Pariser Bilder und Geschichten/Die „Leute vom Handwerk“

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Titel: Pariser Bilder und Geschichten/Die „Leute vom Handwerk“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 638, 640-642
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Pariser Bilder und Geschichten.

Die „Leute vom Handwerk“.
Verbrecherkasten. - Diebesgenerationen. – Jüdische Diebesfamilien. – Zweihundertundneun Jahre Zuchthaus. – Hehlermatadore. – Diebesspecialitäten und Diebessprache. – Der Diebstahl „am Pfefferstrauch“. – Der Taschendieb „à la chicane“. – Ladendiebe. – Der Diebstahl mit dem „Mäuschen“. – Die anhängliche Nase. – Der Roulatier. – Die schwere Cavalerie des Diebesheeres. – Ein ritterlicher Einbrecher. – Diebeskunststück in der Polizeipräfectur. – Der „Sandmann“. – Der Diebeszüchter. – Der Dieb am Diebe. – Die Steinbrüche von Amerika. – Polizeirazzien. – Das „Brett zum Brode“.

Jemehr die Zahl unserer Großstädte und deren Wachsthum zunimmt, um so üppiger wuchert das Verbrechen und die Gefahr vor demselben. Wir haben doppelt und dreifach Ursache, diesem Uebel so scharf als möglich in’s Gesicht zu sehen, und da es längst einen internationalen Charakter angenommen hat, so sind wir gezwungen, ihm in diejenigen Stätten nachzugehen, an welchen es neben den strengsten Hochgerichten seine blühendsten Hochschulen hat. Unsere Leser wissen, daß wir derlei ihnen nicht zur puren Unterhaltung mittheilen, sondern daß wir uns für verpflichtet halten, es mitzutheilen, um durch die möglichst genaue Kenntniß, durch die möglichste Entschleierung des häßlichen Geheimnisses zu bewirken, daß der Einzelne sich gegen Schaden schützen lerne und die Gesammtheit mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut werde, daß es ihr nicht genügen dürfe, die Verbrecher von der Obrigkeit verfolgt zu wissen, sondern daß auch sie selbst mit Hand anlegen muß, um die Quellen dieses vom Willen des Menschen abhängigen Unglücks nach Möglichkeit zu verstopfen.

Wie in London, wie in Newyork, wie in Berlin und anderen Welt- und Großstädten ist die Diebesgesellschaft auch in Paris ein Volk für sich, durchschnittlich auf das Strengste geschieden von der redlich schaffenden Bewohnerschaft, in deren Mitte es lebt, ohne Heimath und Vaterland, mit seinen ganz besonderen Talenten und seinen besonderen Sitten und Gebräuchen, von denen es nicht läßt, obwohl gerade diese Eigenthümlichkeiten häufig die [640] Ursache von Entdeckung und Bestrafung werden. Man erzählt wunderbare Geschichten von der Opulenz, dem Glanze, der Herrlichkeit und den Freuden, in denen gewisse Pariser Diebesmatadore schwelgen sollen; zum allergrößten Theil sind derlei Geschichten aber in’s Reich der Fabel zu verweisen, denn von hundert Dieben und was in ihre Kategorie fällt, führen womöglich mehr als neunundneunzig das elendeste Leben, das sich nur denken läßt: immer auf der Jagd und immer gejagt, stets auf der Hut und stets auf der Lauer, auf das kleinste Geräusch lauschend und nur mit einem Auge schlafend; ewig in Angst und ewig von Leidenschaft gequält, mit einem Wort, ein Höllenleben, eine Existenz, welche buchstäblich auch nicht einen Moment ruhigen Behagens in sich schließt. Gar Viele haben seit Jahren kein anderes Dach über dem Kopf gehabt, als Brückenbogen, im Bau begriffene Häuser, die Gypsöfen und Steinbrüche am Saume von Paris, und wissen nicht, was tägliches Brod heißt. So ist es denn auch keine Seltenheit, daß ein Dieb, wenn er fühlt, wie mit zunehmendem Alter die Kraft schwindet, dieser ewigen Hetze ohne eine Minute des Verschnaufens Trotz zu bieten, sich selbst der Polizeipräfectur ausliefert. „Da habt Ihr, den Ihr sucht,“ spricht er dann wohl, „ich kann nicht mehr!“ Nichtsdestoweniger muß dieses Leben seinen Reiz besitzen, weil Jahr aus, Jahr ein so viele Menschen es sich freiwillig erwählen, denn, was man auch behaupten mag, es ist constatirt: aus Noth und Hunger wird selten gestohlen.

