Iasos (2672. 2675. 2693 c), Aphrodisias (2841. 2842), Magnesia a. M. (2950), Ephesos (3029), Thyatira (3490. 3509 u. s.), Assos (3573), Lampsakos (add. 3641b Z. 52), Hierapolis (3916 u. s.) und in andern Städten mehr; zu Megara im Heroon des Alkathoos zur Zeit des Pausanias (I 43, 4); bei Euseb. h. e. V 18,9 τὸ τῆς Ἀσίας δημόσιον ἀρχεῖον. In Iasos (CIG 2672. 2675) wurden die zur Veröffentlichung bestimmten Texte gleich vor dem A. in einer Vorhalle aufgezeichnet (ἐν τῇ παραστάδι τῇ πρὸ τοῦ ἀρχείου), wofür in Thyatira (3521) die στοά genannt ist. Ob in allen den Stellen ἀρχεῖον für Amtsgebäude im allgemeinen oder für A. im engeren Sinne steht, ergiebt sich nicht aus dem Zusammenhang. Zu bemerken ist aber noch, dass sehr häufig in jenen Inschriften der Plural ἀρχεῖα steht, auch wo nur von einem ἀντίγραφον der Inschrift die Rede ist. Für den Aufseher des A.s finden wir schon im 3. Jhdt. v. Chr. den Namen γραμματοφύλαξ CIG 3137 (aus Magnesia am Sipylos) Z. 51. 85f., der später gewöhnlich wird. Cyrills Glosse ἄρχιον νομοφύλακα lässt, wenn nicht ein Versehen vorliegt, auf einen Amtsnamen ἄρχιος schliessen; ein ἀποδοχεὺς τῶν ἀρχείων findet sich CIG 3490 (aus Thyatira).

Dass die im Metroon zu Athen aufbewahrten Urkunden und gewiss ebenso die der andern griechischen A. der Regel nach auf Charta geschrieben waren, ist teils aus der erwähnten Anekdote von Alkibiades, teils aus der gleichfalls erwähnten Bauinschrift von 407 und aus dem [559] späteren Namen χαρτοφύλαξ, χαρτοφυλάκιον zu schliessen. Wahrscheinlich wurden die zusammengehörigen Rollen in Thonkrügen verwahrt, wenigstens lässt es sich aus der Notwendigkeit einer Fürsorge für längere Erhaltung der Rollen vermuten.

Zahlreiche griechische und andere Originalurkunden aus Privat- und öffentlichen A. sind besonders im Laufe der letzten zwei Decennien im oberen Ägypten (Faijùm), an der Stelle des alten Arsinoë, aufgefunden worden. Der Annahme, dass A. selbst aufgegraben worden seien (W. v. Hartel Üb. d. gr. Papyri Erzh. Rainer 1886, 12ff. 16ff.), wird von Ad. Erman (Herm. XXI 585ff.) auf Grund seiner an Ort und Stelle eingezogenen Erkundigungen widersprochen. Eine ältere Sammlung ist G.&Marini Papiri diplomatici (Rom 1805); s. ferner Papyri graeci r. Taurin. mus. ed. Peyron (1826), die des Wiener Mus. veröffentlicht durch Petrettini (1826), des Leydener Mus. durch Leemans (1843); die Hauptmasse der neugefundenen Urkunden wird publiciert in den Mitteil. a. d. Samml. der Papyrus Erzh. Rainer Iff. (1887ff.). Ägypt. Urkunden a. d. Kön. Museen in Berlin (1892ff.). Greek Papyri in the Brit. Museum … by Kenyon (1893). Ferner vgl. C. Wessely Proleg. ad pap. gr. nov. collect. ed. (Wien 1883); Die gr. Pap. d. k. Samml. Wiens (1885); Führer durch d. Ausstell. Papyr. Erzh. Rainer (Wien 1894). Weitere Litteratur darüber findet man in G. Lumbroso Rech. s. l’écon. pol. de l’Ég. sous l. Lagides (Turin 1870) pref. Vff.: die spätere bei W. v. Hartel a. O. Die Urkunden sollen in irdenen Gefässen verschlossen gewesen sein, als man sie fand (v. Hartel a. O. 13 u. s.). Sie geben wie über unzählige andere Dinge des damaligen Lebens (von der Ptolemaierzeit bis etwa 900 n. Chr.), so auch über das Urkunden- und A.-Wesen Auskunft (v. Hartel a. O. 35. 88f. 51ff.). Dieses war fest geregelt und wahrscheinlich mit der Organisation öffentlicher Bibliotheken in Verbindung gebracht. Die βιβλιοφύλακες waren, wodurch sie sich beschwert fühlten, wenigstens in Arsinoe zeitweise mit der Behandlung von Urkunden betraut, wie in den Dörfern die κωμογραμματεῖς (U. Wilcken Herm. XXVIII 231ff.).

