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einer Zelle; ist sie in jedem Elend bei ihrem Sohne unterm Kreuz gestanden, ihr steht man im höchsten Jammer nicht bei, oder man steht ihr bei auf eine kalte, frostige Weise! Man wischt ihr den Schweiß vom Angesicht ohne Liebe, man legt ihr das Kissen zurecht, jedes Mal wünschend, daß es das letzte Mal sein möchte, man wartet aufs Ende ohne Thränen, man sieht ihm zu, man hört den letzten Seufzer ohne Gebet zu Gott, man drückt die gebrochenen Augen gleichgültig zu und geht dann weg, als wäre nichts geschehen, nicht, als hätte man die beste Freundin, das liebevollste Herz verloren, sondern, als wäre man genesen von einer Plage, als wäre einem eine Last abgenommen. Sagt, mir, Brüder, habe ich da zu viel Böses von Kindern gesagt? Giebt’s keine solche Söhne? Sind unter euch keine? Und wenn ihr gestehen müsset: ja, es giebt solche, wenn vielleicht mancher unter euch die Stimme Nathans, des Propheten, in seiner Seele hört: „Du bist der Mann!“ ist dann ein solch Benehmen nicht himmelschreiende Missethat? Ist denn kein viertes Gebot vom Sinai gegeben und dem Menschen ins Herz gepflanzt? Hat denn Gott kein heiliges Beispiel unbefleckter, kindlicher Liebe am Kreuz vor aller Augen aufgestellt, kein viertes Gebot an Seinem Sohn erklärt? Hat nicht der Sohn am Kreuze, obwohl ER der HErr vom Himmel war, sich herablassen müssen, durch Sein ganzes Leiden und durch Seinen Tod das vierte Gebot zu hohen Ehren zu heben? Lebt denn kein Gott mehr, Missethat zu rächen, oder ist er zu schwach dazu geworden? Weissagt euer Gewissen, ihr verfluchten Kinder, euch keinen Fluch? Nagt euch kein Wurm, protestiert in euch nichts mehr gegen euer Benehmen? Ist keinem solchen Sohne vom Grabe seiner Mutter, an dem er stand, ein Schauer des Gerichts aufgestiegen? Unglücklicher Sohn, der du noch also deine Mutter behandelst, was meinst du, wird dich für Qual der Reue ergreifen, wenn du deine Mutter zu Grabe tragen wirst, und der Geist des gerechten Gottes dich dann erinnert, daß du deine Mutter und in ihr das vierte Gebot, und in ihm deinen Gott so hoch beleidigt hast und nun nichts mehr ändern kannst? Das Seufzen der Tagelöhner, die den Lohn verkürzt empfangen, hört der HErr, meinst du, ER