Pariser Bilder und Geschichten/Der Mann mit dem seidenen Mäntelchen

Textdaten
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Autor: Moritz Hartmann
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Titel: Pariser Bilder und Geschichten/Der Mann mit dem seidenen Mäntelchen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 764–767
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Pariser Bilder und Geschichten.

Von Moritz Hartmann.
Nr. 5. Der Mann mit dem seidenen Mäntelchen.

Unfern der Madeleine zu Paris, in einer der neueren Straßen, hinter einer hohen Hofmauer versteckt, steht ein kleines Haus mit Säulen und Arabesken, ganz im Rococostyl, wie es sich hohe Herrschaften unter Ludwig XVI. zu bauen pflegten. Jede kleinste Verzierung an diesem „Hotel“ verräth den Reichthum des Erbauers; schwarzer, weißer und rother Marmor war verschwenderisch und bunt, ganz im Geschmacke jener Zeit verwendet; die gewundenen Halbgitter, die balkonartig die untere Hälfte der Fenster abschlossen, waren voll phantastischer Figuren und Blumenwindungen, die hier und da in reicher Vergoldung glänzten. Anstatt der Laternen hingen von den Säulen des Peristyls an lang hervorgestreckten bronzenen Armen eiserne Körbe, in denen des Abends Pech und Kienholz brannten. Alles das, und was überhaupt zur Einrichtung und zum Luxus eines Herrenhauses früherer Jahrhunderte gehörte, sah man [765] noch vor wenigen Jahren und sah man eigentlich nur durch einige Jahre; denn dieses Haus alten Styles und alter Einrichtung war noch ganz neu und eine Schöpfung der modernen Zeit unter Louis Philipp. Es war wie ein Traum, wenn man zufällig vor der Hofmauer stand und das Thor sich öffnete und eine große Karosse, wie man sie nur noch bei Krönungen sieht, herausfuhr mit einem gepuderten Kutscher vorn, mit einem oder zwei gepuderten Bedienten hinten, und wenn in der dunklen Tiefe der Karosse ein altes, kleines Herrchen saß, ebenfalls gepudert, mit einem seidenen Mäntelchen auf den Schultern, an welchem Atlasschleifen glänzten, während er in der einen Hand einen kleinen Dreimaster, in der andern ein hohes, spanisches Rohr mit goldenem Knopf hielt. Mitten unter all dem modernen Volk in Frack und Cylinderhut war das Alles wie eine Erscheinung aus längst vergangener Zeit. War das alte Herrchen im Costüm Louis XVI. der Sohn einer alten legitimistischen Familie, der sich Illusion machen, der von den Zeiten, da seine Vorfahren und nicht die gemeine bürgerliche Canaille herrschte, nicht lassen, der im Angesicht des Bürgerkönigs und der bürgerlichen Minister eine Demonstration zu Gunsten der guten alten, adeligen Zeiten machen wollte? Nein, das gepuderte alte, immer lächelnde Herrchen, von dessen unerschöpflichen Millionen man nicht genug erzählen konnte, war nichts mehr und nichts minder als ein Proletariersohn; nicht viel mehr als halb und halb ein Bettelkind aus Marseille.

Die gute Stadt Marseille am mittelländischen Meere hatte im vorigen Jahrhundert noch sehr viel Aehnlichkeit mit den alten Seerepubliken Italiens. Durch viele Jahrhunderte erfreute sie sich einer Art republikanischer Freiheit und eines einträglichen Seehandels, den die Concurrenz der itälienischen Seestädte, selbst Genua’s, und die Raubzüge der Barbaresken nicht zu unterdrücken im Stande waren. Unter den reichen Familien, an die sich manche vom alten provençalischen Adel anschlossen, die gerne ihre langweiligen Paläste in Aix und das Parlament verließen, um in der Phokäerstadt ein Freudenleben zu führen, hatte sich nach und nach ein Patriziat gebildet, welches nun Marseille auf oligarchische Weise beherrschte. Der Aufwand, den man machte, war ungeheuer und beschämte in mehr als einer Beziehung den Versailler Luxus. Die Herren in Versailles lebten vom Abfall des Hofes oder von ihren Zehnten, die bei dem furchtbaren Elend des Volkes, bei der schrecklichen Verarmung der Bauern unter Ludwig XV. und XVI. immer spärlicher einliefen, während das Meer mit seinen Reichthümern unerschöpflich war und den Marseiller Patriziern die Ernten und den Tribut aller Zonen in’s Haus brachte. So ein schwankes, kleines Schiff war damals mehr Werth, als ein Landbesitz der Rohans oder Montmorencys.

