Pariser Bilder und Geschichten/Eine Stunde bei Michelet

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Autor: Sigmund Kolisch
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Titel: Pariser Bilder und Geschichten
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[408]
Pariser Bilder und Geschichten.
Von Sigmund Kolisch.
Eine Stunde bei Michelet.

Am 13. Juni zurückkehrend, aus der Madeleinekirche, wo die Todtenfeier zu Ehren des Grafen Cavour stattgefunden hatte, begegnete ich auf dem Boulevard des Italiens vor dem Café Cardinal meinem Freund und Landsmann D., der langsam dahinschlendernd umherspähte, wie Jemand, der etwas sucht.

„Wohin des Weges?“ redete ich ihn an.

„Ich sehe mich nach einem Wagen um, der mich nach meiner „Erholung“ bringen soll.“

„Sie haben also Ihr Sanssouci wie ein Fürst?“

„Warum nicht?“

„Darf man wissen, wo Ihr Lustschloß steht?“

„Rue de l’Ouest Nr. 44, hart an dem Luxembourg-Garten.“

„Sehr empfehlend fürwahr!“

„Wenn Sie mitkommen wollen, so steht es Ihnen frei, und ich stehe dafür, daß auch Sie einige Befriedigung finden werden.“

„Ich nehme Ihre Bürgschaft an; wissen aber möchte ich doch, wohin Sie mich eigentlich bringen wollen.“

„Nun denn,“ entgegnete D., „zu Michelet,[1] wo ich, wie nirgends, die drückenden Sorgen abthue, die mir meine verwickelten Geschäfte verursachen, wo ich meinen Geist in eine Sphäre tauche, die reinigend und erfrischend zugleich wirkt, wo ich die Unerquicklichkeiten und Gemeinheiten vergesse, mit denen ich mich herumzuschlagen habe. Sie bedürfen zwar nicht in dem Maße, wie ich, der Luftveränderung; denn Sie, nachdem Sie der Sturm, wie mich, hierher verschlagen, blieben, trotz der harten Kämpfe, die Sie zu bestehen hatten, bei Ihren Büchern und Schriften, während ich es mit Bankiers, mit Commissionären, mit Fabrikanten und Kaufleuten, mit der türkischen Finanzkrise und dergleichen zu thun habe; allein Michelet ist ein politisch-literarischer Charakter von besonderem Interesse, und es ist eigentlich unrecht von Ihnen, daß Sie ihn nicht längst kennen zu lernen suchten. Sie haben vor einigen Jahren der verbreiteten „Gartenlaube“ Schilderungen französischer Berühmtheiten geliefert, und ich denke, daß in dieser Gallerie der berühmte Professor nicht hätte fehlen, daß er neben Béranger, Lamennais, George Sand, Thiers einen Platz hatte finden sollen.“

„Der Vorwurf ist vollkommen gegründet,“ versetzte ich, „doch ist der Fehler leicht gut zu machen. Ich folge Ihnen.“

Ein Wagen wurde genommen, und wir fuhren zu Herrn Michelet.

Der Mann, der so viele Kämpfe mit den „Schicksalsmächten“, mit Irrthum, Aberglauben und Unrecht bestanden, der gearbeitet, geforscht und gelehrt hat, an dessen Lebenswandel der eifrigste Widersacher keine Makel finden kann, dessen Ueberzeugung stets ein Fels war, von dem keine Brandung etwas abzulösen vermochte, [409] und der nie zur Unterhandlung mit der Lüge zu bewegen war, verdient in der That von Allen, die sich an der Lauterkeit und Würde eines Charakters erfreuen, gesucht und gekannt zu werden.

Der berühmte Geschichtschreiber und Professor Jules Michelet stammt aus der französischen Heroenzeit, in der ein gewaltiges Geschlecht viel Schwierigeres ausgeführt hat, als die Halbgötter, von denen die griechische Sage, als die Helden, von denen Homer erzählt. Er ist am 21. August 1798 zu Paris geboren.

