Textdaten
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Autor: Paul Bekker
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Titel: Operetten-Zauber
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 90 (12.03.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Quelle: Commons
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„Operetten-Zauber“


Im Pariser Theater führt gegenwärtig die Operette. Flüchtige Uebersicht nur der wichtigsten: „Weisses Rössl“ im Mogador, „Land des Lächelns“ in der Gaité, „Rose de France“ im Châtelet, „Paganini“ in Gobelins, „Fledermaus“ in Pigalle, „Wiener Walzer“ in Porte St. Martin. Alles und noch mehr an einem Abend. „Das sind nur die Namen, nun lernt sie erst singen“, sagt David in den „Meistersingern“. Zwar auch dafür fehlt es nicht an Gelegenheit. Wenn wir schon die Aufführungen nicht sehen, so tönt es uns doch bei jedem Schritt über die Strasse schmelzend entgegen: „Je t’ai donné mon coeur“.

Dass die Weltstadt einen so starken Verbrauch auf diesem Gebiet hat, ist nicht erstaunlich und eigentlich immer so gewesen. Weniger erfreulich ist, dass sie die Deckung nicht wie vordem selbst herstellen kann, sondern zum grössten Teile aus dem Auslande beziehen muss. Am wenigsten erfreulich ist das Niveau dieses Importes. Das gilt nicht allein im Hinblick auf Fragen des künstlerischen Geschmackes. Es gilt für Dinge von viel weiter reichender Tragweite. Wir haben in Deutschland ihre als harmlos getarnte Zweischneidigkeit erfahren, vielfach ohne uns bis heute über das Ueble dieser Kunstgattung klar zu werden.

Geschah es nicht regelmässig, dass beim Erscheinen des alten Franz Joseph am Schluss des zweiten „Rössl“-Aktes das gesamte Publikum in frenetischen Huldigungsjubel ausbrach? Ein Regie-Effekt? Wir haben darüber gelächelt, haben gesagt: spotten ihrer selbst und wissen nicht wie, wenn sie einer Revue-Majestät applaudieren. Wir unterschätzten dabei eine Tatsache: die Operette griff hier so tief hinüber in die Lebenswahrheit, dass selbst das Deklassierende des Milieus verwischt wurde. Mit diesem ‚Weisses Rössl’-Monarchen haben wir von der Bühne her ein paar Jahre hindurch Hugenbergsche Reaktion gemacht.

Man sage nicht, das sei ein Ausnahmefall, und wenn es sich wirklich so verhielte, so stelle die Operette nur zeitpsychologische Tatsachen fest. Gewiss ist die Operette stets das kulturhistorische Negativ ihrer Zeit. Aber es gibt auch Augenblicke, in denen sie die einzige Möglichkeit bietet, unter dem Anschein der Persiflage die Wahrheit zu zeigen.

Damit wäre freilich an dieser Wahrheit nichts zu ändern. Aber durfte und darf man sie trotzdem als unabänderlich hinnehmen, ohne grundsätzliche Stellungnahme? Schwer ist hier gesündigt worden. War es nicht eben die bürgerlich demokratische Presse, die dieses Genre mit liebevollster Nachsicht gehätschelt, es ihrem Publikum nahe gebracht, Erfolg über Erfolg gefeiert hat? Irgend ein armseliger Klavierstümper, in dessen Konzert ein Dutzend Zuhörer sassen, wurde mit eiserner Strenge begutachtet, der zensierende Fachmann konnte nicht fachmännisch genug sein. Wer aber war für die auf Hunderttausende wirkende Operette zuständig? Der Musiker galt – mit Recht – als zu einseitig, der Theaterkritiker ebenfalls, ausserdem waren bei etwa unfreundlicher Stellungnahme Repressalien zu befürchten. Einen Kulturkritiker gab es nicht. Also schrieb zumeist der Lokalreporter, und er war regelmässig berauscht von den Kostümen, den Girls, der Diva, und vom Begeisterungstaumel des Publikums. Man schlage die Berliner Kritiken über „Ball im Savoy“ nach. Totengräberarbeit ist da geleistet worden – nicht an dieser Uebelkeit, sondern an der deutschen Oeffentlichkeit.

