Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am Sonntag Sexagesimä 1837

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Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am Sonntag Estomihi 1836 »
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Am Sonntag Sexagesimä.
(Merkendorf 1837.)


Röm. 8, 31–34. Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Welcher auch Seines eigenen Sohnes nicht hat verschonet, sondern hat Ihn für uns alle dahingegeben; wie sollte er uns mit Ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes, und vertritt uns.

 Wenn einer die Erde bloß im Sommer sähe und wollte sie danach beurteilen, so würde er ohne Zweifel ein falsches Urteil fällen; wer sie richtig beurteilen will, muß auch ihren Winter gesehen haben. Ebenso ist’s auch mit einer Gemeinde; in der Kirche hier sitzen die Leute so nahe und stille beisammen, daß man denken sollte, es wäre der tiefste Friede unter ihnen; wer aber daraus schließen wollte, diese stille Gemeinde bestehe wirklich aus lauter Kindern des Friedens, der würde sehr irren. Man muß eine Gemeinde, um sie recht kennen zu lernen, nicht bloß in der Kirche, sondern im täglichen Leben betrachten; in der Kirche ist sie eine schöne Frühlingsgegend mit einem heitern Himmelsbogen darüber; im täglichen Leben ist sie ein Land voll Sturmes und winterlichen Streites der Elemente, kotig und schlüpfrig. Wenn man nun das bedenkt, so wird man traurig! Je menschenfreundlicher ein Herz ist, desto wehmütiger wird es bei Betrachtung des allgemeinen Unfriedens! Wie viel Streit, wie viel Hader, wie viel Prozesse, wie viele Gerichtstage, welch eine Notwendigkeit in den Gerichten, welch ein Zuströmen der Leute zum Gerichte: alle haben etwas zu klagen, zu verantworten,| bei allen ist etwas zu schlichten, alle haben also Streit und um was? Um Kleinigkeiten, so daß mehr verstritten als gewonnen wird! Und wird Frieden, wenn der Prozeß aus ist? Ach nein, der Groll und Grimm dringt nur noch tiefer in die Seele, sie werden niemals wieder Freunde, sie sind nach dem Streite ärgere Feinde als vor demselben, und gehen Gottes Gericht entgegen mit unversöhntem Herzen, also ohne Vergebung, also sie fallen in die Hände des lebendigen Gottes, und von denen steht geschrieben: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes fallen!“

 Woher kommt es denn nun, daß es so viele ungerechte Streite giebt (denn daß im Frieden Gottes hie und da ein Streit geführt werden müsse, leugne ich nicht)? Darauf antworte ich euch einfach: „Wenn die Menschen wüßten, was im Himmel für ein gefährlicher Prozeß unsertwegen geführt wird, so würden sie die irdischen Prozesse gerne liegen lassen, bis sie den Himmel gewonnen hätten, und wenn sie den gewonnen, so würden sie keinen irdischen mehr führen mögen, es wäre denn einer, der nach Gottes Wort geführt werden muß, also auch im Frieden Gottes geführt werden kann.“ Weil ihr mich aber wegen des himmlischen Prozesses nicht verstehen werdet, so will ich euch heute von diesem himmlischen Prozesse predigen, welcher ohnehin das Wichtigste ist, wovon man predigen kann. Dabei will ich immer meine Behauptung im Auge behalten, daß, wer weiß, wie viel er dort verlieren kann, das Irdische beiseite setzt, bis er den himmlischen gewonnen hätte, und daß, wenn er den gewonnen hätte, keinen irdischen mehr führen wollte.




 Zu einem Prozeß gehört:


I.
 Ein Gericht, wo nach strengen Vorschriften des Gesetzes entschieden wird, und die Prozesse geschlichtet. Ein solches Gericht ist auch im Himmel; dort liegen zu Grunde die ewigen Gesetze der zwei Tafeln, und worüber abgeurteilt wird, das ist Leben und Tod. Geh nicht ins Gericht mit Deinem Knecht, denn vor Dir ist kein Lebendiger gerecht (Ps. 143, 2). In| menschlichen Gerichten kann man nur irdische Güter verlieren, in jenem Gerichte kann man ewige Güter verlieren, man hat nur eine Seele, die kann man in jenem Gerichte verlieren, was hilft’s aber dem Menschen, daß er die ganze Welt gewönne, wenn er Schaden nähme an seiner Seele? Wenn die Leute darum wüßten, was das heißt: „seine Seele verlieren,“ wenn sie recht bedächten, was auf dem Spiele steht, und wenn sie einen Blick thun könnten in die Verdammnis und ihre Qualen, so würden sie fürs erste ihre irdischen Streitigkeiten aufgeben und nur sehen, wie sie jenem Gerichte entrännen! Wären sie aber in dem Prozeß einmal im Vorteil, so läge ihnen an irdischen Streitigkeiten nichts mehr, wenigstens würden sie von Streitsucht etc. nichts mehr wissen.


