Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am 4. Sonntag nach Epiphanias 1835

« Am 3. Sonntag nach Epiphanias 1835 Wilhelm Löhe
Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am Mittwoch, den 28. Januar 1835 »
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Am 4. Sonntag nach Epiphanias.
(Nürnberg 1835.)


Matth. 8, 23–27. Und ER trat in ein Schiff, und Seine Jünger folgten Ihm. Und siehe, da erhob sich ein großes Ungestüm im Meer, also, daß auch das Schifflein mit Wellen bedeckt ward; und ER schlief. Und die Jünger traten zu Ihm, und weckten Ihn auf, und sprachen: HErr, hilf uns, wir verderben! Da sagte ER zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer, da ward es ganz still. Die Menschen aber verwunderten sich und sprachen: Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam ist?


I.
 Nach einem vielbeschäftigten Tage trat der HErr JEsus Christus in ein Schiff, um ans jenseitige Ufer zu fahren. Es war Abend, und die Sonne war untergegangen. ER war müde, und wie ER denn aller Dinge uns gleich erfunden ward, ausgenommen in der Sünde, so sehnte ER sich auch an jenem Abend, Seine Augen zuzuthun und Sich durch Schlummer zu stärken. Denn so gering war der geworden, welcher der Wächter Israels heißt, der weder schläft noch schlummert, daß ER auch des Schlummers bedürftig war. Das schwanke Schifflein, die See, die Gefahr der Nacht, das alles hinderte Ihn nicht, Sein Haupt niederzulegen. ER weiß, was vorgehen wird, – aber ER weiß auch, daß weder Ihm noch den Seinen ohne des Vaters und Seinen eigenen Willen etwas geschehen kann, ER weiß, daß ER zur rechten Zeit zur Hülfe erwachen wird. Darum steigt ER voll Friedens und ungestörter Ruhe Seiner Seele ins Schiff, geht ins| Hinterteil desselben, lehnt Sein Haupt an und wartet des Schlummers.

 Seine Jünger folgen Ihm nach – und wohl ihnen! Zwar gehen sie in Gefahren, aber durch Gefahren zu einem freudenvollen Sieg.

 1. Liebe Seelen! Der HErr sucht Seine Ruhe in einem unbeständigen, schwankenden Schifflein. Wundert euch nicht! Denn was ist unbeständiger, was schwankender, als ein Menschenherz, und doch kommt JEsus, klopft ernstlich und begehrt Einlaß, Seine Ruhe darin zu halten und Ruhe haltend eine Ruhe zu geben, die höher ist, als alle Vernunft. Schwankende, unstäte Herzen, die ihr bisher über die Welt hintanztet, wie ein Schiff über die Wogen, wollt ihr nicht euren Heiland aufnehmen, Ihm einen Ort geben, wo ER Sein Haupt hinlegen könne? Thut es! Euer Herz wird alsdann ewiglich leben!

 2. Teure Brüder! Da die Jünger mit JEsu ins Schiff gingen, gingen sie in Gefahren. So muß auch der, welcher mit JEsu von der Welt in die Arche der heiligen Kirche geht, welcher sich bekehrt, sich auf Gefahren gefaßt machen. Das erwarte nur keiner, daß er durch seine Bekehrung aller Trübsal entnommen sei. Aber was kann das hindern, ist man ohne Gefahr, wenn man nicht in der Arche ist, ist man nicht in größerer Gefahr? Und wenn man überall in Gefahr ist, ist es nicht besser, da in Gefahr zu sein, wo der ewige Noah dabei ist, das ist, der Friedefürst JEsus Christus? Lasset uns mit Ihm, Brüder, zu Schiffe gehen! Es kann nicht anders sein, wo ER ist, kann keine Gefahr gefährlich werden, und die Arche muß endlich nach überstandenen Fluten auf dem Berge Ararat stehen, sicher stehen bleiben!