Es giebt in Paris ganze Generationen von Dieben; der Großvater hat gestohlen, der Vater stahl, der Sohn stiehlt, der Enkel wird stehlen. Kaum kann das Kind laufen, so wird es schon zum Gewerbe angelernt; man lehrt es ohne Geräusch auftreten und gehen, sehen, ohne daß es sich umzublicken scheint, mit einem Nagel ein Thürschloß öffnen, den gestohlenen Gegenstand rasch verbergen, selbst mit „Haltet den Dieb!“ schreien, wenn es verfolgt wird, und andere unentbehrliche Kunstgriffe des Handwerks mehr. Die Familien Piednoir, Coeur-de-Roy, Nathan figuriren seit Jahrzehnten in den Annalen der Polizei und machen ihr noch heute zu schaffen. Die Verurtheilungen, welche die letzterwähnte Familie, Vater, Mutter, Brüder und Schwiegersöhne, zusammen vierzehn Personen, traf, beliefen sich auf die hübsche Zahl von zweihundertundneun Jahren Zuchthaus! Dergleichen Diebesgeschlechter sind gar nicht so selten jüdischen Stammes.

Auch in Paris hat der Diebesstaat seine feste Gliederung, jede Art desselben bezeichnet eine bestimmte Kaste, die von den anderen streng geschieden ist. Diebe, welche mehrere Zweige des Handwerks cultiviren, giebt es kaum, im Gegentheil ergreift von vornherein, je nach Neigung und Anlage, jeder seine bestimmte Specialität, in welcher er sich schließlich zur Meisterschaft ausbildet. Die Namen der verschiedenen Gewerbsabstufungen sind sämmtlich dem Argot, dem Gaunerrothwälsch, entlehnt, einer Sprache, die reich ist an energischen Ausdrücken und treffenden Bildern und Vergleichungen und ihrerseits zum Theil dem Kalo der Zigeuner entstammt.

Als Debüt in der Kunst der Annexion gilt der Diebstahl „am Pfefferstrauch“ (vol au poivrier). Unter „Poivrier“ versteht die Gaunersprache nämlich einen betrunkenen Menschen, der, seiner Füße und Sinne nicht mehr mächtig, in den Pariser Straßen umhertaumelt und nach einem Plätzchen trachtet, wo er seinen Rausch ausschlafen kann. Sowie der Dieb eines solchen Pfefferstrauches ansichtig wird, folgt er ihm, stellt sich, als wolle er ihm Hülfe leisten, und schafft ihn nach einer Ruhestatt, meist einer Bank auf den Boulevards. Während er ihn nun hier in bequeme Lage zu rücken sucht, plündert er den Bewußtlosen dabei gemüthlich aus und geht in aller Ruhe davon, sobald er sein Opfer schnarchen hört. Unter den Taschendieben, den Tireurs, sind die vornehmsten die tireurs à la chicane, d. h. jene außerordentlichen Meister ihrer Kunstbranche, welche dem Opfer, das sie ausbeuten, den Rücken zukehren. Einer der berühmtesten aus dieser höchsten Classe von Taschendieben war ein gewisser Mimi Lepreuil, welcher bei seinen Genossen nur „die goldene Hand“ hieß. Die Polizei kannte ihn recht wohl und würdigte ihn einer ganz besondern Ueberwachung, allein es glückte ihr niemals, den Gauner auf der That zu ertappen. Schließlich hatte er sich vom Geschäfte zurückgezogen und lebte mit der nicht zu verachtenden Jahresrente von fünfzehntausend Franken als „respectabler“ Particulier, soll indeß später wieder herabgekommen sein und jetzt den Mouchard, Spitzel, machen. Einst war vor der Börse ein Arbeiterkrawall entstanden, und unter der Menge befand sich auch die „goldne Hand“. Ein Polizeiagent erkennt den Mann und fordert ihn handgreiflich auf, sich zu entfernen. „Lassen Sie mich doch in Ruhe,“ anwortet ihm Lepreuil indignirt; „die Bummler da sind ja der Mühe des Stehlens gar nicht werth; ich habe schon fünfhundert Taschen untersucht und auch nicht einen Sou darin gefunden.“