II.
 Zu einem Prozeß ist ferner ein Richter nötig. Wo kein Richter ist, würde der Prozeß ewig dauern, kein Prozeß, sondern ein Krieg sein. In dem Prozeß aber, in welchem man Leib und Seele verspielen kann, ist Gott Richter. Denn 1. Mos. 18, 25 steht schon, daß Gott aller Welt Richter ist. Bedenke, Seele, vor wem also deine Seelenangelegenheit geführt wird! Wache auf, denke nicht, es habe keine Not mit dir, weil du genug zu essen und Übriges in deiner Kasse hast! In der Sicherheit dieser Welt lässest du dir freilich nicht träumen, wie schlimm es mit dir steht! Du lachst, schläfst, issest, während dir schon der Prozeß in der Ewigkeit auf Leib und Seele gemacht ist, während schon ein Richter deinetwegen nachsinnt, der sich nicht bestechen läßt, der nicht so viele Vorurteile und Launen von Gunst und Ungunst hat wie du, der über dich nicht so verblendet ist, wie du selbst über deinen Seelenzustand bist, der nicht, wie du, die meisten deiner Sünden schon wieder vergessen hat, der nicht, wie du, dich entschuldigt, nein, ER sieht das Herz an, ER leuchtet mit Seinem Flammenauge bis in die Tiefe der Seele, bis in deine fernste Vergangenheit, bis in die erste Entwicklungszeit deines Lebens, ER kennt deine erste Sünde und deine geheimste! ER wägt sie nach Gerechtigkeit ab, der allwissende,| allgegenwärtige, der schreckliche Gott! Ehe du mit dem im reinen bist, solltest du alles andere aufgeben und liegen lassen! Ehe du Seinem Gerichte entnommen bist, solltest du jedes andere Gericht nicht achten! Bist du aber einmal mit ihm im Frieden, nun dann, dann bist du mit dem Allmächtigen im Frieden, und wer will dann wider dich sein?


III.

 Zu einem Prozesse gehört ferner ein Beklagter. Nun aber steht Röm. 3, 19, daß alle Welt Gott schuldig sei. Demnach ist alle Welt bei Gott verklagt, daß sie Ihm schuldig sei, und es handelt sich um Zahlung gemachter Sündenschulden! Ist aber alle Welt bei Gott verklagt, so bist du auch verklagt; denn auch du bist ein Teil der Welt, wie jeder Mensch. Und meinst du nun, du seist Gott nur wenig schuldig? deine Sünden beliefen sich nicht hoch hinauf? Meinst du, mit dir habe es keine Not? Leichtsinniger, wisse, daß wenn von allen Klagen, welche wider dich bei Gott angebracht sind, nur eine wahr ist, wenn du nur in einem Stücke schuldig befunden bist, so bist du ein Kind des Verderbens! Eine Sünde reicht hin, deinem Wesen ein Ende zu machen, dich ins tiefste Elend zu stürzen! Eine Sünde ist mächtig genug, dich zu verderben; Mensch, du bist, wenn du nur eine einzige Sünde gethan hast, hart verklagt bei dem allerersten Richter, welcher um einer gering scheinenden Sünde Adams willen das ganze Geschlecht der Menschheit dem Tode zusprach. Bebe! und