II.
 Sehet doch, meine lieben Brüder, in das Hinterteil des Schiffes. Da schläft JEsus. Sein Entschlummern war ein betendes. Der Vater und Sein Reich kamen und hielten stille Rast im Herzen dieses Schläfers. Sein Schlaf ist süß und heilig, kein junges Kind schläft so im Schoße seiner Mutter.| Das Schiff umfaßt ein großes Kleinod: schwimm dahin, Schifflein! Dir kann kein Sturm schaden – über dir ist Gottes Hand, du trägst den Sohn des Wohlgefallens.

 Es war eine stille Nacht. Der klare See war ruhig – und seine Fische wimmelten um die kleine Flotte und ihren Fackelschein. Aber der Satan beneidete den HErrn um Seine Ruhe, er war so lange im verfluchten Lande Nod und hatte noch keine solche Ruhestunde gefunden. Er erregte von jenseits her einen Sturm, ein Windwirbel ergriff die Wasser und streute sie übers Schiff, die Wellen stiegen im Sturm und die heilige Ruhe ertönte vom Gebrause der Wellen, – ach! das Schifflein stieg empor und sank, es ward voll Wassers, es war nah am Untergehen. Aber JEsus? wie ER? – Wenn ER schläft, dann wagt sich der Satan ins Feld, und der Sturm aus seiner Höhle, aber der HErr, unser Heil, schläft ruhig fort! Seinetwegen kann der Sturm sausen, das Wasser brausen, das Schifflein schwanken, sinken, voll Wassers werden, es stört Ihn nicht einmal im Schlaf, die Stunde Seiner Erquickung, die stille Ruhe Seines Leibes, die betende Feier Seiner Seele geht darum nicht eilender an Ihm vorüber. ER hat nie, auch nicht im Schlaf, sich von irgend einem Schrecken der Natur schrecken lassen oder sich gefürchtet, es ist Ihm nie vor etwas bange gewesen, als vor unsern Strafen in Gethsemane – und auch ihretwegen hat ER am Ende gesprochen: „Dein Wille geschehe!“

 So schläft der, welcher, eins mit dem Vater, von der Kreatur nichts zu fürchten hat. So schläft, ja, so stirbt der, auch der, Gott sei ewig Dank! welches Gewissen abgewaschen und still geworden ist durch das Blut JEsu Christi! JEsus ist in den Seinen, wenn sie zum Tode entschlafen; was ist’s, daß sie im Todeskahne schweben, wer JEsum hat, hat ruhigen Schlummer. Selig, ja selig sind, die in dem HErrn sterben! – Aber du, dessen Gewissen unversöhnt ist, kannst du auch nur so schlafen, wie der Christ in den Tod entschläft? Ja, kannst du nur so ruhig wachen? Wenn nun ein Wetter am Himmel aufsteigt und der Gott der Ehren donnert und Seine Blitze erleuchten die Welt: arme, in Sünden verkaufte| Seele – kannst du stille sein? Ja, wenn die Angst deiner Sünden sich deiner bemeistert, dann schreckt dich ein rauschendes Blatt, und du möchtest in der Schande deiner Blöße dich unter alle grünen Bäume verstecken, wenn du den HErrn in der Nähe merkst!


III.

 Lasset uns doch ein wenig bei solchen Gedanken verweilen. Lasset uns die Schiffleute und die Jünger ansehen. Welch ein Tumult im Schiff, welch eine Angst, welch ein Schrecken und Zagen! Warum denn? Brüder! Lasset uns lieber einmal die Frage anders stellen: warum sollen sie sich nicht fürchten? Fürchten sich denn andere Gläubige nicht auch, wenn sie in Nöte kommen? Verdient also die Furcht der Jünger so sehr getadelt zu werden? Antwort: Es giebt eine Furcht, welche mit dem Glauben und mit dem Frieden Gottes bestehen kann, ja, auch mit der Freude im heiligen Geist. Denn wir sollen uns zitternd freuen. Aber eben damit ist auch gesagt, welche Furcht unrecht sei, nämlich die, welche die Seele aus der Freude an Gott, aus der Ruhe und aus dem Glauben wirft. Wer sich gar nicht fürchtet, fällt in Sicherheit, ach, und die ist ein Vorbote, daß das Schiff an einem Felsenriff in Bälde zerschellen oder plötzlich untergehen wird. Wer sich allzusehr fürchtet, fällt aus dem Glauben, und was hat er dann? Der Glaube soll, wenn die Furcht kommt, nicht ermatten und einschlafen, sondern wie ein Löwe soll er aufstehen in seiner Furchtbarkeit, und seine Stimme hören lassen, damit offenbar werde, daß er des Hauses Herr ist, nicht die Furcht.

