Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Sohn der Antiope und des Zeus
Band I,2 (1894) S. 1944 (IA)–1948 (IA)
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1) Sohn der Antiope (s. d.) und des Zeus.

Sage. Von der älteren Entwicklung der Sage nur vereinzelte Nachrichten erhalten. In den homerischen Gedichten erwähnt erst die Nekyia Od. XI 260ff. A. und Zethos als Zwillingskinder des Zeus und der Antiope und Erbauer der Mauern von Theben. Hesiod weiss bereits von der Mitwirkung der Leier beim Mauerbau (frg. 60 Rz.) und kennt A. als Gemahl der Niobe (frg. 61). Asios (frg. 1 Kink.) scheint den einen der beiden Brüder als Sohn des Epopeus (s. Antiope) anzusehen. Eumelos (frg. 12 Kink.) erzählte vom Mauerbau mit Hülfe der von Hermes geschenkten Leier. Die Minyas (frg. 3 Kink.) führte A. unter den Büssern der Unterwelt zusammen mit Thamyris auf (vgl. Rohde Psyche 284).

Alle früheren Versionen werden aber fast völlig verdrängt durch die Antiope des Euripides, eines der berühmtesten Stücke des Dichters, das, soweit es die Sage erzählt, die ausschliessliche Quelle der Darstellungen in der bildenden Kunst (s. u.) geworden ist, und das durch die Nachdichtung [1945] des Pacuvius (Auct. ad Her. II 43. Cic. de fin. I 2; de or. II 155; de div. II 64; rep. I 30; de inv. I 94; wohl auch Prob. Verg. Ecl. II 25 für Panocus zu lesen [andere Conjecturen vgl. Keil p. 7]; dass auch Ennius eine Antiopa gedichtet hat, wie die Überschrift zu Hyg. fab. 8 behauptet, ist unwahrscheinlich; vgl. Welcker Griech. Trag. II 812. Robert Hermes XVIII 436, 1. Graf Die Antiopesage, Diss. Zürich 1884, 29f.) auch in der römischen Welt populär wurde. Von der Antiope des Euripides ausser zahlreichen Bruchstücken (frg. 179–228 N.; dazu noch der Schluss des Stückes in dem Papyrusfragment aus dem Fayûm, herausgegeben von Mahaffy Royal Irish Acad., Cunningham Memoirs VIII 1) die Hypothesis erhalten bei Hyg. fab. 8. Apollod. III 5, 5. Schol. Apoll. Rh. IV 1090. Der Hergang war bei Euripides folgender (vgl. Welcker Gr. Trag. II 811ff. O. Jahn Arch. Ztg. XI 66ff.; Abweichungen der sonstigen Tradition sind hier in Klammern beigefügt, die Vorgeschichte bis zur Geburt des A. s. unter Antiope): Die zu Epopeus entflohene, von Zeus schwangere Antiope wird von Lykos mit Waffengewalt zurückgeholt; auf dem Wege (schon während der Flucht nach Sekyon, Schol. Apoll. Rh. IV 1090. Hyg. fab. 7) gebiert sie in einer Höhle am Kithairon (bei Eleutherai, Paus. I 38, 9. II 6, 2. Apollod. III 5, 5. Senec. Herc. fur. 920) das Zwillingspaar A. und Zethos (gelten in Sekyon als Sekyonier, Paus. II 10, 4). Die ausgesetzten Kinder werden von einem Hirten (des Oineus, Dion Chrys. XV 447; mehreren Hirten, Hyg. fab. 7) gefunden und aufgezogen. Wirkungsvoller Gegensatz der Charaktere von Euripides erfunden und in erregtem Wechselgespräch (das auch Pacuvius nachbildete) ausgeführt: Zethos, der rauhe Natursohn, ist der Jagd und dem Landleben ergeben, A. tritt als Verfechter der feineren musischen Bildung (diese Auffassung beherrscht die Folgezeit, vgl. z. B. Anspielungen wie Athen. VIII 351 b) auf, wie es scheint noch mehr der Philosophie als der Musik (Auct. ad Her. II 43). Als die Brüder herangewachsen, kommt die von Dirke, Lykos Gemahlin, grausam misshandelte und eingekerkerte Antiope auf der Flucht unerkannt in das Gehöft ihrer Söhne am Kithairon; Zethos weist sie misstrauisch ab. Dirke, als Mainade auf dem Kithairon schwärmend, findet sie wieder und übergiebt sie dem A. und Zethos, die sie an die Hörner eines wilden Stieres binden sollen. Aber noch rechtzeitig erfolgt der ἀναγνωρισμός durch den Hirten, der die Zwillinge aufgezogen, und Dirke erleidet nun das Schicksal, das sie der Feindin zugedacht hatte. Für den Schluss des Stückes ergiebt sich aus dem Papyrusfragment folgendes (z. T. auch in den oben genannten Hypotheseis enthalten): Lykos wird durch einen Vorwand nach dem Kithairon gelockt. Inzwischen beruhigen die Brüder ihre Mutter, die in Furcht vor seiner Rache schwebt. Als Lykos kommt, wollen sie auch ihn töten (sie töten ihn wirklich bei Apollod. III 5, 5. Nik. Damask. frg. 14; Lykos wird in der Schlacht besiegt, Paus. IX 5, 6); da erscheint Hermes, gebietet Einhalt und befiehlt dem Lykos, die Herrschaft an A. abzutreten, die Leiche der Gattin aber zu verbrennen und ihre Gebeine in den Bach zu werfen, der [1946] fortan ihren Namen führen solle (anders Hyg. fab. 7, s. Dirke). Die Brüder heisst Hermes Theben ummauern, und zwar soll A. durch Leierspiel die Steine heranlocken; die dem Zethos aufgetragene Thätigkeit ist aus den Resten noch nicht mit Sicherheit erkannt; vielleicht schon hier die bisher nur bei Späteren (z. B. Apoll. Rh. I 738ff.) nachweisbare Auffassung, dass er Steine zum Bau herbeiträgt.