Am Hafen, dort ungefähr, wo heute die prächtige Straße der Canebière ausmündet, wo die Börse und das Theater stehn, breitete sich noch im vorigen Jahrhundert ein großer Platz aus, der ringsumher von hohen Linden und Akazien, wohl auch von Rosenlorbeerbüschen umgeben war. Zwischen den Bäumen standen die Hütten der Limonadièren und der Eisverkäuferinnen. Wenn die Sonne hinter den kahlen Bergen des étang de Berre zur Ruhe ging und die provençalische Glühhitze vom Hauche des Meeres gekühlt wurde, traten die Herren und Frauen, die Söhne und Töchter der alten Patrizierfamilien aus ihren Häusern auf diesen schönen Platz. Kleine Betteljungen beeilten sich, kleine Tische und Stühle herbeizuschaffen, und dafür bekamen sie einen oder zwei Sous. An den Tischchen saßen die Damen und tranken Limonade oder schlürften Sorbet, und die Herren gingen zwischen den Tischchen umher und machten den Hof. Da ward viel geliebt und viel gelacht, und man kümmerte sich wenig darum, daß hundert Schritte von hier die Galeerensclaven, zu Zwei und Zwei an einander gefesselt, seufzten und ächzten, und daß unter diesen mancher edle Märtyrer war, der seinen protestantischen Glauben nicht abschwören wollte. Wenige von den Herren verirrten sich bis zu diesen Unglücklichen, wie es der Präsident des Burgunder Parlaments einmal gethan, der dort einen Galeerensclaven fand, der eben Cartesius studirte. Die Herren, die den Hof machten und so glücklich waren, trugen seidene Mäntelchen mit atlasnen oder sammtnen Schleifen auf den Schultern. Sonderbar, welche kleinen Dinge oft das Leben und das Schicksal eines Menschen bestimmen!

Die seidenen Mäntelchen mit den Atlas- oder Sammetschleifen stachen einem der Betteljungen, die den Damen Tischchen und Stühle brachten, besonders in die Augen. Ein solches seidenes Mäntelchen mit Sammet- oder Atlasschleifen zu tragen, schien Jacques Atron, dem kleinen, schwächlichen, schmächtigen Buben, das höchste Glück; nicht eigentlich das Tragen eines solchen Mäntelchens allein, sondern noch dazu das Hofmachen, das Hin- und Hergehen von einem Tischchen zum andern und das Alles auf diesem selben Platze am Hafen von Marseille. Ein höheres Glück konnte er sich nicht vorstellen, es schien ihm eine Unmöglichkeit.

Woher kam diesen Herren dieses Glück? Vom Meere, aus wilden Ländern, von fernen Inseln, aus allen möglichen Indien. Jacques Atron, um ebenfalls eines solchen Glückes theilhaftig zu werden, wollte auf’s Meer und Seemann werden, tausend Abenteuer bestehen, indische Prinzen entthronen, schwarzen Königen ihre Diamanten aus Ohr und Nase reißen und als ungeheuer reicher Mann nach Marseille zurückkehren und sich ein seidenes Mäntelchen kaufen, mit atlasnen und sammetnen Schleifen und dann des Abends auf den Platz kommen und von Tisch zu Tische gehen und den Hof machen. Aber er mußte als Schiffsjunge anfangen – und siehe da, trotz Bitten und Flehen und Weinen, kein Capitain wollte ihn mitnehmen, denn er war gar zu zart und zu schwächlich.