 Hieraus kommen wir auch leicht zur Klarheit, warum doch der liebevolle Heiland nicht erspart hat, in solche Drangsal zu kommen. Und aus der Antwort kann man überhaupt erkennen, warum oft Trübsal und Angst über die Menschen, auch über die Christen kommen muß. – Wären die Jünger nicht in diese Trübsal gekommen, so wäre ihnen nicht offenbar geworden, wie viel unversöhntes Gewissen in ihnen war. In guten Tagen vergißt der Mensch seine Sünden, und weil| sie ihm leicht werden, und sein Gewissen schläft, meint er, sie seien auch leicht vor Gott. Wenn aber Leiden kommen, dann fragt man: Woher kommen sie? Und dann antwortet das Gewissen: „Das ist deiner Bosheit Schuld, daß du so gestäupet wirst!“ – Ferner: Solange die Jünger nicht in diese Anfechtung gekommen waren, hielten sie selber ihren Glauben für stark, und konnten es bei aller Prüfung nicht anders finden. Aber wenn Not kommt, dann zeigt sich, dann kommt hervor, was etwa an Unglauben sich in dem oder jenem Winkel des Herzens verborgen hat. Solche Nöte sind Segen von Gott, denn sich selbst und seinen Glauben kann ein redliches Gemüt zu günstigerer Stunde nicht prüfen und kennen lernen, als in der Prüfungsstunde. – Ferner: Wäre diese Not nicht gekommen, so hätten die Jünger auch nicht erkannt, wie viele Todesfurcht in ihnen war. Denn wenn sie nicht den Tod gefürchtet hatten, was sollen sie denn gefürchtet, wovor sollen sie denn gebebt haben? Das Grab in den Wellen war ihr Schreckenskönig. Brüder! Solange wir nicht in Todesnot sind, ist’s ein vergebliches Schwatzen: „Ich fürchte mich vor dem Sterben nicht!“ Es wird sich zeigen, wenn Not kommt. Der HErr verleihe uns, wenn der Tod anrückt, still und furchtlos zu sein, denn das steht allein in Seiner Hand!
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 Eins noch, Brüder! Wie kommt’s, daß, wenn die äußeren Stürme wüten, der Mensch so zaghaft ist, wenn aber Sündenstürme, wenn Versuchungen und Lockungen auf ihn einstürmen, ist er so gleichgültig. Und doch können jene Stürme nur dem Leibe schaden, während diese Stürme der Seele ewig Schaden bringen können! Was ist verloren, wenn der Leib verloren ist? Hingegen, was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? (Matth. 16, 20) oder, was kann der Mensch geben, daß er seine Seele löse? (Mark. 8, 27). Wie thöricht ist es, vor dem kleineren Übel sich zu fürchten und gegen das größere gleichgültig sein! – Liebe Brüder! Die Versuchungen, welche oft wie Blumen duften, sind Strudel, welche uns verschlingen! Die Sünden, welche oft so schön geschmückt sind, es sind Teufelsklauen, uns ins Verderben zu reißen! Lasset uns aufwachen| und die Dinge ansehen, wie sie sind – und nach ihrem wahren Werte zu schätzen! Werfet euch nicht mehr forthin euren Versuchungen in die Arme! Man sagt, es gebe Seen, welche den, der sie länger betrachtet, einladen, sich hineinzustürzen und darinnen unterzugehen. Besprechet euch nicht so viel, ob ihr der Versuchung nachgeben wollet oder nicht, sonst werdet ihr von ihr mit unwiderstehlicher Gewalt in die Tiefen des Fluches Gottes gezogen werden. Schlafet keinen so schweren Schlaf! Euer Schifflein schwankt und die Wellen drohen, es zu ersäufen – es ist kein Christus im Schifflein, darum keine Hoffnung der Errettung! Wo eilst du hin, leichtsinniges Schifflein, – weißt du nicht, daß die Wellen dir feind sind – daß deine Sünden über dich kommen, wie große Wasser? Steig aus – rufe JEsum an, daß ER dich aufnehme in Seinen Kahn, in Sein Schiff! Selig sind Seine Leute – selbst wenn ER schläft!


