Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am Palmsonntage 1836
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Joh. 19, 25–27. Es stunden aber bei dem Kreuze JEsu Seine Mutter, und Seiner Mutter Schwester, Maria, Kleophas Weib, und Maria Magdalena. Da nun JEsus Seine Mutter sahe, und den Jünger dabei stehen, den ER lieb hatte, spricht ER zu Seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn. Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter. Von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Unmittelbar vor der Geschichte unseres Textes hatte unser gekreuzigter Heiland einen herrlichen Beweis Seiner, auch in den Qualen Seines Todes Ihm beiwohnenden göttlichen Macht und Majestät gegeben, hatte, selbst gekreuzigt und gequält, dem mitgequälten Schächer einen Anteil an dem ewigen Leben, einen Platz im Paradiese versprochen. Auf diese Erweisung Seiner Barmherzigkeit und Gnade, diese königliche Handlung, folgt eine andere, welche die eigene Person des Mittlers näher angeht, welche ihn uns in Seinem häuslichen Leben näher kennen lehrt, eine Handlung der zartesten Liebe und Demut. Die Nacht zuvor, in Gethsemane, da der Herr den Hirten anfing zu schlagen, hatten sich die Schafe zerstreut, nun aber der Hirte, am Kreuze ausgespannt, Sein Leben für die Schafe läßt, fängt ER bereits wieder an, sie alle zu sich zu ziehen. Eines um das andre sammelt sich zu Seinem Kreuze, bis Lukas von der Stunde, da unsere Textesgeschichte vorfiel, sagen konnte, daß alle Seine Verwandten von ferne standen und die Weiber, die Ihm aus Galiläa nachgefolgt waren und zusahen.[1] Es| muß doch in den Herzen der Verwandten, Jünger und Weiber eine große Gewißheit von der Heiligkeit des HErrn gewesen sein; denn wäre dies nicht gewesen, so würden sie sich Seiner gewiß geschämt und nicht sich zu Seinem Kreuze hinangedrängt haben. So stehen denn die Seinen von ferne, und das Kreuzgemeindlein lagert bei dem Kreuze. Aus der Mitte dieser Seiner Lieben traten noch näher, dicht unter die Arme Seines Kreuzesbaumes zwei, die Mutter Maria und der Jünger Johannes, den JEsus lieb hatte.„Ach! möcht ich, o mein Leben,
An Deinem Kreuze hier
Mein Leben von mir geben,
Wie wohl geschähe mir.“
„Du edles Angesichte,
Davor sonst schrickt und scheut
Das große Weltgewichte,
Wie bist Du so bespeit,
Wie bist Du so erbleichet,
Wer hat Dein Augenlicht,
Dem sonst kein Licht nicht gleichet,
So schändlich zugericht?“
Ach, in welche Tiefen, in welche Dunkelheiten muß die fromme Mutter steigen! Mütter, die ihr je an dem Sterbebette eines Kindes gestanden habt: was waren eure Kinder gegen dieser Mutter heiligen Sohn! was litten eure Kinder auf ihren Totenbetten, wenn man ihre Leiden gegen diese Leiden des unschuldigsten aller Menschensöhne betrachtet! wie wenig verloret ihr an euren Kindern, gegen den Verlust dieser Mutter gerechnet! Und doch, welch einen Schmerz hattet ihr! Ich bitte euch, erwäget den Schmerz dieser Mutter neben dem Kreuz des heiligen Sohnes! Erwäget’s, wenn ihr’s könnet! Welch ein Herz ist dies Mutterherz, das solche Schmerzen trägt und aufrecht bleibt? Ist eine Mutter groß und standhaft, wie diese Mutter? Ist sie nicht eine Mutter, die zu einem solchen Sohne paßt? Wohl ist kein Weib auf Erden, wie dies Weib und, wo man solche Schmerzen so groß und edel tragen soll, da muß eine Gnade des heiligen Geistes im Herzen walten, um welcher willen der Engel richtig sagt zu Maria: „Gegrüßet seist du, du Gebenedeiete unter den Weibern!“