Da half er eines Tages einer Gemüseverkäuferin, die ihre Waare auf ein Schiff brachte, das nach fernen Ländern absegeln sollte. Diese Gelegenheit benutzte Jacques Atron, um sich im untersten Raume zu verstecken. „Wenn sie mich auf offener See entdecken,“ sagte er zu sich, „so werden sie mich doch nicht in’s Meer werfen, sondern werden mich mitnehmen in die fernen Länder.“ Er wußte nicht wohin? aber das war ihm gleichgültig. Zwei volle Tage lag er da unten, und die Anker wurden nicht gelichtet. Er hungerte, er verging vor Durst, aber er hielt sich ruhig. Endlich stach das Schiff in See; er vergaß Hunger und Durst und ließ es ruhig segeln. Als es nach seiner Berechnung schon viele hundert Knoten weit gesegelt sein mußte, kroch er aus seinem Verstecke hervor und sah aus wie ein Geist. Man warf ihn nicht in’s Meer; man nahm ihn mit in die fernen Länder.

So begann die lange Odyssee Jacques Atrons, die nur unternommen war, um dermaleinst ein seidenes Mäntelchen mit Sammet- oder Atlasschleifen tragen, um auf dem schönen Platze von Marseille den Damen den Hof machen zu können. Unglückseliger Jacques Atron! Hättest du nur noch ein Jahr lang gewartet! Das Jahr deiner Ausfahrt war das Jahr des Heiles und des Revolutionsanfangs 1789 – ein Jahr darauf waren die seidenen Mäntelchen und die Patrizier und die schönen Damen vom schattigen Platze von Marseille verschwunden.

Aber Jacques Atron erfuhr wenig von den Vorgängen in der Heimath. Er hörte wohl, daß der Bürger gleiche Rechte habe mit dem Adeligen, daß es überhaupt Menschenrechte gebe, daß man sich von Zeit zu Zeit in Paris schlage, daß der König Ludwig XVI. enthauptet sei, daß sich Frankreich eine Republik nenne, daß es einen ersten Consul, dann daß es einen Kaiser habe, daß es Sieg auf Sieg erkämpfe in allen Weltgegenden, dann daß es geschlagen werde in allen Zonen – das Alles freute oder betrübte ihn, das Alles sagte ihm, daß sich in Frankreich wohl Manches, ja Vieles verändert haben müsse während seiner Abwesenheit. Daß aber das seidene Mäntelchen mit den atlasnen oder sammetnen Schleifen aus der Mode gekommen, das hatte er nirgends gelesen oder gehört, auch nicht, daß sich das Leben auf dem großen Platze von Marseille irgendwie geändert habe. Es fiel ihm auch nicht ein, daß in diesen Beziehungen irgend etwas anders werden könnte; in seiner Phantasie stand das Alles so fest wie ewig, und wo in der Welt immer er arbeitete, duldete, kämpfte, zusammenraffte, er that es für den großen Platz von Marseille.

Von diesen seinen Arbeiten und Leiden wissen wir noch weniger, als er von den Vorgängen in Frankreich wußte. Nur Einzelnes hat er in seinem spätern Alter, da er schon sehr schweigsam war, erzählt und haben wir von ihm oder seinen Neffen erfahren. Wie er z. B. in San Domingo mit Lebensgefahr einen alten Herrn vor der Wuth der aufständischen Negersclaven auf sein Schiff gerettet, nur weil dieser alte Herr ein seidenes Mäntelchen trug, wie die Marseiller Patrizier. Der alte Herr, dessen ganze Familie ermordet war, machte ihn, seinen Retter, zum Erben seines großen Vermögens. Das große Vermögen war ihm noch nicht genug. Er begann zwischen Amerika und Afrika einen großen, selbstständigen Handel, rüstete Kaperschiffe aus gegen die Engländer und wurde mehrere Male gefangen und mehrere Male arm und dann wieder reich.

[766] Er hatte endlich alle Küsten gesehen und besaß Güter an allen Küsten und nach dem Friedensschlusse von 1815 war er Unterthan Frankreichs, Englands, Hollands, Portugals, je nach den Küsten, auf denen seine Besitzungen lagen. Diese und die Geschäfte, welche die Regierungsveränderungen in den verschiedenen Colonien nothwendig machten, hielten ihn noch mehrere Jahre nach dem Friedensschlusse in der Fremde. Endlich bemannte er einen prächtigen Dreimaster, belud ihn mit den Kostbarkeiten der reichsten Länder des Erdballs und segelte froh, aber bald funfzig Jahre alt, nach Frankreich zurück, durch die Straße von Gibraltar, in den Golf von Lion, in den Hafen von Marseille.