IV.

 Als die Not groß geworden war in dem Schiffe und auf der See, als der Jünger Glaube fast zerrinnen wollte, da nahmen sie den Rest ihres Glaubens zusammen, eilten zu JEsu und riefen: „HErr, hilf uns, wir verderben!“

 Es giebt einen Glauben, welcher in Nöten nicht so ängstlich schreit. Es giebt einen Glauben, der selbst in inwendigen, gewaltigen Anfechtungen des Gemüts, – in Todesnöten der Seele doch nicht schreit, sondern stille ist Seinem Gott. Einen Glauben, der, wenn er vor seinem Grabe steht, spricht, wie Christus vor des Lazarus Grabe: „Ich danke Dir, daß Du Mich erhört hast!“ Einen Glauben, der, wenn Jammer und Not ihn umgeben, wenn er durch Feuer und Wasser gehen muß, still den Polarstern der ewigen Gottesverheißung betrachtet und nicht zweifelt. Einen Glauben, der bei annahendem Schrecken sich an JEsu Brust verbirgt und spricht: „Der HErr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht (Ps. 118, 6). Du sollst streiten, ich will stille sein!“ Einen Glauben, der, wenn die Winde stürmen und die Wasser brausen, seine Segel einzieht und sein Ruder beiseite legt – und stille harrend weiß, daß| ein anderer sein Schifflein führt, – getrost spricht: „Du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an!“ (Ps. 73, 24).

 Dieser stumme Glaube, der auch in Nöten und Schrecken nur eins betet: „Dein Wille geschehe!“ ist groß – wer den hat, ist ein Held Gottes – und ein überirdisches Wesen, das auf den Wassern geht, wie auf festem Lande.

 Wohl dem, wer diesen großen Glauben hat! Wohl dem bußfertigen Herzen vor allen Dingen, welches, obwohl nichts sehend und des HErrn Erquickung noch nicht kennend, dennoch nicht verzweifelt, sondern still vertraut, es werde seiner Zeit seinem Mangel abgeholfen werden. Wer aber einen solchen großen Glauben nicht hat, wer im Schmerz der Buße eine laute, gewaltige Sehnsucht nach dem ewigen Tröster hat, wer, erschreckt vom Ungetüm des Lebens und Sterbens, rings keine Hülfe sieht, wer meint, Gott schlafe und vergesse sein, wer sagt: „Kümmert’s Dich nicht, JEsu, daß ich sterbe und verderbe?“ wer sich vor Jammer nicht zu lassen weiß – was soll der thun? Der thue, wie die Jünger thaten, der thue, wie geschrieben steht: „Rufe mich an in der Not,“ so wird er, wie die Jünger, in der That erfahren, daß es wahr ist, was der HErr verheißt: „Ich will Dich erretten!“ Ja, Seele, von äußerer Not betroffen, oder von Sünden gefährlich angefochten, rufe laut, schone Seiner Ruhe nicht, sprich: „Mache Dich auf, mache Dich auf, HErr!“ rufe: „HErr, ich verderbe!“ Die Wellen, die Winde, das Getös und Getön können Ihn nicht wecken – ER schläft ruhig; aber wenn ein bedrängtes Herz ruft, da wacht ER eilends auf, auf Fittichen des Windes eilt ER herzu und spricht: „Hier bin Ich, hier bin Ich!“ Es ist etwas Unkindliches in dem kleingläubigen Geschrei, aber ER vergiebt’s! Ehe dein Glaube gar erlischt, rufe getrost und laut – komme zu Ihm mit großem oder kleinem Glauben, mit stillem oder lautem – das ist eins! Es wird keiner hinausgestoßen, der zu Ihm gekommen! Fürchte dich nicht! – Siehe, was aufs Geschrei der Jünger auf der See geschieht, und nimm’s zu deinem Troste!