Wirklich staunenerregend ist die Dreistigkeit, mit welcher der Dieb à l’étalage, d. h. an den Auslagen vor den Verkaufsläden, mitten in den belebtesten Straßen und am hellen lichten Tage seinem Geschäfte nachgeht, noch wunderbarer aber seine Geschicklichkeit. Manchmal räumt ein solcher Ladendieb die Magazine eines ganzen Stadtviertels ab. Ganz vor Kurzem erst kam ein junger Mann zur Haft, bei dem man eine Cigarrentasche, einen goldenen Ring, einen eleganten Spazierstock, eine Brieftasche und ein Paar Damenstiefeln fand, Alles funkelnagelneu, die Ernte eines einzigen Morgens von verschiedenen Ladenauslagen in den frequentesten Stadttheilen. Manchmal betheiligen sich auch zwei am Geschäft; der Eine stiehlt einen der ausgelegten oder aushängenden Gegenstände und eilt davon. Sobald er aus dem Gesicht ist, tritt sein Spießgesell in den Laden, macht den Inhaber auf den Diebstahl aufmerksam und weist auf einen beliebigen Vorübergehenden als auf den Dieb. Wüthend stürzt der Kaufmann dem vermeintlichen Spitzbuben nach, sein Personal, die Nachbarschaft schließt sich ihm an, und diesen Moment benützt der Helfershelfer, sich seinerseits in das Verkaufslocal zu verfügen, um sich daraus in aller Gemächlichkeit anzueignen, was ihm verwerthbar scheint.

Eine noch weit gefährlichere Diebesspecies sind die „à la vrille“ arbeitenden Langfinger, die oftmals ein ganzes Magazin von A bis Z ausplündern, so daß der arme Besitzer darin nichts mehr vorfindet als die nackten Wände. Unter dem Vorwand eines kleinen Einkaufs tritt bei Tage der Dieb in den Laden, prägt sich die Einrichtung desselben genau in’s Gedächtniß, erspäht, wo die Ladencasse verwahrt wird und ob die Klingel an der Thür etwa mit den Wohngemächern des Kaufmanns in Verbindung steht. In den ersten Morgenstunden, wenn auch das rastlose Paris endlich auf kurze Zeit eingeschlafen ist, erscheint er nun mit seinen Cumpanen auf dem recognoscirten Terrain. In die meist mit Eisen gefütterten Fensterläden wird mit Hülfe eines Metallbohrers dicht neben einander eine Reihe von kleinen Löchern gebohrt, bis sie sich nach und nach zu einer Oeffnung erweitern, welche groß genug ist, ein Kind durchschlüpfen zu lassen. Dieses, der sogenannte Raton, das Mäuschen, ein gewandter, schmächtiger, kleiner Junge, muß nun hinein, um die ihm bezeichneten Gegenstände zusammenzuraffen und sie den Dieben draußen zuzustecken. Sind die zu stehlenden Dinge umfänglicher Art, so sperrt das Mäuschen die verwahrte Ladenthür auf, die Diebe dringen in das Local und räumen in aller Bequemlichkeit darin auf, während natürlich auf der Straße ein Posten Wacht hält, um Alarm zu geben, sowie sich etwas Verdächtiges regt. Die Diebe à la vrille sind verwegene Bursche, welchen es gelegentlich auch auf einen Mord nicht ankommt.