Kein seidener Mantel kam ihm entgegen; die Besten und Reichsten trugen tuchene Röcke oder Fracks und einen schwarzen Cylinderhut auf dem Kopfe; der große, schöne Platz mit den Linden und Akazien war fast verschwunden; allerlei Gebäude erfüllten ihn; die Buden der Limonadièren und der Eisverkäuferinnen waren dahin. Herr Jacques Atron schloß die Augen und wollte nicht glauben, was er gesehen. Er ging in’s Gasthaus, ließ den Schneider kommen und bestellte ein seidenes Mäntelchen mit sammetnen Schleifen auf der Schulter und einen ganzen Anzug, wie man ihn vor vierzig Jahren getragen. Der Schneider glaubte, es handle sich um eine Maskerade, und da der fremde Herr gut zu zahlen versprach, beeilte er sich und machte die Sache vortrefflich. Bis der Anzug ankam, blieb Herr Jacques Atron auf seiner Stube. Dann ließ er sich pudern, kleidete sich an und als es Abend wurde, ging er auf den Platz am Hafen, um sich unter die Herren zu mischen und den Damen den Hof zu machen, wie er es sich durch ungefähr vierzig Jahre versprochen hatte.

Auf der Straße liefen ihm die Gassenbuben nach und verhöhnten ihn; die Marseilleser sind sehr witzige Leute und machten viele Witze auf seine Kosten, und da die Marseilleser nicht leise sprechen können und selbst ihre Geheimnisse laut ausschreien, hörte er Alles. Das störte Herrn Jacques Atron nicht im Mindesten. Sein Traum, sein Lebenszweck, sein Ideal, das mehr als vierzig Jahre lang in ihm gewachsen und erstarkt war, war mächtiger als die Wirklichkeit, die ihn spottend umgab. Weiß der Himmel, was in ihm vorging! Er spazierte von einer Stelle zur andern, verneigte sich da, verneigte sich dort; lächelte, lispelte Worte der Liebe, der Galanterie, der Verführung, wie sie im gepuderten Jahrhunderte Mode gewesen und wie sie zum Puder in seinem Haar und zu seinem Mäntelchen paßten. So trieb er es durch mehrere Tage. Man fing an, ihn als einen Narren zu betrachten; man erkundigte sich nach ihm und erfuhr endlich seinen Namen, seine Abstammung, seine Schicksale. Da war Herr Jacques Atron mit einem Male von einer Schaar von Verwandten umgeben und unter diesen fanden sich mehrere sehr positive Neffen, Commis in Bank- und Handelshäusern. Diesen gelang es, ihn aus seinem Traume zu reißen, und dies um so leichter, als er, der alte Kaufmann, im Grunde selbst ein höchst positiver Geist und Charakter geworden, den eine phantastische Idee wohl eine Zeit lang besitzen, aber nicht verrückt machen konnte. Er gab am Ende seine Promenaden auf und öffnete die Augen für die Veränderungen, die unter der Zeit in Sitten, Trachten und Baulichkeiten von Marseille vorgekommen. Nur von seiner lieben Rococotracht, die er mit so vielen Kämpfen erobert, konnte er sich nicht trennen; er war ja unabhängig und reich, was kümmerte es ihn, daß man ihn seines seidenen Mäntelchens wegen verhöhnte! In seiner Tracht ging er selbst auf die Börse und suchte aus alter Gewohnheit Geschäfte zu machen. Das gefiel dem Handelsstande, da Herr Jacques Atron in Allem sehr billig und leicht zu behandeln war, und gefiel auch den Neffen, die mit Vergnügen sahen, wie der in einem Punkte verrückte Onkel in allen andern Punkten so gescheidt, durchtrieben und praktisch war, und wie er sein ohnehin schon ungeheueres Vermögen von Tag zu Tag vergrößerte. Er hatte ja keine Kinder; die Neffen waren seine natürlichen Erben. Am Ende fanden sie, daß ihm das Mäntelchen gut stehe, und schmeichelten seiner verrückten Idee.