Sein Vater hatte eine Druckerei, in welcher der Knabe von seinem zwölften Jahre an als Setzer verwendet wurde, da die drückenden Verhältnisse seiner Familie die Bezahlung eines Arbeiters schwer, wo nicht unmöglich machten. Erst zwei Jahre später gelang es mit den äußersten Anstrengungen, den jungen Menschen in einem Collège unterzubringen. Als Michelet seine Studien beendet hatte, verschmähte er es, von seiner Feder zu leben, und wollte einen wirklichen Beruf, er widmete sich dem Lehrfach. Drei Jahre lang gab er Lectionen theils in Privathäusern, teils in Privatlehranstalten, bis er 1821 in Folge einer Mitbewerbung Professor am Collège St. Barbe wurde.

Neben seinen Berufsgeschäften betrieb er unausgesetzt und mit unermüdlichem Eifer die Wissenschaften: Geschichte, Philosophie und classische Literatur. In den Jahren 1825 und 1827 erschienen seine ersten geschichtlichen Werke, in welchen sich der unabhängige Geist, das Wissen und die Darstellungsfähigkeit des Verfassers kund gaben und die Aufmerksamkeit erregten. Man merkte bereits, daß er die Philosophie des großen deutschen Denkers Kant in sich aufgenommen. Von da ab steigert sich der Ruf des Geschichtschreibers und Lehrers immer mehr und mehr. Nach der Julirevolution wird Michelet zum Vorsteher der geschichtlichen Abtheilung des königlichen Archivs ernannt und in die Lage gebracht, wie die andern liberalen Schriftsteller zu jener Zeit, nach politischem Einfluß, nach den höchsten Aemtern zu langen. Allein Michelet verschmäht die Stellenjagd und die Intrigue. Bescheiden und stolz bleibt er bei seinen Büchern und Schülern.

Die Werke meist historischen Inhalts, die Michelet nun in verhältnißmäßig rascher Aufeinanderfolge an’s Licht treten läßt, zeichnen sich vor Allem durch Originalität der Anschauungen aus, die manchmal gesucht erscheinen, die aber aus der allzu lebhaften Phantasie des Verfassers, aus dem Tumult der Gedanken, die sich in seinem Kopfe drängen, entspringen. Ferner ist an dem Geschichtschreiber zu rühmen, daß er viel gesucht und geforscht und neue Quellen gefunden hat, aus denen er geschöpft, daß er manches Dunkel aufgehellt, Ereignisse, die falsch aufgefaßt und falsch beurtheilt wurden, auf ihren wahren Grund zurückgeführt und ihnen ihren wahren Charakter zugewiesen hat.

Als Lehrer zeigt Michelet noch ganz andere Eigenschaften, denn als Schriftsteller. Er hat unter seinen Schülern Sympathien gewonnen, die an Fanatismus grenzen und die keine Zeit zu überwinden vermag. Er unterrichtete nicht nur, er erhob, er begeisterte. Alles, was sich des Bessern vorfand in den jungen Herzen und Seelen, das belebte, das bewegte er. Alles, was hoch steht in der Welt, Alles, was unvergänglichen Werth hat, das brachte er der Jugend nahe, er lehrte seine jungen Zuhörer vor Allem denken, erkennen, Götzen stürzen und Götter erheben. Seine Vorträge waren ungeregelt, wie seine Bücher sind, die Wirkungen aber, die sie hervorbrachten, waren außerordentlich. Sie boten keine systematische Belehrung, allein sie regten zum Bessern an, sie bildeten Geist und Gemüth und traten den schädlichen Einflüssen des Pariser Lebens, denen die Jugend ausgesetzt ist, sie traten den Einflüssen eines nach der Herrschaft strebenden gemeinen Materialismus, dem Aberglauben und dem Vorurtheil siegreich entgegen.