IV.
 bebe noch mehr, wenn du überlegst, wer deine Kläger und wie viel sie sind. Denn ein Kläger wenigstens gehört zu einem Prozesse: wie viele aber sind deiner Ankläger, Unglückseliger?! Joh. 5, 45 steht: „es ist einer, der euch verklagt, Moses!“ Weißt du, was das zu bedeuten hat? Moses? Moses ist der Repräsentant des Gesetzes! Das Gesetz hat zehn Gebote! In jedes Gebot eingeschlossen sind viele kleinere Gebote! Diese alle, dieser Moses, sein Gesetz, die Gebote des Gesetzes, alle Gebote, die wieder in den Geboten| sind, klagen dich an, daß du des Todes schuldig seiest! Jedes Gebot ist ein wider dich stehender heiliger und unsträflicher, in Gottes Gerichte geltender Kläger! Jedes Gebot weist auf deine Sünden, jedes auf andere, Jahr, Tag, Stunde, Minute der Sünde kommt in der Klage genau vor! Jedes Gebot ist ein Kläger wider dich! Ja, nicht bloß die Gebote, auch die Sünde, wird sie begangen, schreien wider dich! Deine Sünden verklagen dich, wie das Dasein unehelicher Kinder ihre Eltern verklagen! Deine Sünden schreien wider dich, schreien zudem laut, unablässig Klagen des Gesetzes, Amen! und zwischen hinein tönet unablässig des Teufels Klagegebrüll, der von Gottes Gerechtigkeit fordert, daß deine Sünden an dir gestraft werden, wie die seine an ihm; denn darum heißt er Offb. 12, 10 ein Verkläger der Menschen bei Tag und Nacht. Denk also an Mosen, an Gottes Gebote, an deine Sünden, an den Richter deiner Sünden, an Sein strenges Auge; stelle dir’s vor, wie du angeklagt bist, und sage dann, ob dir irgend etwas nötiger ist, als nur getrost alles andere liegen lassen und eilen, daß jener Prozeß im Himmel geendet werde! Denn dort ist ewiger Schade das, um was es sich handelt! Dort ist große Gefahr! Eile, errette deine Seele! Ist sie errettet, dann kannst du immer wieder auf Erden prozessieren um dein irdisches Gut, wenn du willst; es ist aber kein Fall noch vorgekommen, daß, wer in jenem Prozeß gewonnen, ferner in irdischen Dingen prozeßsüchtig war!


V.
 Zu einem Prozesse gehört auch ein Zeuge. Der Zeuge in jenem Gerichte und Prozesse ist nicht ferne von dir, in einer und derselben Stadt mit dir, in einem Hause, in einer Stube, in einem Leibe! Du selbst bist der Zeuge, dein Gewissen ist es, dein Gewissen wird wider dich zeugen! Dein Gewissen wird unter deinem Heulen dich helfen richten und in die Stimme deiner Kläger, die da ist wie vieler Donner, wird dein Gewissen klagen und heulen, schreien: Berge bedecket uns, und ihr Hügel fallt über uns (Offb. 6, 16). Denn Röm. 2, 15 steht: „ihr Gewissen bezeuget sie.“ Wohl| singt man nach falscher Lehre im Grabgesang: „Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst gelebt zu haben. Nur ein Herz etc.“ Aber wo ist unter allen Toten der, dem sein Gewissen über sein Leben im Sterben nicht geschlagen hätte, oder wem hat es nicht geschlagen, und ist nicht hinter dem Tode mit ewigen und unaufhörlichen Schlägen aufgewacht? Wo ist der Mensch, der keinen Kläger für seine Werke zu fürchten hätte? wo der Mensch, welcher den Richter und sein Gericht leicht nehmen könnte ohne ewigen Schaden? Keinem Menschen giebt sein Gewissen ein gutes Zeugnis! Wer sich das einbildet, kennt sich nicht, ist verblendet, der Stolz hat sein Auge verblendet! Es giebt schlafende Gewissen, die zeugen nicht, die lassen dem Menschen den Wahn, als sprächen sie für ihn! Aber das sind schlechte Gewissen, die wachen am Ende und nach dem Tode auf und versäumen, was sie hier verschlafen! Aber dann ist keine Rettung mehr, sondern das Gewissen zeugt alsdann zum Verderben! Ach, schon hier, mein Gott, zeugt mein Gewissen mit meinen Klägern: Nicht ich habe recht, sondern meine Kläger vor dir! Ich fürchte mich vor dir, o du Richter der Welt! Alle Streitigkeiten mögen ein Ende haben, ehe deine armen Geschöpfe in diesem Gerichte gewonnen sind und dann mögen sie überhaupt keine Streitigkeiten mehr.