Aber das übrige Marseille hatte nicht dasselbe Interesse, dem alten Jacques Atron zu schmeicheln; im Gegentheil war es froh, an einer Person seinen Witz auslassen zu können, und es ging durch mehrere Jahre, wie es am ersten Tage gegangen war. Dieser Umstand und der andere, daß er sich in dem modernen Marseille doch niemals heimisch fühlte, daß er dadurch nur an den verfehlten Lebenszweck erinnert wurde, bewog ihn endlich, seine Vaterstadt wieder zu verlassen, aber diesmal nicht, um wieder auf die hohe See zu gehen. Er siedelte nach Paris über, nach jener einzigen unter den Städten des Erdballs, wo man Jeden machen, leben und treiben läßt, was und wie es ihm gefällt. Er baute sich hinter der Madeleine jenes reiche, wenn auch kleine Rococohotel und richtete dasselbe und sich selbst so ein, wie er es vor 1789 in Marseille gethan haben würde. Dieser Uebersiedelung nach Paris danken wir es, daß wir ihn zu sehen bekommen und daß wir das Schicksal des alten Sonderlings kennen gelernt.

Heute ist Herr Jacques Atron todt; aber an seinen Tod knüpft sich noch eine psychologisch merkwürdige Geschichte, die wir gleich hier erzählen wollen.

Während seines Aufenthaltes in Marseille drängten sich, wie erwähnt; die erblustigen und praktischen Neffen, sämmtlich Namens Atron, um ihn und machten ihm so angelegentlich den Hof, als er dermaleinst den Damen auf dem großen Platze den Hof zu machen gewünscht hatte. Nur ein Neffe fehlte unter diesen Hofmachern. Dieser, Namens Gustav Atron, war der unpraktischste Mensch der Familie. Obwohl ein Marseiller, verschmähte er den Handel und den Geldgewinn und widmete sich den schönen Wissenschaften. Zur Zeit des Marseiller Aufenthaltes seines Onkels hatte er ein kleines Amt an der Stadtbibliothek, das ihm jährlich zwölfhundert Franken einbrachte. Mit dieser kleinen Summe lebte er sehr glücklich in einer Dachstube, und in der Dachstube wie auf der Stadtbibliothek machte er Verse. Er wurde in der Familie als ein Träumer geliebt und verachtet. Der Onkel bekam ihn zu selten zu Gesicht, als daß er ihn hätte lieben können, hörte aber genug von seinem unpraktischen Wesen, um ihn verachten zu können. „Verachten“ ist vielleicht ein zu starker Ausdruck; so viel ist gewiß, daß er ihn gering achtete und daß er auf die ganze literarische Laufbahn, die Gustav erwählt, auf sein Versemachen, auf seine Bibliothek und auf Alles, was er trieb, als auf etwas höchst Unzweckmäßiges herabsah. Obwohl selber in Beziehung auf sein seidenes Mäntelchen und die guten alten Zeiten ein Phantast, haßte er doch Alles, was er und was die Leute sonst Phantasterei nennen. Gustav ließ sich aber noch mancherlei Phantastereien zu Schulden kommen. Zu diesen gehörte seine Liebe zu der reizendsten und reichsten Frau Marseilles, einer in dieser Stadt geborenen Engländerin, die nun an den englischen Consul Mstr. Morston, einen gewiegten Pfundmillionär, verheirathet war. Mstrs. Morston, die eben so gebildet und geistvoll als schön und anmuthig war, fühlte in der ausschließlichen Handelsstadt das Bedürfniß, sich mit einem Kreise zu umgeben, der von etwas Anderem als von Zucker- und Kaffeepreisen zu sprechen wüßte, und Gustav Atron, der kleine Beamte mit zwölfhundert Francs Gehalt, gehörte zu den intimsten Hausfreunden des siebenfachen Millionärs Morston. Da beging er die Phantasterei, sich in diese liebreizende Frau, die, trotzdem sie Bücher las und mit den bedeutendsten Geistern Frankreichs und Englands in Verbindung stand, nichts vom Blaustrumpf hatte, auf das Innigste zu verlieben. Mstrs. Morston war edel und tugendhaft, und man vergab ihm deshalb diese Phantasterei um so weniger. Er aber war in dieser Liebe, in seinen Versen, in seiner Dachstube und in seinen zwölfhundert Franken so glücklich, daß er sich um alle Verspottung beinahe eben so wenig kümmerte, als um seinen reichen Onkel.