Bei den Römern wurde nach Min. Fel. 22 und Tertull. apol. 10 die Anfertigung von Urkunden auf Saturn zurückgeführt, für die Späteren wohl aus dem äusseren Grunde, weil das römische Haupt-Staats-A. im Aerarium des Saturntempels untergebracht war. Ein innerer Grund konnte wie bei der Rhea (μήτηρ τῶν θεῶν) zu Athen (s. o.) in der agrarischen Bedeutung jenes Gottes liegen, dem in Übereinstimmung damit auch die Anfänge jeder künstlichen Berechnung und äusseren Ordnung zugeschrieben wurden. Anfangs unter den Königen und in der ersten Zeit der Republik fanden öffentliche Schriftstücke, tabulas publicae (vgl. Mommsen St.-R. I³ 206 u. s.), später auch acta publica oder instrumenta (Suet. Cal. 9. Tertull. scorp. 15) sowie monumenta (Schol. zu Ter. Eun. 753 bei Fr. Schlee p. 108) genannt, soweit man sie nicht auf Säulen, lederüberzogenen Holztafeln u. dgl. zur allgemeinen Kenntnis ausstellte (proponere, proscribere), in den Wohnungen der Würdenträger, also der Könige, Consuln u. s. w. ihren Platz (Cic. p. Sull. 42 quid? deinde quid feci? cum [560] scirem ita esse iudicium relatum in tabulas publicas, ut illae tabulae privata tamen custodia more maiorum continerentur u. s. w.; vgl. Fest. p. 356 s. tablinum und Plin. n. h. XXXV 7 [s. o.]. Liv. III 55, 13 über die senatus consulta. IX 46, 5 civile ius repositum in penetralibus pontificium und über die dies fasti. Dionys. I 74 über die ὑπομνήματα der Censoren; vgl. Mommsen Staatsr. I³ 5. II³ 361). Schon in der Art dieser Aufbewahrung liegt es, dass auch von den öffentlichen Aufzeichnungen, von denen wir aus ältester Zeit erfahren (z. Β. Roms Vertrag mit den Sabinern [Dion. III 33], das Latinerbündnis im Dianatempel auf dem Aventin [Dion. IV 26], der Vertrag mit Gabii im Tempel des Dius Fidius auf lederüberzogenen Holzschilden [Dion. IV 58. Fest. ep. p. 56], mit Karthago im Iuppitertempel [Polyb. III 26], mit den Latinern von 261 = 493 [Cic. p. Balb. 53 u. s.], mit Ardea von 310 = 444 [Liv. IV 7], die Lex Icilia von 298 = 456 im Dianatempel [Dion. X 32]), ausser den öffentlichen Tafeln keine officiellen Abschriften an irgend einer Stelle aufbewahrt wurden. Nur Privataufzeichnungen der beteiligten Magistratspersonen gab es noch darüber, natürlich wohl in verkürzter Form. Die durch Tarquinius gekauften sibyllinischen Bücher wurden, schon des vergänglichen Materials wegen, nach Dion. IV 62 in einer Steintruhe verschlossen und auf dem Capitol unter besonderer Bewachung aufbewahrt, ähnlich die libri lintei magistratuum im Tempel der Moneta (Liv. IV 7. 