VI.
 Ach, wer das erkennt, was wir bisher gesagt, wer es auf Wahrheit anerkennt, wie sollte der so froh sein, wenn er nun ferner hört, daß sich doch ein Advokat findet, der sich, während wir hier auf Erden leichtsinnig schlafen und träumen, unserer Sache bei Gott annimmt und uns bei Gott vertritt. Zu einem Prozeß gehört ein Advokat, und nun, Gott Lob und Dank! wir haben einen Advokaten, einen Mittler zwischen uns und Gott, nur einen, aber doch einen! Es ist ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch JEsus Christus! (1. Tim. 2, 5). Ja, Halleluja! So jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, JEsum Christum, den Gerechten! (1. Joh. 2, 1.) Wir auf Erden freilich wissen nicht einmal, daß Streit zwischen uns| und Gott ist, denn unser Gewissen wird übertäubt mit vielen Sünden, daß es nicht mehr zeuget; wir thun, als wäre nichts zu fürchten, wir lassen es darauf ankommen, wir würden verderben ganz und gar, wenn es auf uns ankäme, wir thäten keinen Schritt, den Prozeß bei dem Richter aller Welt zu gewinnen, wie die Narren gingen wir der Hölle entgegen und ließen uns träumen, was uns bevorstehe, sei das Paradies! Indessen schreien die Kläger laut, ihre Klagen sind gewichtig, unser Gewissen ist zwar stille, aber oft zeugt es doch, oft redet es doch, und Gott hört es, auch wenn wir es nicht hören; das Auge des Richters rollt, auf seinen Lippen schwebt schon das Urteil, da tritt einer hervor, ein Engel aus Tausenden, und viele Kronen der Ehre sind auf Seinem Haupte, vor Ihm schweigt der Kläger. ER hat einen Namen über alle Namen, in Seinem Namen beugen sich alle Knie, bei Seinem Auftreten lächelt das Auge des Richters wieder, und das Urteil zögert! Der ewige Fürsprecher, unser teurer Anwalt, JEsus Christus stellt sich dar als Mittler, als Bürgen, ER will unsere Sache vertreten! ER fängt an für uns zu bitten und zu sprechen! Er bittet für die, welche zerbrochenes Gemüt haben, ER bittet für die, die ihn nicht kennen!

ER vergißt ja auch der Armen,
Die der Welt noch dienen, nicht,
Weil Sein Herz Ihm vor Erbarmen
Über ihrem Elend bricht.
Daß Sein Vater ihrer schone,
Daß ER nicht nach Werken lohne,
Daß ER andre ihren Sinn –
Ach, da zielt Sein Bitten hin!