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V.

 JEsus erwacht, und Sein Erwachen ist, wie Sein Schlafen – voller Ruhe. Sein Auge ist ungeblendet, mit dem ersten Blick Seines erwachenden Auges erkennt ER den eigentlichen Sitz des Jammers, und zwar nicht im Wind oder Wasser, sondern im Kleinglauben und in der Furcht der Bedrängten! Sein Auge und Seine männlich-sanfte Stimme hilft da zuerst, wo zuerst geholfen sein muß, ER heilt ihren Glauben durch Bestrafung und nimmt ihren Gemütern die Furcht durch Seine Ruhe. Dann erst nimmt ER das Schrecknis ihres Glaubens und den Gegenstand ihrer Furcht hinweg, nachdem jenes kein Schrecknis und dieses kein Gegenstand der Furcht mehr war. ER thut, wie eine Mutter mit ihrem Kinde, das sich vor einem bellenden Hündlein fürchtete; erst spricht sie zum Kinde, dann erst zum Hündlein: sei stille! – JEsus steht auf, noch schwankt Sein Schifflein, noch lärmt die See und der Sturm tobt; nun hebt ER Seine Hand auf, Sein Mund öffnet sich, ruhig – ohne viel Gebärden – spricht ER zum Winde: „Verstumme!“ – zum Meere: „Sei still!“ – und auf Sein Wort ist plötzlich, gewaltig, vollständig die Hülfe gekommen, nach welcher die Jünger verlangt hatten. Der Sturm ist weg, die Wellen sind spiegelglatt und eben, friedsam spielen sie ums Schiff – die Morgenröte liegt freundlich auf den Bergen, die rings ums Ufer der HErr gebaut hat. Den Abend lang währt das Weinen nicht – nur eine kleine Zeit der Nacht – am Morgen kehrt die Freude ein (Ps. 30, 6). Der stille JEsus steht in der stillen Welt – die Thränen, das Klagen sind abgewischt! Freundlich schaut ER den Jüngern ins Angesicht, diese sind alles Jammers ledig, es war plötzlich in ihrem Gemüte anders geworden, wie es plötzlich auf der See anders geworden war! Ihr Auge glänzt, ihre Seele ist zu Ihm gezogen, in ihrem Herzen heißt es: „Meister, Du bist Gottes Sohn! Du bist der König in Israel!“

 Liebe Brüder! Ehe der HErr half, schalt ER den Kleinglauben Seiner Jünger und heilte sie dadurch vom| Kleinglauben und durch den Anblick Seiner Ruhe von ihrer Unruhe. Wenn ER sich zeigt, dann schämt man sich; denn ER zeigt sich immer mit großer Hülfe, als ein Heiland, der, so wenig man Ihm vertraute, dennoch alles Vertrauens würdig war. Man findet Ihn treu, Seinen Bund unabänderlich, Seine Gnade unwandelbar, Ihn rein von aller Schuld an unserer Plage, und als Ursache alles Jammers nur unser trotziges und verzagtes Herz. Ja, so wird’s offenbar, noch ehe wir die Hülfe selbst erfahren, wenn entweder ER selbst durch Seinen Geist, oder ein Prediger, ein Beichtvater, ein Freund in unserer Not uns unsern Kleinglauben vorwirft; wir werden dadurch beschämt, und ER wird herrlich vor uns!