Die Maßregeln, welche von zwei Regierungen gegen den Professor ergriffen wurden, sind leichter zu erklären, als zu entschuldigen. Im Jahre 1834 ließ sich Herr Guizot, der die Schule gegen den politischen Tummelplatz vertauschte, auf dem Lehrstuhl der Facultät der schönen Wissenschaften ersetzen. Ein Jahr darauf bekundete unser Professor durch die Herausgabe der „Memoiren Luther’s, geschrieben von ihm selbst“ (Mémoires de Luther écrits par lui-même) seine Hinneigung zum Protestantismus. Dieses Werk ist aus Stellen, die sich in Briefen, Reden und Schriften des deutschen Reformators finden, zusammengesetzt.

Im Jahre 1838 gelangt Michelet auf den Lehrstuhl für Geschichte und Moral am Collège de France, der sich durch den Tod des Herrn Daunon erledigt fand. Kurz darauf wird er als Nachfolger des dahingeschiedenen Grafen Reinhard in die Akademie aufgenommen.

Bezeichnend ist es, daß der König Ludwig Philipp seiner Tochter Clementine von Michelet Unterricht in der Geschichte ertheilen ließ, doch ging der Professor nicht in die Tuilerien, sondern die Prinzessin kam zu ihm. Oefters wartete sie geduldig, wenn ihr Lehrer, durch Geschäfte veranlaßt, aus dem Hause war und sich später als zur festgesetzten Stunde einfand. Michelet hätte durch diese nahe Beziehung zum Hofe die größten Vortheile erreichen können; allein er hat es verschmäht, sie auch nur im Geringsten zu benutzen; er sah in der Prinzessin nichts weiter als seine Schülerin, die er in seiner Weise zu belehren, aufzuklären suchte. Er hat sogar das Anerbieten, ihn dem König vorzustellen, zurückgewiesen.

Am Collège de France bekämpfte Michelet mit Edgar Quinet um die Wette die Jesuiten, welche in Frankreich neue Niederlassungen und Schulen gründen wollten. Der Streit wurde heftig. Die beiden Professoren schlagen und treffen fürchterlich. Die erschreckten Väter, denen es an das moralische Leben geht, greifen ihrerseits mit allem Ungestüm die Professoren an, in wüthenden Hirtenbriefen und anderen frommen Schriften, sie erregen Michelet Stürme im Lehrsaal, außerdem wissen sie durch ihren weit reichenden und weit verzweigten Einfluß die Sache vor die Pairskammer und vor die Versammlung der Abgeordneten zu bringen Die Juliregierung, von allen Seiten durch diesen tausendköpfigen, tausendarmigen Einfluß bestürmt, sah sich bewogen, mit der Gesellschaft durch einen Abgesandten an den General derselben zu unterhandeln, und es wurde die Vereinbarung getroffen, daß die Jesuiten ihr Vorhaben, in Frankreich neue Gemeinschaften zu gründen, aufgäben und den Feindseligkeiten des Collège de France gegen die Gesellschaft Jesu Zügel angelegt würden. Edgar Quinet verließ den Lehrstuhl am Collège de France, weil sich das Ministerium herausnahm, ihm ein Wort in dem vorgelegten Programm zu streichen. Und Michelet setzte allein, unerbittlich, unerschütterlich den Kampf fort, ohne sich um das getroffene Abkommen zu kümmern, das er verachtet, ohne die Stürme zu beachten, die gegen ihn von allen Seiten heraufbeschworen werden. Er läßt (1844) das Buch: „Von dem Geistlichen, der Frau und der Familie“ erscheinen, welches heute eine bedeutende Rolle spielt und das ein besonderes Schicksal hat, wie weiter unten erwähnt wird.

Doch auch gegen die Regierung, die sich auf schlechtem Wege befand und den eben so dringenden als bescheidenen Forderungen der Nation einen starren Widerstand entgegensetzte, waren die Angriffe in den Vorträgen Michelet’s gerichtet. Und die verblendeten Staatsmänner am Ruder erblickten in einer Propaganda, die bereits im ganzen Lande gemacht war, eine Gefahr, sie hatten Angst vor Worten, die nichts weiter als ein beredter Ausdruck der allgemein vorherrschenden Stimmung waren, und schlossen 1847, den Tag vor ihrem Fall und vor dem Fall des Thrones, den sie stützten, dem Professor den Mund.