Minder gewaltsam verfahren die Carreurs, fast ohne Ausnahme vom Stamme Juda’s, die alle äußersten Mittel thunlichst vermeiden. Der Carreur ist höflich, fein und elegant gekleidet und affectirt in seinem Französisch gewöhnlich einen ausländischen Accent. Seine Beute sind die Juweliere, von denen er sich nicht gefaßte Diamanten, sogenannte Steine in Papier, vorlegen läßt. Man beeifert sich dem vornehm aussehenden Käufer die kostbaren kleinen Couverts auseinander zu falten, welche oftmals Hunderte der werthvollsten Brillanten umschließen. Unser Carreur ist stets kurzsichtig, er muß die Steine ganz nahe an’s Auge halten, um sie prüfen zu können, so nahe, daß die Nase mit den Diarnanten in Berührung kommt. Die Nase aber ist mit Jungferwachs überzogen und ein paar kleine Brillanten bleiben zufällig daran kleben, um mit Blitzesschnelle im Aermel des Gauners zu verschwinden. Dann und wann macht er seine Annexionen wohl auch mittels einer schnellen Zungenbewegung oder durch seine hohle Hand, die mit Gummi Tragant bestrichen ist. Arbeitet der Carreur in einem offenen Bijouterieladen, so ist sein Verfahren ein etwas anderes. Während er sich die ihm vorgelegten Ringe und Nadeln besieht, erscheint ein Bettler an der Thür und bittet näselnd um ein Almosen. Der Carreur ist gutherzig und leicht [641] von fremder Noth zu rühren, mitleidig wirft er dem Armen einige Sous in den Hut, mit diesen zugleich aber auch einen werthvollen Bijouterieartikel, worauf der anprovisirte Bettler schleunigst abzieht. Wird der Diebstahl alsbald entdeckt, so geräth der Carreur in höchste Aufregung und besteht darauf, daß man ihn durchsucht. Natürlich wird nichts an ihm gefunden, der Kaufmann erschöpft sich in Entschuldigungen und mit dem Stolze der gekränkten Unschuld schreitet der Dieb aus dem Magazine. Ohne Zweifel ist unseren Lesern noch der große Juwelendiebstahl erinnerlich, der vor wenigen Jahren einen Bijouterieladen des Palais Royal um einen Werth von hunderttausend Franken ärmer machte und in und außer Paris das gewaltigste Aufsehen erregte. Er war das Werk zweier Carreurs, die sich bis heutigen Tages den Armen der Justiz zu entziehen gewußt haben.

