Der „Freischütz“ in Amerika

Textdaten
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Autor: M.
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Titel: Der „Freischütz“ in Amerika
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 642
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[642] Der "Freischütz" in Amerika. Die in Nr. 31 der Gartenlaube enthaltene Freischütz-Skizze rief in mir eine Erinnerung wach, die, als weiterer Beweis für das unauslöschliche Interesse im deutschen Volk für die genannte Oper, vielleicht einen Platz in diesen Blättern verdient.

Im Westen Nordamerika’s, im Staate Wisconsin, liegt am Michigansee die Stadt Milwaukie. Im Jahre 1836 gegründet, jetzt hunderttausend Einwohner zählend, genießt sie seit etwa zwei Jahrzehnten unter den Deutschen Amerika’s eines besonders guten Rufes, wegen des dort herrschenden angenehmen geselligen Lebens.

Es war im Jahre 1849, als die Revolution in Deutschland viele junge Bürger zur Flucht und Auswanderung zwang, daß das Zusammenwirken verschiedener Umstände eine nicht unbedeutende Zahl intelligenter gebildeter Familien nach jener Stadt führte, die, damals noch wenig im Auslande bekannt, kaum fünfundzwanzigtausend Einwohner hatte. – Im Gegensatz zu dem bisher üblich gewesenen, ausschließlich nach Gelderwerb haschenden Treiben, entwickelte die neue Einwanderung sofort ein reges Streben nach geistigem Genuß, nach ästhetischer Geselligkeit. In leisem Anfang bildete sich, als innerster Kern, ein Streichquartett für classische Musik, vier Herren, dem Gelehrtenstande angehörig, enthusiastische Kunstliebhaber, thaten sich zusammen und leisteten Vortreffliches. Auch ein Männerquartett fand sich bald. Einige musikalische Damen mit guten, wohlgeschulten Stimmen schlossen sich an, schüchtern wurde ein erstes Concert gewagt, und in rascher Folge, mit keckem Muthe ein Musikverein in’s Leben gerufen.

Ein Wiener Student, politischer Flüchtling, Johann Balatka (jetzt in allen musikalischen Kreisen Amerika’s rühmlichst bekannt), der sich sehr bald durch tüchtige Kenntnisse sowie durch Genialität auszeichnete, wurde zum Musikdirector gewählt, und in kurzer Zeit erstand unter seiner Hand ein wohlorganistrtes Ganzes. Die Pflege und Förderung unter, hauptsächlich deutscher Musik, war Zweck des Vereins, und mit würdigem Ernste strebte jeder Einzelne nach dem gemeinsamen Ziele. Mit großer Mühe wurde ein Orchester zusammengebracht, wo irgend ein böhmischer Musikant zu finden war, oder ein ehemaliges Mitglied einer Militärmusik, da wurde er herbeigelockt und in den Dienst gepreßt. Die Dilettanten brachten Opfer an Zeit und Geld, um die Beihülfe Derer zu erkaufen, die nicht unbezahlt sich anschließen konnten. So wurde es, nach kaum zweijährigem Bestehen, dem Vereine möglich, Haydn’s Meisterwerke, „die Schöpfung“ und „die Jahreszeiten“, in gelungener Weise zu. Ausführung zu bringen, und da zur Zeit in Amerika die deutsche Oper noch wenig oder gar nicht bekannt war, entschloß man sich, einen Versuch mit „Czaar und Zimmermann“ zu machen. Die Oper gelang über Erwarten; man nahm sofort den „Waffenschmied" in Angriff, und da die Lust zu dramatischen Vorstellungen zunahm, wagte man sich in kühnem Fluge an des deutschen Volkes Kleinod, an Weber’s „Freischütz“!