Das in der Parodie des Eubulos (II 167 Kock) erhaltene Tragikerfragment (Nauck Eur. frg. 225), wonach Zethos König von Theben wird, während A. nach Athen gehen soll, gehört somit nicht in das euripideische Stück. Grob rationalistische Auffassung der Sage bei Kephalion frg. 7 (FHG III 628, vgl. Tzetz. Chil. I 316ff. Bethe Theb. Heldenl. 2, 2).

Die Erzählung der weiteren Schicksale des A. gab Pherekydes im 10. Buch (FHG I 95f.); für den Mauerbau, den bereits Od. XI 264f. als notwendige Massregel bezeichnet hatte, gab er als Grund die Furcht vor den Phlegyern an (Schol. Od. XI 262. Schol. Apoll. Rh. I 735. Eustath. Il. XIII 301 p. 933, 12ff.; Od. XI 259 p. 1682, 44ff.). Die zuerst bei Hesiod (frg. 60 Rz.) vorkommende und später allgemein übliche (Eurip. Antiope; Phoin. 823ff., vgl. 114ff. Horat. Epist. II 3, 394ff. Ovid. met. VI 178. Kaibel Epigr. 1053f. u. s.) Anschauung vom Mauerbau mit Hülfe der Leier hatte er wohl auch (Mauerbau auf Apollons Geheiss, Hyg. fab. 9; die Unterstadt ummauert, Paus. II 6, 4. IX 5, 6; rationalistische Erklärung des Wunders Tzetz. Chil. I 325ff.); an der Besiedelung der Stadt liess er den Lokros teilnehmen (Schol. Od. XI 326); als Gemahlin des A. nannte er Hippomedusa (Schol. Od. XIX 518, vgl. Eustath. z. ders. Stelle. Stark Niobe 368f.), als Tochter Philomache oder Phylomache, die Gemahlin des Pelias (Apollod. I 9, 10. Tzetz. Lyk. 175). Sonst heisst A. Gemahl der Niobe (s. d.), Hesiod. frg. 61 Rz. Pind. frg. 42 Bgk. Paus. II 21, 9f. Hyg. fab. 9. Schol. Od. XIX 518 u. s. Über den Frevel der Niobe und den Tod der Niobiden s. Niobe; über Chloris s. unter Nr. 3. Rationalistisch leitet den Tod der Niobiden aus einem Aufstand der von A. bedrückten Sparten her Timagoras frg. 3 (Schol. Eur. Phoin. 159).

Auch A.s Ende wird durch einen dem der Niobe ähnlichen Frevel motiviert; entweder hatte er gleich seiner Gattin Leto geschmäht (Paus. IX 5, 8) oder nach dem Tode der Kinder den Tempel des Apollon zu stürmen versucht (Hyg. fab. 9). Seine Strafe ist der Tod (durch Pest, Paus.; durch die Pfeile des Apollon, Hyg.; durch Selbstmord, Ovid. met. VI 271) oder Wahnsinn (Lukian. de salt. 41); Busse im Hades, Minyas frg. 3 Kink.

