Textdaten
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Titel: Problematische Existenzen
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[703] Problematische Existenzen. Berlin hat wie jede andere große Stadt gewisse problematische Existenzen, Menschen, deren Dasein für alle Nichteingeweihte ein verborgenes sociales Räthsel bleibt. Wir sehen eine Menge von Männern und Frauen, welche durchaus kein bestimmtes Gewerbe, kein sichtbares Geschäft treiben und doch in Lust und Freuden leben; von ihnen gilt der Spruch des Evangeliums von den Lilien des Feldes, daß sie weder säen noch spinnen und doch dastehen in Pracht und Herrlichkeit, wenn sie auch sonst mit den Lilien wenig oder nichts gemein haben. Wir wollen auf gut Glück einige dieser dunklen Existenzen herausgreifen und das Räthsel ihres Daseins zu lösen suchen.

Vor uns erscheint ein junger Mann in höchst eleganter Toilette; er läßt sich nur in den feinsten und gesuchtesten Restaurationen sehen, wo er die Bekanntschaft junger Officiere und Cavaliere sucht, die sich merkwürdiger Weise zu unserem Freunde hingezogen fühlen. Bald ist er der Vertraute ihrer kleinen und großen Abenteuer, er kennt ihre Verhältnisse auf das Genaueste, ihre Aussichten, Hoffnungen und Verlegenheiten, den Stand ihrer Finanzen und besonders ihrer Schulden. Mit anscheinender Uneigennützigkeit bietet er ihnen seine Dienste an, welche auch gern angenommen werden. Wenn es ihnen an Geld fehlt, so kennt er einen Geschäftsmann, einen gefälligen, liebenswürdigen Herrn, der sich ein Vergnügen daraus macht, gegen einen mäßigen Zinsfuß seinen Freunden zu helfen. Das Anerbieten wird natürlich mit dem größten Dank acceptirt, ein Wechsel ausgestellt, der gewöhnlich am Verfalltage nicht eingelöst werden kann. Durch die Vermittelung des jungen, liebenswürdigen Mannes wird der Wechsel gegen eine entsprechende Entschädigung prolongirt und, da der Schuldner zum zweiten Mal noch weniger die anwachsende Summe zahlen kann, von neuem unter den früheren oder noch lästigeren Bedingungen verlängert, bis endlich der gefällige Gläubiger die Geduld verliert und mit der Strenge des Gesetzes droht. Zu spät erkennt der junge Officier oder Baron, in welche Hände er gefallen ist; er hat sein Ehrenwort gegeben, und wenn er nicht den Abschied nehmen will, bleibt ihm nichts übrig als sich seinen Angehörigen zu entdecken, welche meist mit schweren Opfern und oft um den dreifachen Preis den verfallenen Wechsel einlösen müssen. Unser Freund, dessen problematische Existenz die Welt sich nicht zu erklären vermag, ist der Lockvogel eines oder mehrerer Wucherer von Profession, die ihn unterhalten, elegant kleiden und mit dem nöthigen Taschengelde versehen, um die Rolle eines vollkommenen Gentlemans im Kreise seiner aristokratischen Bekannten und Freunde zu spielen.