Da hatte Gustav Atron eines Tages ein Trauerspiel in Versen „die Tochter des Aristides“ vollendet. Es gefiel der geliebten Frau; er hatte das Bedürfniß, als ein berühmter Mann vor ihr zu stehen. Aber in Frankreich kann man nur mit Hülfe von Paris zu Ruhm gelangen. Das Trauerspiel mußte, wenn es ihm einigen Namen machen sollte, nothwendigerweise in Paris aufgeführt und gelobt werden. Aber wie nach Paris kommen? wie in dieser Stadt so lange leben, bis die Aufführung durchgesetzt ist? Hélas! von seinen zwölfhundert Franken konnte er nicht so viel ersparen, um diese Kosten bestreiten zu können.

Da mußte denn doch der Onkel dran. Der Onkel sollte ihm die Summe leihen. Der Schritt kostete ihn zwar einige Ueberwindung, aber er war seines Erfolges in Paris so gewiß, daß er eine Verkennung von einigen Monaten auf sich nahm. Er wußte, er werde das Anlehen zurückerstatten.

So trat er denn vor den alten Herrn Jacques Atron. „Onkel, seien Sie so gütig und leihen Sie mir fünfzehnhundert Franken. Ich muß nothwendigerweise nach Paris, um mein Trauerspiel aufführen zu lassen. Es wird mir mehrere tausend Franken einbringen, und ich werde Ihnen das Geld mit herzlichem Danke wiedererstatten.“

[767] Der Onkel lächelte etwas spöttisch. „Geld mit einem Trauerspiele machen!“ murmelte er, ging aber doch an die Casse und sagte: „Mein Junge, Du hast noch nichts von mir verlangt – da hast Du das Doppelte, obwohl ich das Geld als verloren betrachte.“

„Danke, Onkel, ich brauche nicht mehr als fünfzehnhundert Franken.“

So viel nahm er auch nur, zur Verwunderung des Alten, der von seinen Neffen an ein Verschmähen seines Geldes nicht gewöhnt war – steckte die neuen Louisd’ors ein und reiste mit diesen, mit seinem Trauerspiele und mit einem von Mstrs. Morston an Lamartine gerichteten, sehr herzlichen Empfehlungsschreiben nach Paris ab.

Der Brief der liebenswürdigen Frau an ihren Freund, den berühmten Dichter, der damals noch berühmter und geachteter war als heute und in der Literatur wie in der Politik großen Einfluß hatte, that Wunder; es ging Alles über alle Erwartung gut. Das Trauerspiel „die Tochter des Aristides“ wurde von der Direction des Odeontheaters angenommen, sofort einstudirt, aufgeführt, sehr gelobt, gedruckt und in Tausenden von Exemplaren verkauft.

An dieser Stelle ist der Zeichner dieser wahrhaftigen Skizzen dem Leser eine Erklärung schuldig. Der Leser wird sagen: Von einem Trauerspiel, das in Paris einen so großen Erfolg gehabt, und von dessen Dichter müßte man doch etwas gehört haben! Darauf antworte ich ganz einfach: der Leser kennt gewiß auch beides, Dichter und Trauerspiel, die ich meine, wenigstens dem Namen nach – ich aber habe aus Rücksicht für noch lebende Personen Titel des Trauerspiels und Familiennamen des Dichters ändern müssen. Das ist Alles.

Nach einigen Monaten kehrte Gustav Atron mit mehreren Lorbeerblättern im Haare nach Marseille zurück, wo er mit Jubel von der geliebten Frau, mit Lächeln von seiner Familie empfangen wurde. Sein erster Weg war zu der schönen Frau, sein zweiter zum reichen Onkel.