20), ohne dass diese Orte als A. zu bezeichnen sind. Die primitive Art der Aufbewahrung des meisten Actenmaterials im Privatbesitz der Magistrate bot nur geringe äussere und namentlich innere Sicherheit (Liv. III 55, 13 Institutum etiam ab isdem consulibus [305 = 449], ut senatus consulta in aedem Cereris ad aediles plebis deferrentur, quae antea arbitrio consulum supprimebantur vitiabanturque; vgl. Cic. p. Arch. 9. Dig. I 2, 2, 21 [Pomponius], wo von den neu eingesetzten Aedilen, andererseits von plebiscita [nicht S. C.] die Rede ist, und Zonar. VII 15). Die Verfassungskämpfe machten das Ungenügende des alten Verfahrens besonders fühlbar und drängten nach Abhülfe. Indes war der Cerestempel wohl nur vorübergehend für die S. C. bestimmt (Mommsen St.-R. II³ 473. 476f. 489ff. III 1010f.); später wurden sie jedenfalls im Aerarium des Saturn, dem allgemeinen Staats.-A., aufbewahrt, unter der Leitung der Quaestoren und der Oberaufsicht der Consuln (Liv. XXXIX 4. 8. Jos. ant. XIV 219). Für Documente des internationalen Verkehrs blieben die Tempel und andern öffentlichen Gebäude des Capitols die Stätten der Veröffentlichung (z. Β. Cic. Phil. II 91f. Iul. Obsequ. 128; vgl. Mommsen St.-R. I³ 256f.). Sie gingen alle in den Bränden der früheren Kaiserzeit zu Grunde; Vespasian suchte sie so gut es ging aus zerstreut vorhandenen Abschriften zu erneuern (Suet. Vesp. 8 ipse restitutionem Capitolii adgressus … aerearumque tabularum tria milia, quae simul conflagraverant, restituenda suscepit undique investigatis exemplaribus: instrumentum imperii pulcherrimum ac vetustissimum, quo continebantur paene ab exordio urbis senatus consulta, plebi scita de societate et foedere ac privilegio cuicumque concessis). [561] Als ihr Inhalt werden ausser den auf internationale Verhältnisse bezüglichen Urkunden noch die Privilegien (s. Mommsen St.-R. I³ 256f.) angegeben, denen wohl der grösseren Sicherheit wegen jener bevorzugte Platz angewiesen worden war. Jedenfalls handelte es sich um aereae tabulae, antiquierte oder noch gültige Originale, neben denen an keiner anderen Stelle Roms beglaubigte Abschriften niedergelegt waren; anders als in Athen, so dass Ciceros Klage völlig berechtigt scheint (vgl. auch Plut. Cat. min. 17).