 Wie aber erst, wenn ER geholfen hat, wenn nach schwerer Anfechtung die Sonne wieder scheint, wenn nach einem Jakobskampfe ein Segen und Pniel kommt, wenn aus der Buße der Friede Gottes wächst, wie dann? Da geht es uns, wie der HErr sagt: „Ein Weib, wenn sie gebieret, hat sie Traurigkeit, denn ihre Stunde ist gekommen. Danach aber vergißt sie die Traurigkeit um der Freude willen, daß der Mensch zur Welt geboren ist!“ Plötzlich wechselt’s, plötzlich war der Jammer gekommen, plötzlich kommt die Freude! Brüder! Wenn Freude kommt, dann fasset eure Herzen in Geduld: es kommt Traurigkeit, und wenn Traurigkeit kommt, so freuet euch: erst dann wird die Freude recht herrlich hervorbrechen, und ihr werdet euch wundern, wie gar schnell und eilend eure Herzen zur Ruhe kommen! Dann vergesset nicht, wer euch geholfen hat! Vergesset nicht über der Hülfe den Helfer, über der Freude den Freudengeber, über den Trost den frommen Tröster! Dann gebt Ihm Preis und Dank und Ruhm, die Ihm gebühren!

 Als die Menschen auf den Schiffen das Wunder sahen, verwunderten sie sich und sprachen: „Was ist das für ein Mann, daß Ihm Wind und Meer gehorsam ist?“ – Für Wunder gebührt Ihm Bewunderung. Und wer sollte sich nicht verwundern über die Thaten Seiner Macht, zumal wenn man nicht bloß diese äußeren Thaten ins Auge faßt, sondern| jene stilleren, größeren, für unser ewiges Leben bedeutenderen, wenn ER in Seiner Niedrigkeit die Welt und ihren Fürsten überwindet, wenn ER am Kreuz unser Kreuz beendet, im Sterben unsern Tod verschlingt, im Grabe uns eine Hoffnung, in der Auferstehung eine Gerechtigkeit des ewigen Lebens bereitet! Aber doch, Brüder, sind die Verwunderungen ebensowenig das Beste in unserm Glaubensleben, als die Wunder das Größte und Beste im Leben und Sterben JEsu sind. Es ist eine große Thorheit, wenn die ungläubigen Menschen sich damit über ihren Unglauben zu trösten versuchen, daß sie ja keine Wunder mehr sähen, wie die ersten Christen, und deshalb auch nicht, wie diese glauben könnten. Was haben den Leuten zu Seiner Zeit die Wunder geholfen? Eine kleine Zeit dauert das Wundern, dann dürstet man nach neuen Wundern, wie ein herabgekommenes Geschlecht, das nichts Besseres weiß, täglich nach neuen, täglich nach frappanteren Schauspielen dürstet!

 Nicht Seine Wunder haben die Welt bekehrt, nicht Seine großen, auch unter uns geschehenen Thaten sind es, welche die Herzen fesseln. Nicht der Ausruf: „Was ist das für ein Mann!“ sondern der Ausruf: „Seht, welch ein Mensch!“ – Seine sterbende, bis zum Tod erniedrigte Liebe zu uns – Seine Treue ohnegleichen – und die Seele aller Seiner Thaten, aller Seiner Leiden, das Wörtlein „für uns“, das bekehrt, das fesselt die Herzen wahrhaft und für immer.