Die „Roulatiers“ treiben ihre Kunst auf offener Straße; sie decimiren die Güterrollwagen der Spediteure und Eisenbahnen. Auf gut Glück durchstreifen sie die Geschäftsgegenden der Stadt, und sobald sie eines der erwähnten Transportvehikel erspähen, so ziehen sie ihm nach. Verläßt nun der Führer sein Gefährt nur einen Augenblick, so packen sie hastig eine Kiste, ein Faß, einen Koffer, werfen sich damit in die erste beste Seitengasse und gehen hier langsam weiter wie ehrliche Arbeiter, die erschöpft sind von der Last, welche sie tragen. Vor der Aera der Eisenbahnen waren es vorzugsweise die Postkarren, welchen die Roulatiers ihr Interesse zuwandten, und oft mit fabelhaftem Glücke. Noch sind es nicht zwei Monate her, daß drei auf Abenteuer ausziehende junge Roulatiers einen Schleifkarren entdeckten, der mit plombirten kleinen Kisten beladen aus der kaiserlichen Münze herausgefahren kam. Der Fuhrmann trat auf einige Minuten in eine auf seinem Wege liegende Weinschenke, und mit affenartiger Geschwindigkeit bemächtigten sich unsere jungen Galgencandidaten einer der Kisten und verschwanden damit in einer Nebenstraße. Natürlich ward die Polizei ungesäumt von dem Vorfall in Kenntniß gesetzt, und es gelang ihr, die Schuldigen in einer Diebesspelunke vor den Barrièren zu ergreifen. Man hielt Haussuchung in ihrer Wohnung und fand daselbst nicht blos die geraubte Kiste, welche für mehrere Tausend Franken für Rom geprägte Heiligenmedaillen enthielt, sondern auch ein völliges Waarenlager von auf ähnliche Weise gestohlenen Gütern. Dutzende von Stücken Tuch, Kaffeesäcke und einen ganzen Ballen mit Photographierahmen, der von einem Pariser Fabrikanten an einen Photographen in der Provinz verladen worden war.

Sämmtliche der bis jetzt aufgeführten Diebesgattungen gehören nebst einer Unzahl anderer Spitzbubenclassen zum niederen Gevögel, der basse pègre (pègre vom lateinischen piger, Faullenzer); sehen wir uns nun auch etwas unter der haute pègre um, unter jenen Verbrechern, die sich selbst mit Stolz die schwere Cavalerie ihres Heeres zu nennen pflegen. Zu ihren untersten Graden gehört der „Cambrioleur“, welcher am Tage in die Wohnung einbricht, wenn deren Inhaber nicht anwesend sind. Zu diesem Behufe steigt er unbefangen die Treppen der Häuser hinan und klingelt, unter irgend einem beliebigen Bewerbe, von Etage zu Etage, bis er an eine Thür kommt, wo auf sein wiederholtes Schellen Niemand erscheint. Hier bricht er ein und raubt aus den Zimmern, was er nur erwischen und ohne Aufsehen zu erregen fortschleppen kann. Ein origineller Kauz von Cambrioleur, ein Nachfolger der chevaleresken Straßenräuber des vorigen Jahrhunderts, war ein gewisser Jadin, der es im Oeffnen der Thürschlösser mittels des Monseigneur, eines kleinen Brecheisens, zu einer Fertigkeit sonder Gleichen gebracht hatte. Führte ihn der Zufall einmal in eine Wohnung, deren Einrichtung von der Mittellosigkeit ihres Inhabers zeugte, so steckte er nicht nur nichts zu sich, sondern ließ darin oft sehr erhebliche Spenden zurück.

Wiederum eine Staffel höher auf unserer traurigen Stufenleiter steht der „Caroubleur“, der Dieb mittels Dietrich und Nachschlüssel. Noch heute dürfte die Pariser Polizeipräfectur einen dieser Caroubleure in treuem Andenken halten, der sich den Namen Beaumout beigelegt hatte. In schwarzem Rock und weißer Cravatte, ein großes amtliches Portefeuille unter dem Arme, ganz mit dem Aussehen eines vielbeschäftigten und pressirten Beamten erscheint dieser Mensch eines Nachmittags auf der Präfectur, requirirt einen der dort postirten Soldaten, stellt ihn als Schildwache vor eine bestimmte Thür, befiehlt ihm, Niemand passiren zu lassen, und dringt in das Directorialzimmer ein, wo, wie er genau wußte, der Vorstand des Sicherheitsdienstes eben nicht anwesend war. Unverzüglich bemächtigt er sich der Casse, welche gerade ein recht rundes Sümmchen enthielt, führt den Soldaten selbst auf die Wachstube zurück, dankt dem Officier für seine Gefälligkeit und schreibt Abends dem bestohlenen Chef ein verbindliches Billet, in dem er um Verzeihung der verursachten Ungelegenheit bittet. Bis heutigen Tages hat die Polizei den kecken Caroubleur nicht aufspüren können, welcher sich den Spaß machte, an ihr selbst eine Probe seiner Kunst abzulegen.