„Danke, cher oncle, hier sind Ihre fünfzehnhundert Franken; ich habe sie zwar nicht gebraucht, bin aber darum nicht minder dankbar für Ihre Güte.“ So sprechend legte er die Rollen hin; es sind dieselben Rollen, dasselbe Papier, dieselben Louis, die ihm der Onkel gegeben und zwar, wie der Onkel meinte, auf Nimmerwiedergeben, wie Onkels ihren Neffen zu leihen pflegen. Der alte Kaufmann erkennt die Identität der Rollen und ist doppelt erstaunt, einmal über dieses Wiedersehen, dann darüber, daß man mit Versen überhaupt Geld machen könne. In seinen Gedanken aber sagt er sich: „Tiens, tiens! der Poet versteht es also mit Geld umzugehen und zu sparen, während meine anderen Herren Neffen nicht genug aus mir herauspumpen können und doch immer noch Schulden haben. Ich will mir es merken.“

Der ruhmgekrönte Poet bezog wieder seine kleine Stube; der Onkel zog, wie wir schon gesagt, nach Paris – und es vergingen wieder einige Jahre.

Da kamen zwei Todesfälle vor, die beide auf das Leben unseres Poeten einen großen Einfluß haben sollten; der eine Todesfall in Marseille, der andere in Paris. – In Marseille starb der englische Consul, Mstr. Morston, und da er kinderlos war, vermachte er sein ganzes Vermögen, volle sieben Millionen, seiner schönen und treuen Frau, nachdem er ihr gerathen, den guten Gustav Atron, der sie so treu und ehrenwerth liebe, sobald als schicklich zu heirathen. In Paris starb der alte Herr Jacques Atron und vermachte unter der Bedingung, daß er ihn im Costüme Louis XVI. begraben lasse, sein ganzes Vermögen von acht Millionen seinem Neffen, dem Poeten Gustav Atron, als einem Mann, der es verstehe mit Geld umzugehen. Ein Jahr nach diesen beiden Todesfällen sah sich also der Poet, wie man in Frankreich sagt, à la tête, an der Spitze von fünfzehn Millionen Franken. Der Leser glaube nicht, daß ich ihm hier fabelhafte runde Summen nenne und daß ich mit den Millionen wie ein Romanschreiber umgehe. Ich erzähle hier Thatsachen, und die Summen sind eben so authentisch als die Thatsachen.

Der Verfasser der „Tochter des Aristides“ hatte nun Ruhm, die geliebteste und ausgezeichnetste Frau und ein ungeheueres Vermögen.

Wer war glücklich? – Der Poet war es nicht!

Ich will ja nicht psychologische Abhandlungen schreiben, auch die hier behandelten Stoffe nicht künstlerisch abrunden, sondern einfach berichten. So füge ich nur in wenigen Worten das Ende bei. Der Poet, der auf seiner Dachstube, mit seinem kleinen Gehalte, in seiner Sehnsucht nach der Geliebten so glücklich gewesen, wurde, da Alles, was er ersehnte, wie ein Regen plötzlich auf sein Haupt fiel, der unglückseligste Mensch: er wurde ein Geizhals, so ein rechter Geizhals, wie er geschrieben steht, wie ihn Molière und Balzac geschildert haben. Um seine Ausgaben so viel als möglich zu beschränken, hat er sich mit einer Haushälterin in ein kleines Haus in der Nähe von Marseille, in eine sogenannte Bastide zurückgezogen und verbringt daselbst Tage und Nächte in beständiger Angst, daß die Bankhäuser, die sein Geld verwerthen, zu Grunde gehen und daß ihm Diebe das wenige Geld, das er bei sich hat, entwenden. Die Gabe der Dichtung ist von ihm gewichen und – was schlimmer ist – seine holde Frau, müde des häßlichen Schauspiels, wie eine Menschenseele verwittert, hat ihn verlassen. Sie lebt in Paris und sucht im Umgange der Besten ihr Unglück zu vergessen. Sie ist immer liebenswürdig und anmuthig, aber die Erkenntniß von der Nichtigkeit menschlichen Glückes hat einen Schleier von Melancholie über ihr ganzes holdes Wesen gebreitet.