A. und Zethos wurden schon im Altertume seit Euripides (Schluss d. Antiope; Herakles 29. Pherekyd. Schol. Od. XIX 518. Hesych. s. Διόσκουροι. Malal. 234, 17) als boiotische Parallelgestalten der Dioskuren angesehen, vielleicht mit Recht (Stark Niobe 366f.); ihre Thätigkeit beim Mauerbau ward erst in späterer Zeit auch auf andere Orte übertragen: Encheleia (Kephalion FHG III 628; die Ἐγχελεῖς schon Diod. XIX 53); Eutresis (Steph. Byz. s. v., danach Eust. Il. II [1947] 502 p. 268, 4ff.; bereits Strab. IX 411 kennt es als den Ort, wo die Zwillinge aufwachsen); später noch Dyrrachion (vgl. Unger Parad. Theb. 49ff.). Besonders gefeiert war die musikalische Bedeutung des A. (vgl. im allgemeinen Kalkmann Pausanias 255); nach der alten Sage hatte er die Leier von Hermes erhalten (Eumelos frg. 12 Kink., so auch Eurip., Alex. Aitol. 6. Prob. Verg. Ecl. II 25. Hor. Od. III 11, 1f. u. s.), dem er zuerst einen Altar errichtet hatte (Myro b. Paus. IX 5, 6. Prob. a. a. O.); Varianten: A. erhält die Leier von Apollon (Dioskorides Schol. Apoll. Rh. I 740. Eustath. Od. XI 259 p. 1682, 44ff.), den Musen (Pherekyd. Schol. Il. XIII 302. Schol. Apoll. Rh. I 740. Armenidas FHG IV 339) oder Zeus selbst (Eustath. Od. XI 259). Die Macht der Leier lockt auch die Tiere (Analogiebildung zur Orpheussage, Eumel. frg. 12 Kink. Verg. Ecl. II 23f., dazu Prob.). Als musikalischer Erfinder wird A. mehrfach genannt: er erfindet die Leier (Plin. n. h. VII 204; nur vier neue Saiten derselben zu den vorhandenen drei, Paus. IX 5, 6) oder die Musik überhaupt (Plin. a. a. O.) oder die lydische Harmonie (Pind. frg. 42 Bgk. Plin. a. a. O.; er lernt sie von den Lydern, Paus. IX 5, 6) oder die Kitharodie (Plin. a. a. O. Herakleid. b. [Plut.] de mus. III 2). Schliesslich wird er gar zum Zauberer (Paus. VI 20, 18, vielleicht aus Apion; vgl. jedoch Kalkmann Paus. 22).

Chronologisch wird A. von der historisierenden Logographie verschieden angesetzt. Pherekydes (Schol. Od. XI 262) setzte ihn vor Kadmos, während man ihn später allgemein entweder unmittelbar (Diod. XIX 53) oder bald nach Kadmos (Paus. II 6, 1ff. IX 5, 6) einreihte. Euseb. Chron. II 36 Schöne setzt ihn in das Jahr Abrahams 602.

Localisiert erscheint A. nur in Theben (vgl. jedoch Nr. 3). Dort zeigte man das gemeinsame Grab des A. und Zethos vor den Βόρραιαι πύλαι (Paus. IX 17, 4; das Grab nach A. allein genannt, Aisch. Sieb. 528. Eurip. Hipp. 663; nach Zethos allein Eur. Phoin. 145. [Arist.] Pepl. 41); dort vor den Προιτίδες πύλαι die πυρά (Paus. IX 17, 2) und das Grab (Paus. IX 16, 7; vgl. jedoch Aristod. frg. 3 = Schol. Eur. Phoin. 159. Stark Niobe 380) seiner Kinder; dort noch Quadern, die vom Mauerbau des A. herrühren sollten (Paus. IX 17, 7); ein Hügel gegenüber der Kadmeia hiess Ampheion (Xenoph. Hell. V 4, 8. Arrian. Anab. I 8, 6; vgl. E. Fabricius Theben 19. 31, der wohl mit Unrecht einen Zusammenhang des Namens mit A. ablehnt). Das gemeinsame Grab des A. und Zethos in Tithorea bei Steph. Byz. s. Τιθοραία beruht wohl auf einem Missverständnis seiner Quelle, wahrscheinlich des Alexander Polyhistor (vgl. J. Geffcken De Steph. Byz., Diss. Gotting. 1886, 56ff.), da der in den Φωκικά ebenfalls aus Alexander Polyhistor schöpfende Pausanias (vgl. E. Maass De Sibyll. ind., Diss. Gryph. 1879, 21. 66) dort ausdrücklich nur ein Grab der Antiope und des Phokos kennt (X 32, 10. IX 17, 4f.).

Darstellungen. Gespräch der Brüder, Relief im Pal. Spada (Matz-Duhn 3565. Helbig Führer II 941, abg. Schreiber D. hellenist. Reliefb. Taf. V). Zusammen mit der Mutter auf etr. Spiegel (Gerhard 219, der eine falsche [1948] Deutung giebt). Bestrafung der Dirke, häufig in Kunstwerken jeder Art dargestellt; älteste Darstellung rf. apul. Krater, Berlin 3296; berühmteste Composition der farnesische Stier des Apollonios und Tauriskos (s. d.), auf zahlreichen Münzen und Gemmen wiederholt. Ausserdem ein Relief am Tempel der Apollonis zu Kyzikos (Anth. Pal. III 7) und eine Reihe von Wandgemälden; Verzeichnis der Darstellungen bei O. Jahn Arch. Ztg. XI 82ff. K. Dilthey Arch. Ztg. XXXVI 43ff. Mauerbau auf fingierten Kunstwerken, Philostr. imag. I 10. Nonn. Dion. XXV 415ff. A. erscheint gepanzert beim Tod der Niobiden auf einigen Sarkophagreliefs, Stark Niobe 187ff. 192 (gewöhnlich durch den Paidagogen ersetzt). Die Inschriften Amphion Antiopa Zetus des pariser Orpheusreliefs sind modern, vgl. Zoega bei Welcker A. D. II 319.