Doch aber, was ist aller Ruhm eines Menschen gegen Deinen Ruhm, Du mein gekreuzigter HErr und Heiland? Er hängt am Kreuze in schwerer Arbeit: auf Seinen Schultern liegen die Sünden der ganzen Welt, die will ER ins Meer der Barmherzigkeit tragen und daselbst versenken, auf daß ihrer| nicht gedacht werde! Vor Seinem Blicke aufgethan ist die Vergangenheit und die Zukunft aller Menschen, die in die Welt kommen sollen und kamen, aufgethan ist ihm der Blick über die ganze Erde hin, alle Nationen sind Sein Augenmerk, Seine Herden, Seine Schafe, Sein Herz schlägt lauter für sie vor Liebe, als es vor Angst und Schmerzen schlägt! ER ist in schwerem Streit begriffen; aber er kämpft um den Preis, für den der Schächer ein Angeld ist, welcher in der Verheißung ausgesprochen liegt: „Ich will Dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Ende zum Eigentum!“[4] Welche Geschäfte hat ER zu thun, wie arbeitet ER, wie Großes will ER, wie Großes thut und duldet ER dafür! Ja, ER weiß, daß mit der Mittagsstunde, welche nun nahte, noch schwerere Leiden über Ihn hereinbrechen würden! ER weiß, daß Gott um Mittag von Ihm gehen, Ihn verlassen würde, daß mit Gott alle Kreaturen von Ihm weichen würden, selbst des Tages Licht, daß ER am Mittag würde allein gelassen werden, die Kelter zu treten, daß ER, ach ER Sein Haupt in den zeitlichen Tod neigen dürfte, den ewigen Tod überwinden müßte, daß ohne diese Arbeit Seine Arbeit nur halb geschehen, nur unvollendet zurückbleiben, kein Mensch selig werden könnte! Ach, Seiner Seele ist bange in Seinen großen Erlösungsgeschäften, man sollte denken, hingenommen in solche Arbeit hätte ER keine Gedanken übrig für die einzelnen Seelen, fürs Allgemeine bemüht, vergäße ER Sein Haus, Sein irdisches Haus! ER, der schon zur Zeit Seines Lebens gesagt hatte: „Wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, der ist meine Mutter, Bruder und Schwester!“ wer wollte es Dem verdacht haben, wenn ER, bemüht, viele Mütter, Brüder und Schwester für das ewige Leben zu gewinnen, vergessen hätte, Sein eigenes Haus zu bestellen und Seine Mutter zu versorgen! Aber ER, des heiliger Geist durch der Apostel Mund spricht: „Wer seine Hausgenossen nicht versorgt, der ist ärger, als ein Heide!“, ER mußte in allen Stücken vollkommen sein, denn einen solchen Hohenpriester sollten wir haben, der da wäre heilig, unschuldig, unbefleckt,| von den Sündern abgesondert und höher, denn der Himmel ist;[5] ER behält das Große im Auge und vergißt das Kleinere nicht; ja, vielmehr, das Kleine ist Ihm groß, ER sieht Seine Mutter am Kreuze weinen. ER erinnert sich, welche Ehre ER selbst von Ewigkeit her dem mütterlichen Namen mitgeteilt! ER erinnert sich, daß eines von den zehn Geboten, die ER auf Sinai gegeben, der grauen Häupter Ansehen ehret und dem Vaternamen Gottes auch in den irdischen Stellvertretern Ehre giebt; darum muß eines Seiner sieben letzten Worte die Mutter ehren, darum muß ER noch am Kreuz das vierte Gebot verherrlichen. Freilich ja! Alle Schafe suchte ER, der fromme Hirte, welches Schaf sollte ER mehr suchen, als das, welches Ihn geboren? Seine Gedanken sind Gedanken des Friedens und der Liebe über alle Kreaturen, Sein Herz ist eitel Segen, Sein Leben verschwendet, Sein Blut vergießt ER vor überschwenglicher Liebe und Barmherzigkeit. Ach! sollte ER die Mutter nicht lieben, die nur in Ihm lebt, deren Leben mit Ihm stirbt, die keine Freude mehr auf Erden hat, wenn ER von der Erde geht, die lieber mit Ihm im Grab, als mit den andern Menschen im Leben wäre? Sein Herz beschließt zu eilen, ehe die Mittagsstunde kommt, ER bestellt Sein Haus, ehe Ihn der ewige Tod überfällt, ER wirft alle Erdensorge ab, ER macht Sein Testament, auf daß ER dem Feind, dem ewigen Tode mit ganzer Seele entgegengehen möge! Sein Auge sucht mit inniger Liebe das Auge Seiner Mutter: ER findet, ER hält es, ER letzt sich an ihrem Anblick, ER dankt ihr, Sein Auge wird größer, glänzender, verheißender, nach Ostern, an Pfingsten, im Himmel, will ER ihr den Dank bezahlen, Sein Auge glänzt majestätisch, ER scheidet von ihr, spricht mit ruhiger, sanfter, tröstender Stimme: „Weib, siehe, das ist dein Sohn!