Im lateinischen Viertel entsteht eine Aufregung, so wie die Maßregel bekannt wird, die zu einem Aufstand anzuwachsen droht. Zweitausend Studenten vereinigen sich und rücken vor die Kammer der Abgeordneten, um von dieser die Wiedereinsetzung ihres Meisters in sein Lehramt zu verlangen. Die Schaar ward auf ihrem Zuge in allen Straßen von der Menge jubelnd begrüßt und durch Zuruf ermuthigt. Ein Blinder konnte sehen, daß Paris, und also Frankreich, zu den Studenten hielt. Die Kammer widersteht, wie die ausübende Gewalt, und überläßt es der Februarbewegung, Michelet seinen Lehrstuhl und der französischen Nation das verlangte Recht zurückzugeben.

Daß der Präsident Ludwig Napoleon einen öffentlichen Lehrer wie Michelet nicht dulden konnte, ist wohl nicht nöthig anzuführen, eben so wenig, als daß Michelet dem Kaiser Napoleon nicht den Schwur der Treue leisten wollte. Nach dem Staatsstreich gab er seine Stelle im Archiv auf. Seit jener Zeit lebt er zurückgezogen seiner Familie und seinen Arbeiten. –

Wir fuhren also, mein Freund und ich, zu Herrn Michelet. Wir traten in ein ganz gewöhnliches Haus, dem Luxembourg-Garten gegenüber, stiegen zwei Treppen hoch und klingelten. Eine Magd öffnete und wies uns, ohne uns anzumelden, in den Salon. Kannte sie meinen Freund, oder wird Jeder, der kommt, in dem Hause des Gelehrten gastlich aufgenommen, ich weiß es nicht.

[410] Der Salon besteht aus einer geräumigen Stube in geviertelter Form, mit anständiger Einrichtung, ohne allen Aufwand, mit zwei gut gemalten Bildern, das Ehepaar, welches wir besuchten, darstellend. Kaum hatte ich Zeit, mich etwas umzusehen, um aus den Gegenständen den Charakter der Bewohner herauszulesen, als Madame Michelet eintrat. Sie ist eine Frau von etwa 28 bis 30 Jahren, eine anmuthige, gewinnende Erscheinung; sie begrüßte D., der kürzlich aus Constantinopel zurückgekehrt ist, mit Herzlichkeit und empfing mich, den Vorgestellten, in ungezwungener, liebenswürdiger Weise.

Bald darauf kam Herr Michelet. – Er ist unter mittlerer Größe. Trotz der grauen Haare ist etwas jugendlich Belebtes in seinem Wesen. Die Züge seines Gesichts sind beweglich und einnehmend, sie folgen den Gesprächen, sie geben rasch die verschiedenen Eindrücke wieder, wie sie der „poetische Gelehrte“ empfängt. Aus seinem grauen Auge spricht ein tiefer Ernst, Aufrichtigkeit, Wohlwollen und Schwärmerei. Er ist sehr angemessen, weder nachlässig, noch allzu sorgsam gekleidet. Die ganze Weise, sein Auftreten und Benehmen, ist französisch, und es fiel mir auf, daß in dem Knopfloch seines Rockes das rothe Bändchen fehlte, das Abzeichen des Ehrenlegionordens, der ihm 1833 verliehen worden war.