VII.
 Aber, sprichst du, kann ER die Sünde ungeschehen machen? kann ER das Gesetz ausmerzen? kann ER’s vergessen machen? kann Er’s dahin bringen, daß es ist, als wäre kein Gesetz gegeben? kann ER unsere Sünden aus dem Gedächtnis Gottes auslöschen? kann ER Gottes Wort ändern? Bleiben wir nicht immer Sünder vor Gott? Wenn aber das, müssen wir dann nicht gestraft werden? kann uns der gerechte Gott ungestraft| lassen? Wohl euch, liebe Brüder, wenn ihr so fraget! Wohl euch! Wisset aber: ER, der ewige Fürsprecher, kann zwar die Sünde nicht ungeschehen machen: aber ihre Strafe trug ER an unsrer Statt, und wird sie ins Meer der ewigen Verdammnis niedergedrückt haben, aber Ihn vermag sie nicht zu erdrücken, er stirbt an ihr, aber Er steht auch wieder auf! Er kann zwar die Gesetze nicht ausmerzen, kann sie nicht vergessen machen! Aber Er erfüllte sie an unserer Statt! Er kann die Sünden nicht ungeschehen machen, aber er macht ihre Strafe zu Nichte! Er kann sie aus Gottes Gedächtnis nicht auslöschen, aber ER schreibt Sein Leiden, Sein Sterben daneben in Gottes Gedächtnis, und das ist überwiegend! Er kann Gottes Wort nicht ändern, denn ER ist gerecht; aber er thut der Gerechtigkeit Gottes genug! Er kann uns, da wir Sünder sind, nicht zu jener Unschuld bringen, welche Adam im Paradies gehabt hat, aber ER wollte den Sündern Vergebung verschaffen! ER kann ihnen das Andenken und das Gewissen ihrer Schuld nicht nehmen, aber ER schafft Frieden dadurch, daß ER die Angst der Sünden und die Gewißheit Seines Verdienstes in ihr Herz legt! ER bittet vor Gott nicht leer, nicht mit leeren Händen tritt ER vor Gott auf uns zu vertreten: nein, ER kommt und Seine Wunden, die Zeichen Seiner Leiden und Seiner Aufopferung für uns strahlen, Sein Leib, der untrügliche Beweis Seiner Macht und Seiner Gesetzeserfüllung glänzender Zeuge leuchtet. Vater, spricht ER, Richter der Welt: ich bitte für die Menschen um meiner Todeswunden, um meines Leidens, meines Sterbens, meines Versöhnens willen! Vater, ich habe alles für die elenden, verlorenen Schafe gebüßt, deshalb wirst du sie nicht büßen lassen! Ich habe alle Gerechtigkeit für sie erfüllt, von ihnen also verlange es nicht mehr! Ich habe alles gezahlt, was sie schuldig sind, Vater, so müssen sie auch frei sein! Vater, diese Kläger gelten nichts mehr: Deine Gebote sind erfüllt, Deine Gerechtigkeit ist versühnt, der Satan hat keine Macht mehr über sie! Ich habe sie erlöset, in meine Hände habe ich sie gezeichnet, sie sind mein! So spricht ER, und alle Klagen verschwinden! Einen solchen Fürsprecher haben wir!


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VIII.

 Nun hat sich der Prozeß zum Guten gewendet, und zu einer gnädigen Sentenz, zu einem gnädigen Urteilsspruch fehlt es nur an einem! Nämlich Gott der HErr kann in jenem Gerichte eben nach der Fürsprache Seines Sohnes noch sagen: „Wohl, mein Sohn! Du kannst keine Fehlbitte thun, Du hast eine ewige Erlösung funden, Du bist ein Heiland aller Menschen, Du hast für alle genug gethan; aber Du weißt auch, daß von Ewigkeit her Gottes Rat also gestaltet war, daß Dein Versühnen groß genug für alle Menschen sein sollte, aber nur denen wirklich zu gute kommen sollte, welche anerkennen, daß sie ohne Dich diesen Prozeß verloren hätten, daß nur Du ihn ausgefochten, nur Du sie errettet habest, welche in herzlichem Glauben all ihr Vertrauen nicht mehr auf die satanische Thorheit eigener Gerechtigkeit, sondern auf Dich allein setzen, Dir alle Ehre geben und für sich alles, was Du ihnen erworben und erbeten, nur als Gnade annehmen. Allen denen, die auf Dich ihr Vertrauen setzen, soll ein gnädiger Spruch geschehen, aber wer das nicht will, wer sich selbst helfen, wer nicht an Dir allein hangen, wer einen andern Weg einschlagen will, als über Golgatha, als über Dein Leiden und Sterben, der sei verloren und erprobe in der Hölle, was Du gelitten, wie schwer Gott über die Menschen zürne, wie schwer Seine Hand über sie komme!“ So ist Gottes Rat! Darum wird nun allen dieser Rat verkündigt, von demselben keiner ausgeschlossen, keinem Menschen ein anderer Ausweg gelassen; allen wird eine Thür aufgethan und gesprochen: „Also hat Gott die Welt geliebt etc.“ Wer nun glaubt, dem wird in dem Augenblicke dieses Glaubens die Sünde erlassen, die Strafe erlassen, die Gerechtigkeit Christi zugerechnet, das Gewissen gestillt, die ewige Beilage geschenkt, mit einem Worte: er ist gerechtfertigt, er ist freigesprochen, er hat den Prozeß gewonnen, seine Kläger haben verlorenes Spiel, und er geht mit seinem Anwalt, mit Christo in demütigem Triumph zu Seinem Vater und zu unserm Vater, und ist aus einem Feinde Gottes ein Kind Gottes geworden!