Kaum war der Plan im Publicum bekannt geworden, da strömten von allen Seiten Freiwillige herbei. Wer nur irgend eine Stimme in der Kehle, eine Instrument im Kasten hatte, wollte mitwirken. Die Seele des Orchesters war ein Sanitätsrath F. aus Berlin, der meisterhaft die Geige spielte. Das erste Cello strich ein Gelehrter D., jetzt, wenn ich nicht irre, Professor der Astronomie in Zürich. Die erste Flöte blies ein Arzt aus Rastatt. Auf dem Horn quälte sich ein ehemaliger Großhändler H. aus Berlin. Das Fagott blies der Besitzer einer Leimsiederei, der zu jeder Probe von seiner vier englische Meilen entfernten Farm herein wanderte, mit dem schweren Instrument unter dem Arme etc. Trotz allem Feuereifer blieb für den Musikdirector noch eine Riesenarbeit. Für gar manches Instrument fand sich kein Vertreter; da mußte durch andere Mittel der vom Componisten geforderte Effect erreicht werden.

Die Zusammensetzung eines gemischten Chors, aus theilweise ganz unmusikalischen Elementen, war unendlich schwierig. Selbst einzelne von den Solopartieen mußte Balatka aus seiner Schülerzahl heranbilden. Doch alle Hindernisse wurden überwunden; Liebe zur Sache, Thatkraft und Ausdauer trugen den Sieg davon. Chor und Orchester war zuverlässig eingeübt, die Solisten zeigten sich ihrer Aufgabe gewachsen, sie hatten meist treffliche Vorbilder aus Deutschland im Gedächtnis und besaßen selbst zum Theil ungewöhnliche musikalische Bildung und Begabung. Der Tag der Aufführung wurde festgesetzt im December 1854. – Den Landbewohnern war lange schon durch die Tagesblätter der bevorstehende Genuß verkündigt worden; ungeduldig harrten sie auf das große Ereigniß. Es war deshalb für sie kein Hinderniß, daß fußtiefer Schnee lag, sie strömten zu Hunderten auf schellenklingenden Schlitten mit Weib und Kind nach der Stadt. Von achtzig englischen Meilen Entfernung kamen sie her, um den Melodieen zu lauschen, die ihre Kindheit verschönt hatten. In früher Stunde schon füllte sich der Saal, in welchem die Bühne errichtet war. (Ein Theater besaß damals Milwaukie noch nicht.) Lange vor Beginn der Darstellung war kein Stehplatz mehr frei. Viele, die mit Opfern sich den Genuß hatten erkaufen müssen, fanden keinen Zutritt mehr und hielten Corridor und Treppe besetzt, um wenigstens einige Töne zu erhaschen.

Endloser Jubel begrüßte die Ouvertüre, obgleich bei den ersten Accorden in Andante dem unglücklichen Hornbläser, aus Angst und Aufregung, die hohen Töne überschlugen. Die Vorstellung nahm ihren geregelten Fortgang, und jede Nummer steigerte den Enthusiasmus. Mit rührender Theilnahme sah der Zuhörer am papiernen Fenster Agathe den reinen Glanz der goldnen Sterne preisen. kein Lächeln zeigte sich, als aus den Schuß mit der Freikugel statt des versprochenen Adlers ein unschuldig gemordeter Haushahn herabfiel. Mit andächtigem Grausen erblickte man die pappdeckelnen Schrecken der Wolfsschlucht. Und als, im letzten Act, Max das Feuerrohr versagte, der Schuß nicht fiel und Agathe dennoch in Ohnmacht, Caspar aber tödtlich getrofffen zu Boden stürzte, da hielt noch immer die Rührung alle Sinne des Hörers gefangen. Alles Aeußerliche verschwand vor dem Stück Vaterland, das hier in weiter Ferne dem deutschen Herzen vorgezaubert ward.

Der Freischütz erlebte noch viele Aufführungen, so lange das dramatische Corps zusammen blieb. Die Deutschen begrüßten ihn stets mit gleichem Jubel. Die Amerikaner jedoch, denen durch den Musikverein das Verständniß für classische Musik erst erschlossen worden war, konnten sich nicht hineinfinden in das Märchen vom wilden Jäger im deutschen Eichenwald. Opern, wie „Czaar und Zimmermanns“, „Stradella“ und andere fanden großen Beifall im amerikanischen Publicum; jedoch des deutschen Meisters deutsches Werk bleibt einzig Eigenthum des deutschen Herzens.

M.