Noch ein gut Stück weiter oben in der Rangordnung treffen wir den „Scionneur“, der Nachts dem Wanderer in den Umgebungen von Paris Börse oder Leben abfordert, sein Opfer mit einem Stockschlage oder einem Steinwurfe betäubt und dann bis auf’s Hemde ausplündert. Der Scionneur ist fast immer zugleich auch Mörder, das Menschenleben, das ihn genirt, wird ohne Reue und Bedenken vernichtet. Besonders schlimme Gesellen waren die Scionneurs, welche ehedem am Seine-Canale ihr Unwesen trieben, ihr Werkzeug war die bekannte Garotte. Mit Hülfe derselben ward das unglückliche Wild seiner Uhr, seines Geldes, seiner Brieftasche etc. beraubt und schließlich mit einem Stoße in den Canal hinabgeschleudert. Operirt der Scionneur allein oder scheint ihm eine offene Attake bedenklich, so betäubt er die ausersehene Beute durch „Sanden“. Er trägt nämlich eine mit Sand gefüllte Aalhaut bei sich, die, sehr biegsam und zugleich sehr schwer, eine furchtbare Waffe abgiebt und mit einem geschickt geführten Schlage auch einen Riesen zu Boden streckt. Nach vollbrachter Unthat macht er seine Aalhaut auf und schüttelt den Sand aus, und wenn er darauf ruhig, vielleicht trällernd seines Weges geht, wer möchte dann wohl in dem Wehrlosen den Urheber eines eben begangenen Mordes argwöhnen?

Das Haupt der Clans endlich, der General, zu welchem alle die aufgezählten Soldaten und Officiere des Heeres in ehrerbietiger Bewunderung aufblicken, ist der „Escarpe“, der Mörder, das heißt nicht der Dieb, welcher aus Rache oder um sich eines Zeugen zu entledigen tödtet, sondern der Mensch, der aus Grundsatz, aus Gewohnheit oder Berechnung erst mordet und dann stiehlt. Zum Glück sind solche Ungeheuer doch nur selten, die Mehrzahl derselben aber, welche vor den Assisen Rechenschaft geben mußten von der langen Reihe ihrer Verbrechen, haben eine Willenskraft, eine Energie, eine Intelligenz an den Tag gelegt, die, wenn schon mit Schmerz, so doch auch mit unwillkürlicher Bewunderung erfüllen. Der Escarpe ist keine Pariser Specialität, er gehört leider der gesammten menschlichen Gesellschaft an und deshalb im Grunde nicht in den Rahmen unserer Skizze. Wohl aber müssen wir noch ein Wort von den sogenannten „Nourrisseurs“, den „Diebeszüchtern“ sagen. Wie es Geschäftsleute giebt, welche zwischen Käufern und Verkäufern vermitteln, so giebt es ängstliche oder altgewordene Diebe, vom thätigen Leben zurückgezogene alte Praktiker, die ihre Erfahrung kühneren Geistern zur Verfügung stellen. Sie spioniren die Gelegenheit aus, bereiten die That vor, wägen gute und böse Chancen gegeneinander ab, und sobald das Unternehmen reif ist, treten sie die Ausführung desselben entweder gegen eine vorher stipulirte Provision oder gegen einen Antheil an dem zu machenden Gewinn ab. Meist sind es alte Hehler, welche sich auf diesen einträglichen Geschäftszweig verlegen.