|  Meine lieben Brüder! Dies ist die Hauptlehre der evangelischen Kirche und ihr Unterschied von der katholischen, daß im Gerichte Gottes der Mensch nur darum gewinne, daß Christus für ihn eintritt mit Seinem Verdienste und ihn vertritt! Und diese Rechtfertigung Gottes um Christi willen ist das größte Kleinod, welches ein Mensch empfangen kann, denn bei ihr empfängt er Christum und alles das Seinige zum Eigentum. Wer diese Rechtfertigung aus Glauben noch nicht hat, ist ärmer als arm, und wenn er reich wäre, wie Salomo, so ist er doch arm, jämmerlich, blind und bloß! Ohne diese Rechtfertigung, die ein jeder in seinem Leben erfahren kann und soll, hat man höchstens einen falschen Weltfrieden in seinem Herzen, aber keinen Frieden Gottes! Ohne sie kann man nicht im Frieden leben und nicht selig sterben! Ich bezeuge es vor euch allen, daß auch euer keiner auf eine andere Weise als durch die Fürbitte und das Verdienst Christi, keiner durch ein anderes Mittel, als durch den Glauben und das Vertrauen auf diese Fürbitte und dieses Verdienst, zum Frieden kommen und selig sterben kann! Die meisten von euch wissen von dem Prozeß der Rechtfertigung nichts, sondern sie verlassen sich auf ihre Scheinheiligkeit und Heuchelei, sie stillen ihr Herz mit Wind, d. i. mit der Erinnerung an ihre Werke, aber nicht mit Christi Blut, ja, sie wissen gar nicht, wie man das nur anfangen solle, durch Christi Blut selig zu werden! Ich bitte euch darum um eurer Seele und Seligkeit willen, diese Lehre genauer kennen zu lernen und will euch gern eine kurze, treffliche schriftliche Darstellung derselben schenken, wenn ihr sie nur bei mir holen möget! Leset sie und betet dazu, daß ihr nur nicht in dem himmlischen Prozesse verloren geht!

 O meine Brüder, wenn ihr einmal diese Rechtfertigung empfangen habt, wenn ihr dadurch ins Heiligtum Gottes eingetreten seid, dann wird euch keine Leidenschaft beherrschen, dann werdet ihr zum Dank, daß nun der gefährlichste Prozeß gewonnen, in irdischen Dingen entweder gar keine Prozesse mehr führen, oder nur solche, welche nach dem Worte des HErrn und gegenwärtigen Verfassung der Welt sein müssen!

|  Ehe ihr aber diesen Prozeß gewonnen habt, ist’s hohe Not, euer Gemüt von den Sorgen und Qualen der Prozesse und aller Streitigkeiten frei zu machen und nur um den ewigen Prozeß zu sorgen! Ja, wenn ihr vielleicht gar noch nicht gehört oder überlegt habt, daß eure Seele in Gefahr ist, daß euer Heil noch im Prozeß liegt, daß der Gnadenspruch noch nicht geschehen, o dann lasset um so mehr alles andere liegen, dann eilet um so mehr, die heilige Lehre kennen zu lernen und zu erfahren, dann ringet um so mehr nach Gewißheit eures Heils, als ihr wisset, daß das Leben und die Gnadenfrist kurz und ungewiß, eure Kraft aber, die Kraft eures Lebens, klein, euer Leib hinfällig und leicht zerschlagen ist! Ringet um so mehr betend und flehend nach Absolution und Rechtfertigung, denn diese beiden gehen zusammen, als ihr euch mit Sünden beladen erkennt: je schwerer du dich vergangen, desto mehr eile zu JEsus Christus, daß du um Seinetwillen Gerechtigkeit und Leben erlangest! Am meisten aber eile dann, wenn du bisher schon gemeint hast, auf rechtem Wege zu sein, denn die sind wirklich am gefährlichsten daran, welche, ohne sich je bekehrt, ohne sich je zu Christo von der Sünde gewendet zu haben, dennoch im Wahne stehen, Gottes Wohlgefallen zu haben und alle Augenblicke sterben zu können! O du ewiger Richter der Welt, lasse doch viele von diesen, ach alle, ehe sie sterben, die Rechtfertigung des Lebens empfangen, damit sie, wenn sie sterben, zum Leben dringen! O Gott, o JEsu, höre, höre mich! und stehe mir bei dieser Predigt bei, daß Dein armes Volk Heil erlange in Deinen Wunden! Amen! Amen.




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