Die Hauptmasse der Urkunden, nämlich die auf die heimische Verwaltung bezüglichen, befand sich im Aerarium des Saturn, das von P. Valerius Publicola gegründet war (Plut. Publ. 12), zwischen Capitol und Forum gelegen. Als tabularium wird es z. B. von Serv. Georg. II 502 (templum Saturni), als φυλακτήριον τῶν συμβολαίων von Plut. qu. rom. 42 bezeichnet; gemeint ist es wohl mit dem tabularium publicum bei Apul. apol. 89. Als seinen Inhalt führt Tac. ann. XIII 28f. im allgemeinen tabulae publicae an; im einzelnen Suet. Iul. 28: Oct. 94 leges, senatus consulta und plebiscita (Liv. XXXIX 4. Joseph. ant. XIV 219, vgl. Cic. de leg. III 10; s. Mommsen Ann. d. Inst. 1858. 181ff.), die Bevölkerungsregister (Hirt. Aug. Gord. tres 4, 8. Apul. apol. 89. Serv. a. O. [ubi] reponebantur acta quae susceptis liberis faciebant parentes); seit 696 = 58 die von Caesar angeordneten Protokolle der Senatsverhandlungen (acta senatus), die später ein besonderer Beamter (curator actorum senatus oder ab actis senatus) abfasste, und die anfangs auch veröffentlicht wurden; ferner die Verwaltungs- und Rechenschaftsberichte der Provincialbehörden (Cic. in Pis. 61; in Verr. I 57. III 183 u. s. w.; vgl. Mommsen St.-R. II³ 545); die Staatshaushaltslisten (Plut. Cat. min. 18), Arbeiterlisten (Frontin. de aq. 96 ohne Angabe des Ortes). Beamtenlisten (CIL I 1971 u. a. m. (Mommsen a. O. 546f.). Wohl wegen der Kostenberechnung waren auch die Namen der Gesandten fremder Staaten im Aerar zu finden (Plut. qu. rom. 43). In der Kaiserzeit traten die plebiscita zurück, die kaiserlichen Erlasse (Edicte, Decrete) dagegen als neuer Bestandteil der A. auf. Gelegentliche Aufbewahrung litterarischer Schriften in den A. möchte man aus Hist. Aug. Tac. 10, 3 schliessen, wäre nicht an der entscheidenden Stelle die Lesart verderbt (Cornelium Tacitum … in omnibus bibliothecis conlocari iussit neve lectorum incuria deperiret, librum … scribi publicitus †euicos archiis iussit et in bybliothecis poni).

Die Aufsicht über das A. im Saturnustempel hatten anfangs (seit 110 = 344) die Censoren (Liv. III 8, 4), später traten für das Hauptarchiv im Aerar andere Beamte in den Vordergrund, vor allem die städtischen Quaestoren (vgl. CIL I Ind. p. 633 nr. 14 und Mommsen St.-R. II³ 545). Für die Senatusconsulte hatten bis 743 = 11 die Tribunen nebst den Aedilen die verantwortliche Aufsicht, erwiesen sich aber nachlässig, indem sie alles den Unterbeamten überliessen (Cass. Dio LIV 36, 1. CIL I 196, 9. 18; s. Mommsen Staatsr. II³ 311. 490f. 560). Sie hatten ursprünglich wohl die plebeischen Interessen bei Abfassung der Senatsbeschlüsse[WS 3] vertreten sollen. Unter den Kaisern ging die cura tabularum publicarum von den Quaestoren auf [562] die Praefecten über (Tac. ann. XIII 28. Hist. Aug. Gord. tres 4, 8. CIL I² p. 74 Fast. XVII [vom J. 80 n. Chr.]; vgl. Mommsen II³ 545, 2). Da Senatsbeschlüsse und vermutlich ebenso andere Satzungen erst durch die ordnungsgemässe Abfassung (relatio) und Einlieferung ins A. (delatio) Gültigkeit erhielten (Mommsen a. O. 489, 2 und III 1010ff.), so ist diese als der Act ihrer Veröffentlichung anzusehen. Nach Mommsen II³ 548. III 1012 wurden die überbrachten Entwürfe im A. vor den Quaestoren bezw. Aedilen in besondere Urkundenbücher eingetragen, doch trat dies für die Kaiserzeit gesicherte Verfahren erst im Laufe der Zeit an Stelle der eigentlichen delatio; Cic. ad Att. XIII 33, 3 reperiet ex eo libro, in quo sunt senatus consulta Cn. Cornelio L. Mummio coss. (608 = 146) bezieht sich wohl auf eine leicht zugängliche Privatpublication, da nicht von tabulae publicae die Rede ist (vgl. Cic. de leg. III 46). Abschriften von Urkunden des Staats.-A.s zu erlangen, kann nicht immer ganz leicht gewesen sein; Cato liess sich für 30000 Denare eine der Staatseinnahmen und -ausgaben seit Sulla anfertigen (Plut. Cat. min. 18). Schon früh wurden in den A. Untersuchungen angestellt und Erörterungen gepflogen (Tac. dial. 39; darauf beruht auch wohl Ciceros Sachkenntnis p. Mil. 59).