 Es ist eine heilige Lust des Christen und ihm erlaubt, daß er seines HErrn Leiden und Wunder sich vergegenwärtige! Ja, in diesem entnervten Geschlecht muß ein Prediger fast, will er anders seine Zuhörer zur Aufmerksamkeit bewegen, ihnen die Worte und den Wandel seines HErrn vor die Augen malen, je lebendiger, desto besser! Aber alles das ist nur im Vorhof – im Tempel steht das Kreuz, das blinkt auf dem Altar; das Marterbild steht uns vor Augen, und das Wörtlein: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab“ ist drüber hin geschrieben!

|  Was hilft’s, zu wissen, daß ER mächtig ist, Wind und Meer zu zwingen, den Wind in Seine Faust, das Wasser in ein Kleid zu fassen, wenn man bei dieser Wissenschaft dennoch im Meer und Sturm der Sünde verloren geht? Was hilft’s, sich mit der lebendigsten Phantasie jede Gebärde des HErrn und Sein liebes Angesicht vergegenwärtigen, wenn zur Zeit, da die Bäche Belials an unser Schiff schlagen, und wir ins Todesmeer und auf die hohe See der Ewigkeit kommen, und kein Christus das Schifflein rettet, die See bezwingt, die Stürme stillt und uns ans sichere Gestade Seines Himmels trägt! Seelen, Seelen! Ihn anstaunen. Ihn bewundern rettet nicht, sondern unsere Verwunderung über Seine Größe muß uns zur Verwunderung über Seine Erniedrigung leiten – das Kreuz auf Golgatha, wo ER, unter die Missethäter gerechnet, eines schimpflichen Todes stirbt, ist der Mittelpunkt, wohin wir steuern. Eher dürfen wir nicht ruhen, bis wir da angelangt sind! Denn da hängt ER, da bereitet ER Ruhe unsern Seelen für die größten Stürme, nämlich für die Stürme des Todes und des ewigen Gerichts! Da bereitet ER Vergebung und Leben den armen, schuldbeladenen Menschen!

 Die Thaten auf dem Meere, alle Wunder des HErrn hatten schon zu Seinen Zeiten keinen andern Zweck, als auf Ihn aufmerksam zu machen und die Augen aller auf Ihn zu richten, wenn ER nun erhöhet würde von der Erde, daß ER sie alle zu sich zöge! Also Seine sterbende Liebe zu erfahren und Ihn wieder zu lieben bis in den Tod, Brüder, das ist’s, was wir auf Erden zu thun haben. Ein Tropfen Seines für uns vergossenen Blutes, ein Wort von der Erlösung und Vergebung der Sünden, eine Verheißung ewiger, unabänderlicher Gnade ist mehr wert fürs arme Herz der Zerschlagenen, für welche eigentlich gepredigt wird, als eine Aufzählung aller Wunder und die Wissenschaft vom ganzen Leben des HErrn.

 Also, wer wahrhaft für seine Seele sorgen will, öffne seine Augen und sehe nicht in die See, sondern ans Kreuz! Wen seine Sünden kränken, wer eines andern als seines bisher geführten Lebens teilhaftig werden möchte, wer| dem HErrn leben, dem HErrn sterben möchte, der nehme Kraft aus diesen meinen letzten Worten und aus dem gläubigen Anschauen des Gekreuzigten:

 ER war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit (Jes. 53, 3). ER ist um unserer Missethat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen (Jes. 53, 5). Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir an Gott haben sollten (Röm. 3, 23. 27). Aber wir werden ohne Verdienst gerecht aus Seiner Gnade durch die Erlösung, so durch JEsum Christum geschehen ist (Röm. 3, 24). Welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in Seinem Blut (Röm. 3, 25). Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit Ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu (2. Kor. 5, 19). Kommet her zu Ihm alle! (Matth. 11, 28). ER ist gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen (Mark. 2, 17). ER ist gekommen, ein Arzt für die Kranken (Matth. 9, 13; Luk. 5, 31). Es ist in keinem andern das Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden (Apg. 4, 12). Wer den Namen dieses HErrn anrufen wird, wird selig werden (Apg. 2, 21). So ihr solches wisset, selig seid ihr, so ihr es thut! – Wer Ohren hat, zu hören, der höre! Amen.




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