D. stellte mich ihm als einen deutschen Schriftsteller vor, der ihn um Etwas zu bitten hätte.

„Ich bin zu Ihren Diensten,“ rief Michelet, und sein ganzes Wesen schien von dem Wunsche beseelt, mir gefällig und nützlich zu sein. Michelet ist nämlich der dienstfertigste Mensch, den man finden kann. Ganze Tage läuft er umher, klopft bei Freunden und Bekannten an, beutet all’ seine Verbindungen aus, wenn es gilt irgend Jemandem, der ihm empfohlen ist oder sich ihm selbst empfohlen hat, behülflich zu sein, eine Anstellung oder sonst ein Unterkommen zu verschaffen. Und was er nie für sich gethan hat, das thut er für Andere. Und er genießt eines solchen Ansehens, selbst bei seinen politischen Gegnern, daß seine Empfehlung sogar in der amtlichen Welt einen Werth hat, besonders seitdem die Regierung mit der Klerisei zerfallen ist und man von oben herab den abgesetzten Professor hat wissen lassen, daß er nun die zweite Auflage des Buches „Von dem Geistlichen, der Frau und der Familie“ ungehindert erscheinen lassen könne, das seit dem Staatsstreich verpönt gewesen war.

Ich sprach die Bitte aus, von ihm selbst über sein Leben Etwas zu erfahren, um es der verbreitetsten Zeitschrift auf dem Festlande mitzutheilen.

„Unsereiner“, versetzte Michelet mit natürlicher Offenheit, „hat kein Leben, was man eigentlich so nennt. Ich stehe des Morgens zeitig auf, frühstücke und gehe in die Bibliothek. Um zwei Uhr Nachmittags komme ich nach Hause und empfange meine Freunde, wie Sie sehen. Ich bin zweimal von meinem Lehrstuhl entfernt worden. Meine Werke sind mein Leben.“

„Also wie unsere deutschen Gelehrten,“ bemerkte ich.

„Ganz so. Nicht wahr, Kant ist aus Königsberg nicht über sieben Meilen weit herausgekommen?“

Ich nickte bejahend. – „Wenn Sie kein äußeres Leben haben, so haben Sie doch ein inneres,“ bemerkte ich.

„Fragen Sie, und ich werde Ihnen antworten,“ sagte zuvorkommend Michelet.

„Ein solches Vornehmen ist zu zarter Natur, und ich kann mir es nicht erlauben. Ich weiß, daß es Dinge in dem inneren Leben eines Menschen giebt, von denen man nicht sprechen will.“

„Warum denn nicht? Ich bin bereit Alles zu sagen.“

Es war diese Versicherung so natürlich vorgebracht, daß sie einen tiefen Eindruck auf mich machte. Mir dünkte dieses eine Wort hinreichend, um einen bedeutenden Menschen anzuzeigen. So fremd wie ich dem Gelehrten bei einer ersten Begegnung war, hätte ich es aber für unangemessen gehalten, von dem außerordentlichen Anerbieten Gebrauch zu machen.

„Uebrigens,“ erklärte Michelet, als er meine Zurückhaltung bemerkte, „findet sich in der Vorrede zu meinem Büchlein „Das Volk“, welches 1846 erschien, ein kurzer Abriß meines Lebens. Es ist diesen Angaben nur Weniges hinzuzufügen, etwa: daß ich mich wieder verheirathet habe, daß ich durch meine Frau zum Studium der Naturwissenschaften geführt wurde. Wir haben „die Insecten“, „das Meer“ und „den Vogel“ geschrieben. Diese Werke haben mich neben meinen historischen Arbeiten beschäftigt.“

Frau Michelet bemerkte, daß Biographien ihres Gatten von Hippolyte Castille und – sie lachte – von Herrn Mirecourt vorhanden seien.

„Von Herrn Mirecourt!“ rief der Gelehrte. „Der gute Mann hat in seiner Freundlichkeit versichert, daß ich beichte und regelmäßig jeden Monat das Abendmahl genieße. Ich habe nie gebeichtet und nie das Abendmahl genossen; als ich zur Welt kam, waren die Kirchen in Frankreich geschlossen oder in Werkstätten umgewandelt, die Druckerei meines Vaters befand sich in einer Kirche, und ich habe gearbeitet, wo man sonst betet.“

Michelet wandte sich, da der besprochene Gegenstand erschöpft war, an D. mit der Frage nach den Zuständen von der Türkei, „die wohl recht krank sei“.