Nicht minder räthselhaft ist das Dasein eines andern jungen Mannes, der den ganzen Tag in Lesecabinets und Kaffeehäusern zubringt, wo er emsig die Zeitungen studirt und sich öfters kleine Notizen in seine von schöner Hand gestickte Brieftasche macht. Seinem Aeußeren und seinem Betragen nach wäre man versucht, ihn für einen Gelehrten oder angehenden Schriftsteller zu halten, obgleich er für keine irgend namhafte Zeitung schreibt. Häufig sieht man ihn in Gesellschaft dieses oder jenes berühmten Künstlers, Schauspielers oder Sängers, mit denen er auf einem freundschaftlichen Fuße steht. Auch die Damen der Oper und des Ballets empfangen ihn mit größter Zuvorkommenheit und Rücksicht, obgleich er, wie bekannt, mit der Kritik nichts zu schaffen hat. Er macht verhältnißmäßig einen bedeutenden Aufwand und erscheint Abend für Abend im Theater, und zwar gewöhnlich in den theueren Prosceniumslogen. Nie wird er bei einem Debut, bei einer ersten Aufführung oder bei einem Benefiz fehlen. Er ist ein großer Enthusiast und verschwendet große Summen auf Blumen und Kränze, die er bei solchen Gelegenheiten den Künstlern zuwirft. Gewöhnlich giebt er auch mit seinen in die feinsten Glacéhandschube gekleideten Händen das Zeichen zum Applaus, ohne daß es dem Publicum einfällt, den feinen, jungen Mann in der Prosceniumsloge für einen gewöhnlichen Claqueur zu halten. Vergehens fragt man, woher er die Mittel zu einem so kostspieligen Leben nimmt, da er kein Vermögen besitzt und notorisch kein Geld bei seiner Lebensweise erwerben kann. Dieses Räthsel löst sich, wenn wir erfahren, daß der uneigennützige Theaterfreund auf Kosten eines oder mehrerer Künstler lebt, für die er in jeder möglichen Weise Reclame macht, indem er ihre selbstgeschriebenen Kritiken in die betreffenden Journale bringt, ihre selbstgekauften Blumen und Kränze ihnen zuwirft, kurz Alles das für sie thut, was sie selbst nicht thun können, mit einem Worte ihre lebendige Reclame ist.

Ueberhaupt ist das Theater und Alles, was damit zusammenhängt, ein höchst fruchtbarer Boden für die problematischen Existenzen, besonders für die gewöhnliche Claque, welche in Berlin zwar noch nicht die Höhe und Ausbildung der Pariser Claque erreicht hat, aber doch ihren Mann [704] nährt und mit dem besten Erfolge betrieben wird. Wer kennt hier nicht den kleinen Herrn mit den orientalischen Zügen, der jeden Abend das Theater besucht und von dessen Fäusten oft das Geschick eines Dichters oder Künstlers abhängt? Wie der kleine David mit seiner Schleuder den Riesen Goliath, so hat der kleine Beherrscher der Berliner Claque schon manchen großen Schauspieler todt geschlagen, obgleich er nichts weniger als ein blutdürstiger Wütherich ist und mit den Schwachen Mitleid hat.

Geht man an einem Tage, wo ein beliebtes Stück gegeben wird oder ein renommirter Künstler auftritt, an der Theatercasse vorüber, so lernt man gleich einen ganzen Schwarm solcher problematischer Existenzen kennen. Jüngere und ältere Männer von zweifelhaftem Aeußeren stehen und warten auf dem Flur mit wahrhaft rührender Geduld, die nicht allein aus ihrer Kunstliebe zu entspringen scheint, oft bei der härtesten Kälte, bis das Fenster geöffnet wird und das bekannte Gesicht des Cassirers sichtbar wird. Schnell drängen sie sich heran und fordern für mehrere Thaler, die sie aus ihrem abgegriffenen schmutzigen Portemonnaie hervorziehen, Theaterbillete, mit denen sie schleunigst davoneilen. Abends kann man dieselben Kunstliebhaber in der Nähe des Theaters sehen, wo sie eine förmliche Börse eröffnen und die zu den gewöhnlichen Preisen gekauften Billete oft um das Doppelte und Dreifache zum Verkauf anbieten. Wie einträglich das Geschäft sein muß, geht daraus hervor, daß diese Leute den von der Polizei verbotenen Handel immer wieder fortsetzen, trotzdem die Strafe im Wiederholungsfalle 50 Thaler oder entsprechendes Gefängniß beträgt. Aber nicht immer glückt die Speculation, auch diese Börse ist, wie jede andere, großen Schwankungen unterworfen, und zuweilen sieht sich der arme Billethändler genöthigt, seine Waare unter pari loszuschlagen und mit bedeutendem Verluste abzugeben. Dennoch soll auch dieses Geschäft so mancher dunklen Existenz nicht nur das Leben reichlich fristen, sondern noch ganz ansehnliche Ueberschüsse abwerfen.