Alle diese Hochstapler, Gauner, Spitzbuben, Räuber, Mörder beuten fast lediglich den rechtschaffenen Theil der Bevölkerung aus, allein das Handwerk zählt auch eine besondere Kategorie, welche ausschließlich die Diebe selbst angreift, die sogenannten Fileurs. Mitglieder der Zunft, wissen sie leicht die projectirten Unternehmungen auszukundschaften und die Verbrecher auf der That zu ertappen. „Halb Part,“ heißt es dann, „oder ich zeige Dich an.“ Und was der Dieb auch einwendet, ob er an das Ehrgefühl des Cameraden appellirt, von Rache spricht oder für das nächste gewinnbringende Unternehmen eine Compagnie verheißt, der Fileur läßt sich nicht abweisen, erhält seinen Antheil, erscheint bei einer andern Expedition mit der nämlichen Drohung und läßt sich für sein Stillschweigen mit einer ähnlichen Summe abfinden. Die geschicktesten Fileurs sind Juden, „filiren“ aber stets blos den christlichen Diebsgenossen, niemals den ihres eigenen Glaubens.

Ehemals lagen die Schlupfwinkel der Pariser Diebe mitten in der Stadt; in den winkligen Gassen der Cité, in den schmutzigen, einsamen Gäßchen um das Palais Royal und den Louvre herum, [642] in den unteren Quartieren des Temple fanden sie ihre finsteren Verstecke, die aus den Geheimnissen von Paris bekannten „Tapis-Francs“, ihre Schänken und Lustorte. Heute ist mit dem Abbruch der alten unheimlichen Häuser und Straßen auch die Mehrzahl der Diebesspelunken im Herzen der Stadt verschwanden und die Spitzbubenwelt in Masse in die Gegend der vormaligen Barrièren, in jene unlängst annectirten Bezirke übersiedelt, die mit dem eigentlichen Paris vorläufig blos in administrativer Hinsicht verbunden zu sein scheinen. Hier haben sie ihre Cafés, ihre Estaminets, ihre Weinhändler, ihre Bälle, allein auch in diesen Localen macht sich die strenge Kastenscheidung geltend, der Scionneur, der Caroubleur, der Cambrioleur, der Roulatier – jeder Zweig des Geschäfts hat seine eigene Localität, in welcher er verkehrt. Wirkliche Wohnstätten aber, ein eigenes und eigentliches Obdach besitzen nur die wenigsten, und diese Glücklichen hausen in der Regel mit ihren „Ouvrières“ zusammen, jenen tiefstgefallenen der gefallenen Geschöpfe, die mit ihrer „Arbeit“ – ja, sie arbeiten, die Beklagenswerthen! – den Dieb unterhalten müssen. Bei weitem die meisten wohnen gar nicht, sie campiren unter freiem Himmel trotz Regen und Polizeipatrouille. Lange waren die Kalköfen des Montmartre ein Lieblingsort aller Vagabunden und Spitzbuben, heute, wo diese Asyle nicht mehr existiren, hat sich die Bande nach Bagnolet und Pantin hinaus in die „Steinbrüche von Amerika“ – carrrières d’Amérique – geflüchtet, doch auch hier geht ihr Bleiben seinem Ende entgegen, und schon verstreicht keine Nacht, wo ihr leiser Schlummer nicht schon am frühen Morgen, oft schon vor zwei Uhr, durch Polizeirazzien gestört wird. Von einem Officier geführt, schleichen sich die Sicherheitswächter, in mehrere Sectionen getheilt, auf den Fußspitzen an die Schlupfwinkel heran, umzingeln dieselben und besetzen alle Ausgänge. Dann werden plötzlich die Fackeln demaskirt, und mit vereinter Macht geht es auf den improvisirten großen Schlafsaal los. Das Erwachen der Unglücklichen kann man sich denken. Nur die Neulinge suchen sich zu retten, die alten Praktiker erheben sich von ihrem Lager, recken sich die Glieder und ergeben sich ruhig ihren Häschern. Für den größten Theil ist ja das Gefängniß nur eine Erlösung von unbeschreiblichem Elend, und die Anklagebank in der That – „das Brett zum Brode“ (la planche au pain), wie sie das Diebesrothwälsch so ergreifend und so treffend bezeichnet.