“ und zum Jünger: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Ja! König, Dorngekrönter, Preiswürdiger: so handelst Du! Du hängst nur unter Missethätern, damit um so mehr vor aller Welt erscheine, daß Du kein Missethäter, daß Du oder keiner der Missethäter Heil und Heiland bist! Um| Dich ist nur darum solche Sündennacht, damit Deine Herrlichkeit, o Sonne des Lebens, desto prachtvoller glänze, Du Sonne in dunkler Nacht! Ja, so heilig handelt der heilige, sterbende Christus. Wenn Salomos Mutter, Bathseba, zu ihm kam, so stand er auf von seinem Thron, ging ihr entgegen, betete sie an, setzte sich dann wieder auf seinen Stuhl, und seiner Mutter ward der Stuhl zu seiner Rechten gesetzt,[6] so ehrte der König Salomo seine Mutter! Aber was ist das gegen diese Ehre, welche der Herr der Herrlichkeit, der ewige Friedefürst und Salomo, Seiner Mutter von Seinem Kreuze herab anthat! ER stieg nicht von Seinem Kreuze, ER ging ihr nicht entgegen, ER betete sie nicht an, ER starb aber für ihr ewiges Heil, ER gab ihr einen Sohn, der sie nicht verließ, ihr treu blieb bis an ihr Ende, ER tröstete sie in ihrem größten Schmerz mit liebreichem Munde; während Sein Geist die ganze Welt umfaßte und um sie warb, vergaß ER Seine Mutter nicht!War Maria schon zuvor mit Leib und Seele nur Liebe für ihren heiligen und erhabenen Sohn, wie erst nun, nach solchem Beweis Seiner Liebe! Wenngleich dadurch der Wert ihres Sohnes nur desto größer erschien, ihr Verlust desto schwerer, ihr Schmerz desto herber und durchdringender wurde, so lag doch eben darin, in dieser Liebe des Sohnes eine so sanfte Tröstung, eine so gewaltige Stärkung, daß ihr die auferlegte Schmerzenslast nicht schwerer, sondern leichter wurde!
O Brüder und Schwestern! Wie schön ist diese Geschichte! Lasset uns doch anbeten vor dem HErrn, der Gott ist, und doch so groß als Mensch, so gut und freundlich, so leutselig und barmherzig!
O daß ein jeder unter uns an seine Brust schlüge, ein jeder seine Sünde suchte und erkennete und beweinte und sich zum Anblick des gekreuzigten JEsu mit Hilferuf wendete! Für unbußfertige, in ihren Sünden hartgewordene Übertreter des vierten Gebotes ist das Kreuz JEsu nur ein Spiegel ihrer Strafen! Sünder, der du nicht willst aus dem Schlafe kommen, der du deine Sünden nicht mit wachen Augen erkennen und betrachten willst: diese Bluts- und Schweißtropfen, diese Striemen, diese Wunden, dieses Kreuz JEsu zeigen dir die zeitlichen Strafen, welche du mit Übertretung des vierten Gebotes verdient hast: Christus leidet, was deine Thaten wert sind! Sünder, diese Angst der Seelen, diese Todesangst im Garten Gethsemane, welche dem Heiligen Gottes Schweiß nicht, aber Blut aus den Adern gedrängt hat, diese harret dein! Sünder, diese Finsternis, die Ihn umgab von der Mittagsstunde an bis zum Tode, diese wird deinen Geist umfangen und deines Falles Zeuge sein, wenn du vom Totenbette in den Ort der Qual und Pein hinabfällst! Sünder, diese Unterschrift von Gott, welche deinen Heiland an diesem Kreuze peinigt, Ihn zu lautem Geschrei und jammernden Klagen bringt und treibt, diese wird dein Los sein in der Ewigkeit der Ewigkeiten, wenn du nicht die verlassene Mutter suchst, und nach Reue und Thränen, nach heiliger Buße sie hebst und legst und trägst! O Sünder ohne Reue, wie schwer sind diese Strafen der allmächtigen Kraft Christi geworden: wie schwer werden sie dir erst werden, wenn du in der Hölle und in der Qual sein wirst!