Hätte es Zweck gehabt, gegen den Strom zu schwimmen?

Solange man sich nicht blindem Fatalismus ausliefern will, muss man sagen: zweifellos hätte es Zweck gehabt, zweifellos wäre es nötig gewesen, vor allem zweifellos ist es heut noch nötig. Liegt doch die Daseinsberechtigung des Kritikers darin, dass er Don Quichoterien betreibt.

Aber was ist der Operette eigentlich vorzuwerfen, abgesehen von jener episodisch monarchistischen „Rössl“-Apotheose? Sie erstrebt doch immer nur harmlose Unterhaltung, die man wirklich nicht vom Standpunkt irgend einer ernsthaften Kunstkritik aus werten darf.

Das eben ist das Niederträchtige daran.

Handelte es sich um Dinge, die einem Fachurteil unterstehen, so wären sie leicht erledigt. Der Substanzschwund etwa der wien-ungarischen Operette in Bezug auf gesangsmelodische und tänzerisch rhythmische Erfindung, ebenso in Bezug auf rein theatralische Schlagkraft ist so offenbar, dass nachträglich immer das vorangehende Werk fast sympathisch wirkt, – weil eben das jeweilig Letzte in jeder Beziehung noch um soviel schlechter ist, wie man es garnicht mehr für möglich geglaubt hätte.

Aber Einwendungen dieser Art treffen nicht, und Leute, die eine derartige Operettenkritik als unbillig ablehnen, haben im Prinzip recht. Sie haben indessen nicht recht, wenn sie daraus auf mildernde Umstände schliessen, da man das alles nicht so ernst nehmen dürfe. Die ernst zu nehmende Wirkung der Operette liegt auf einer anderen Ebene. Sie gehört zu den wichtigsten, die es heute gibt, weil sie, von Film und Radio abgesehen, den grössten Hörerkreis erfasst. Sie gehört um so mehr zu den äusserst gefährlichen, als sie den Hörern ihre Absichten in der harmlosesten Art beibringt. Es gibt nichts Perfideres, als die Heiterkeits-Demagogie der Operette, die nach jeder Richtung hin betont, dass es ihr mit nichts ernst sei, und die sich in ihrer heutigen Form doch überall als das Surrogat des Ernsthaften ausspielt.

Bei Offenbach und Strauss bleibt die Einheitlichkeit des buffonen Elementes gewahrt, später erfolgt die Mischung mit tragischer Sentimentalität. Von hier ab beginnt die Verfälschung und Unehrlichkeit der Gattung. Der Bruch setzt an bei Millöcker, er wird von da aus zum Prinzip. Die neuere Operette hat den augenscheinlich bewussten Ehrgeiz, sich an die Stelle der Oper zu setzen. Tatsächlich ist ihr das soweit gelungen, dass sie bis in die Spielpläne der führenden Opernhäuser eingedrungen ist und sich dort sogar noch als rettender Engel etabliert hat. Sie hat die Menschen mit falscher Vergangenheits-Idyllik erfüllt, sie hat sie geistig eingeschläfert, sie hat sie an die Verlogenheit der Charaktere und Handlungen, an die Fälschung der Gefühle gewohnt. Sie hat den Typus des „neu erwachenden“ Abenteuer-Menschen geprägt, des Pseudo-Heroischen, des Pseudo-Sentimentalen: des hysterischen Operettenmenschen.

Man pflegt zu sagen, alle Genres seien erlaubt in der Kunst, mit Ausnahme des langweiligen. Man vergisst, dass Kunst als solche ein Genre von vornherein ausschliesst: das in sich Unwahrhaftige. Dieses in sich Unwahrhaftige ist das schöpferische Prinzip der Operette. Man sehe die Spielpläne an, nicht nur in Paris, in der ganzen Welt. Sie zeigen das Wünschen und Denken einer Zeit, die ihre geistige Hilflosigkeit vom Leben zur Bühne und zurück von der Bühne zum Leben überträgt. So spielt sie mit sich selbst Operette, und so wird ihr diese Operette Spiegel und Masstab der Wirklichkeit.