Der Cerestempel am Aventin diente neben dem Aerarium Saturni, wie schon erwähnt, zeitweise als Α., unter der Obhut der Tribunen und plebeischen Aedilen, zunächst also den Interessen der Plebejer. Ein anderes Staats-Α. war im Atrium Libertatis nahe am Forum, unter der Obhut der Censoren und zur Aufnahme der auf einen Teil ihrer Amtsgeschäfte bezüglichen Urkunden bestimmt (Liv. XLIII 16, 13; vgl. Mommsen St.-R. II³ 360f.). In der aedes Nympharum auf dem Marsfelde, gleichfalls einem Amtslocal der Censoren, befanden sich die den Census der Bürger betreffenden Tafeln (Cic. p. Mil. 73 eum [Clodium] qui aedem Nympharum incendit ut memoriam publicam recensionis tabulis publicis impressam extingueret u. a. St.; s. Mommsen a. O.). Im Tabularium (oder Sanctuarium) Caesaris befanden sich die Kataster und Normalmasse der Agrimensoren (Hygin. de lim. const. p. 202 Lachm.; vgl. Sicul. Fl. 16). Natürlich hatte eine jede Behörde und religiöse Körperschaft ihr eigenes A. für die sie betreffenden Schriftstücke. Ein tabularium castrense aus Rom wird CIL VI 8529 (vgl. 8518. 8527ff.) erwähnt. IGI 1054 (vgl. 1055) behandelt die kaiserliche Schenkung eines οἴκημα, ὡς τὰ γράμματα ἀποτίθεσθαι τὰ κοινά u. s. w. an den Verband der Athleten zu Rom im J. 134 n. Chr. Zweifelhaft scheint die Überlieferung der Inschrift CIL I 592 vom J. 676–694 = 78–60) über den Bau eines Tabularium nebst Substruction (vgl. nr. 591). S. Jordan Topogr. I 2, 135ff. Von irgend welchen vernichteten Archiven spricht Claudius oder Calidius in Quinct. Gall. bei Non. 208, 27 (quarum iacent murei nec ulla horrea curiaque et tabulariae publicae). Auch die andern Städte des weiten römischen Reiches hatten natürlich ihre Α., z. Β. Heraclea (Cic. p. Arch. 8 hic tu tabulas desideras Heracliensium publicas, quas italico bello incenso tabulario interiisse scimus omnes; die durch den Praetor erfolgte adscriptio ist vorher erwähnt). Auf ein [563] Α. in Pisa ist aus CIL XI 1421, in Caere aus XI 3614 zu schliessen. Ein Tabularium in Castrum novum ist CIL I 1341 erwähnt; tabulae municipi bezw. tabulae communes municipum CIL II 1964 IV 3. 12. V 3; Suppl. 5439; ein tabular(ium) censuale von Tarraco CIL II 4248 u. s. w. Privaturkunden (in späterer Zeit vielfach instrumenta genannt, z. B. Dig. XXXII 92) wurden auch in Rom häufig den Vorständen geheiligter Orte zur Aufbewahrung übergeben, besonders im Tempel der Vesta (z. B. Suet. Iul. 83. Tacit. ann. I 8).