D. äußerte die Meinung, daß die Türkei mehr Lebensfähigkeit besitze, als man in Europa annehme.

„Wohl möglich,“ versetzte Michelet; „denn krank ist dieses Reich so lange es besteht,“ und er erinnerte an das Factum, daß die Türken in ihrer Blüthezeit Knaben raubten, um sich durch äußere Anhäufung wie die Steine zu vermehren.

„Es bringt wohl die social-politische Einrichtung, wie sie durch den Koran festgestellt ist,“ bemerkte ich, „diese Krankheit mit sich. Die Vielweiberei, durch welche die Bildung der Familie unmöglich gemacht wird, ist wohl an der chronischen Schwäche der Mohamedaner schuld, weil sie mit einer Herabwürdigung der Frau, mit der Herabwürdigung der Mütterlichkeit selbst zusammenhängt.“

„Wunderlicherweise,“ bemerkte er, „sind die Türken wegen der Neugierde unserer Soldaten, die gar zu gern von den Gartenmauern aus die türkischen Frauen lustwandeln sehen, uns abgeneigter, als den Engländern, obgleich unser Benehmen viel angenehmer, als das der Engländer ist.“

„O die Engländer sind hart,“ rief Frau Michelet, „man sehe nur, wie sie ihre Frauen behandeln.“

Obgleich gewohnt, von Franzosen aller Bildungsstufen alles Englische mit Ungerechtigkeit behandelt zu sehen, konnte ich doch nicht unterlassen, dieser Ansicht mit einiger Lebhaftigkeit entgegen zu treten.

„Meines Wissens,“ versetzte ich, „behandeln die Engländer ihre Frauen mit einer Rücksicht, die der Franzose, seiner eigenen Ehehälfte gegenüber, nicht selten außer Acht läßt.“

„Weiht der Engländer seine Frau doch nicht einmal in den Gang der Geschäfte, in den Stand des Vermögens, kurz in die wichtigsten Angelegenheiten der Familie ein,“ entgegnete Michelet.

„Er läßt sie aber dafür,“ versetzte ich, „im Hause unumschränkt gebieten, ja, in vielen Stücken sich von ihr lenken, er liebt und ehrt sie mehr, als es der Schroffe zeigen mag. Daß er sie dem Drange und den Sorgen der Geschäfte fern hält, gereicht ihm vielleicht eher zum Lobe, als zum Vorwurf; es spricht sich darin vielleicht eher eine zarte Schonung als Geringschätzung aus. Wie es der angelsächsische Stamm mit den Frauen hält, zeigt sich in den Vereinigten Staaten, wo der Mann, wer es auch sein mag, den Frauen den Platz räumen muß.“

„Im Grunde,“ gestand Michelet zu, „versteht der Engländer die Heiligkeit der Familie, und es gefällt mir an ihm, daß er sein Haus geschlossen hält. Bei uns Franzosen haben die Hauser gar keine Thüren. Man tritt ein und man ist da.“

Noch viele andere ebenso interessante Fragen regte der Gelehrte an, und sprach über dieselben in eben so origineller, als anziehender und belehrender Weise. Sein Ausdruck ist kräftig, seine Stimme hell und wohltönend. Durch die Einfachheit, die Lebendigkeit, die höhere Anschauung des berühmten Mannes gewonnen, eine Gedankenbewegung im Kopfe, verließ ich das schlichte Haus.

Michelet hat seit dieser Zeit noch zwei Bücher erscheinen lassen: „die Liebe“ und „die Frauen“, beide voll feiner und tiefer Blicke in das weibliche Herz, obwohl ich auch hier nicht Alles als unangreifbare Wahrheit unterschreiben möchte. Namentlich für deutsche Leser ist Vieles verletzend. Aber auch in diesen Büchern hat er seine große Kunst bewährt, den Leser zu fesseln, das Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen und durch schlagende Behauptungen zu überraschen. Jedenfalls sind beide Bücher nicht ohne Beihülfe seiner liebenswürdigen Frau entstanden.



  1. WS: Hochkommasetzung sinngemäß korrigiert.