Ihr aber, reumütige Sünder, die ihr aufgeweckt seid zur Erkenntnis eurer Sünden, fahret fort, euch kennen zu lernen, ja, vergleichet eure Übertretung mit Gottes Gebot, mit JEsu| Demut, unterworfen unter das vierte Gebot, ja, lernt euch besser kennen, wendet euer Auge nicht bald von euch weg, wenn gleich der Anblick eures Lebens, eures Herzens nichts Erquickendes, sondern nur Beschämendes, Erschreckendes hat! Schaut euch nur an im Lichte des Gesetzes, bis ihr eures Schmutzes, eures häßlichen Anblickes satt seid, bis ihr eure Sünden verabscheuet, bis euch das Andenken an sie zu glühenden Kohlen auf euren Häuptern wird, bis ihr hungert und dürstet nach Linderung eurer Reuepein, nach Frieden der Vergebung, nach Gerechtigkeit, die vor Gott gilt! Wenn ihr aber zu solchem Ernste der Reue und Buße werdet durchgedrungen sein, zu solchem Verlangen nach Gott und Seiner Gnade, dann wird euch zum Troste werden, was ich euch von dem dreifachen Segen unseres Textes gesagt habe und nun in ganz kurzen Sätzen sagen werde:1. Ein Sohn, der reumütig seine Missethat beweint, die er an Vater und Mutter begangen hat, der erkenne, daß seine Strafen, am vierten Gebot verdient, darum auf den unschuldigen Christum geworfen sind, daß er sie selbst nicht leiden dürfte! Du, Reumütiger, wirst nicht gestraft werden, wenn du das glaubst! Denn zweimal und doppelt, an deinem Stellvertreter und dir zugleich, straft der ewige Gerechte nicht! Die Strafe lag auf Ihm, auf daß du Frieden hättest. Nimm hin, glaube, glaube in Gottes Namen die Vergebung deiner Missethat um Christi willen! Gott vergiebt, und wo Gott vergiebt, da vergiebt dir auch dein seliger Vater, deine verewigte Mutter, welche du bis in den Tod beleidigt hast! Die Seligen zürnen nicht, wo Gott nicht zürnt! Dein Vater, deine Mutter haben dir diese Gnadenstunde erbeten, da du aus JEsu Leid empfingst Vergebung und Frieden und deiner Eltern Segen!
2. Ein Sohn, der, obzwar guten Willens, nicht mehr wie sonst ein Ungehorsamer, dennoch nicht vollbringen kann, was er selbst gern möchte, der bei treuem Fleiß doch inne wird, daß er nur Sünde thut, daß er ungehorsam ist und von der Unart seines Herzens übereilt wird, der, obwohl voll Reu und Leid, wohl auch ein wenig glaubend, daß er Vergebung| gefunden, dennoch keine Gerechtigkeit gewinnen kann, sondern nur Ungerechtigkeit sammeln kann: der wisse, daß darum JEsus unter das Gesetz gethan ist, auf daß ER die erlösete, die unter dem Gesetz sind, auf daß ER an unserer Statt alle, auch die strengsten Forderungen des Gesetzes erfüllete, damit wir bei unserm mangelhaften Wesen nicht immerdar die Anklage des Gesetzes auszuhalten hätten, auf daß wir, frei vom Gesetze, uns der Gnade freuen könnten! Ja, o Seele, die über ihre Sünden betrübt ist, und betrübt, daß sie nicht thun kann, wie sie will, daß sie keine Gerechtigkeit erwerben kann: wisse, o Seele, JEsu Christi heiliger Gehorsam wird von Gott dem, der da glaubt, also auch dir, wenn du glaubst, zugerechnet, als hättest du ihn geleistet, du hast keine Gerechtigkeit, keine Tugend von dir selbst, aber JEsus ist dein, Ihn hast du, in Ihm hast du Gerechtigkeit. ER ist mehr, als alle Gerechtigkeit, wer Ihn hat, hat für das göttliche Gericht genug, ist reich zum Überfluß, hat Freude die Fülle und liebliches Wesen. Darum bei all deinen Mängeln freue dich des Heilands und sprich: „Ich freue mich des HErrn, und meine Seele ist fröhlich.“
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