Die römischen Urkunden wurden, soweit sie für die Öffentlichkeit bestimmt waren, auf Holz oder Bronze-, in der Kaiserzeit vorwiegend auf Marmortafeln, auch auf Leinwand (linteae mappae nach Corp. iur. anteiust. ed. Haenel p. 1119) ausgeführt; die Urkunden der A. dagegen in der Regel auf Wachstafeln (daher bei den Juristen cerae für tabulae ceratae; vgl. auch Dirksen Manuale s. cera). Als Surrogate für diese Tafeln erscheinen Leinwand (libri lintei), Elfenbein (für die Senatsbeschlüsse in der Kaiserzeit nach Hist. Aug. Tac. 8, 1f.) und andere dauerhafte Stoffe, ursprünglich aber nicht Charta (vgl. Mommsen a. O. III 1012). Bequemlichkeits- und Raumrücksichten waren es vermutlich, die nach griechischem Vorbild auch in Rom zur Verwendung von Chartarollen für archivalische Zwecke führten; seitdem ist auch von libri neben tabulae publicae die Rede.

Die Anordnung der Urkunden in den A. ergiebt sich aus dem Praescript eines Senatsbeschlusses bei Jos. ant. XIV 219: Δόγμα συγκλήτου ἐκ τοῦ ταμιείου ἀντιγεγραμμένον ἐκ τῶν δέλτων τῶν δημοσίων τῶν ταμιευτικῶν Κοΐντῳ Ῥουτιλίῳ Κοΐντῳ Κορνηλίῳ ταμίαις κατὰ πόλιν δέλτῳ δευτέρᾳ καὶ ἐκ τῶν πρώτων πρώτῃ; vgl. Le Bas 1627. Die Ordnung war also im wesentlichen eine sachlich-chronologische (vgl. Mommsen a. Ο. III 1011f.). Die zusammengehörigen Tafeln waren zusammengebunden (s. das Herm. II 115f. abgebildete Relief). Die Praescripte, zuweilen auch wie bei den Griechen die Postscripte, enthielten die Datierung (vgl. Hor. sat. II 5, 51 ff.), bei Abschriften zugleich den Provenienzvermerk und die Vidimierung (descriptum et recognitum). Vgl. CIL III dipl. mil. p. 844ff.; z. Β. p. 850 descr. et rec. ex tabula aenea quae fixa est Romae in Capitolio ad aram gentis Iuliae de foras podio sinisteriore tab. I pag. II loc. XXXXIIII. Unter den die Aufsicht führenden Beamten wurden die Ordnungsarbeiten in den A. von servi publici (Liv. XLIII 16, 13) und Freigelassenen (apparitores) besorgt. Viatores aedilicii am Aerar zu Rom erwähnt Liv. XXX 39; dort hatten sie ihr Amtslocal (Mommsen St.-R. II³ 490f. 545). Dass sie gegen Ende der Republik schlecht beaufsichtigt waren und sehr willkürlich verfuhren, zeigt u. a. Cic. de leg. III 46 (legum custodiam nullam habemus itaque eae leges sunt, quas apparitores volunt; vgl. in Verr. II 3, 183 vom Ordo scribarum: est vero honestus, quod eorum hominum fidei tabulae publicae periculaque magistratuum committuntur). Der Kaiserzeit gehört der Titel scriniarius an, der im Etym. M. 719, 1 mit νοτάριος ἢ χαρτοφύλαξ erklärt wird. Inschriftlich finden wir a tabulario, tabularii CIL II 485. 486. 3235. 4089. 4181. [564] 4183. 4184; Suppl. 5210 einen adiutor tab. In der Kaiserzeit gab es servi ab instrumentis und ab auctoritatibus im Privatdienst der Kaiser. In noch späterer Zeit handelt im Cod. Iustin. X 71 ein ganzes Kapitel De tabulariis, scribis, logographis et censualibus; vgl. ΧII 7. 19. 50 und Iust. de conf. Dig. 9.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. korrigiert: Ermann
  2. korrigiert: μητρῷῳ
  3. korrigiert: Senatsbeschlüssse